Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorläufiger Rechtsschutz bei behaupteter Grundrechtsverletzung
Leitsatz (NV)
Wer sich zur Begründung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden allein auf die Verfassungswidrigkeit der zu Grunde liegenden abgabenrechtlichen Vorschriften beruft, kann Aussetzung der Vollziehung nur erreichen, wenn insoweit ein berechtigtes Interesse besteht.
Normenkette
AO 1977 § 361; FGO § 69
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Einspruchsverfahren darum, ob der Einkommensteuerbescheid für 1987 wegen Verfassungswidrigkeit verschiedener Vorschriften des Einkommensteuergesetzes (EStG) rechtswidrig ist.
Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer), die als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, haben vier Kinder (geboren 1977, 1979, 1982 und 1985); in ihrer Einkommensteuererklärung für 1987 machten sie u. a. Versicherungsbeiträge in Höhe von 27 145 DM und außergewöhnliche Belastungen (Krankenversicherung, Selbstbeteiligung) im Betrag von 900 DM zum Abzug geltend.
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte bei der Veranlagung der Beschwerdeführer die Vorsorgeaufwendungen im Rahmen des gesetzlichen Höchstbetrages, d. h. mit 13 020 DM, und vier Kinderfreibeträge in Höhe von insgesamt 9936 DM. Die geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen wirkten sich nicht aus, weil sie die Grenze der zumutbaren Eigenbelastung nicht überschritten. Auf diese Weise ermittelte das FA im Bescheid vom 29. Mai 1990 ein zu versteuerndes Einkommen von 99 138 DM, setzte die Einkommensteuerschuld der Beschwerdeführer für 1987 auf 28 618 DM fest und errechnete unter Berücksichtigung der geleisteten Vorauszahlungen eine Nachforderung von 10 718 DM.
Außerdem setzte das FA mit Bescheid vom 29. Mai 1990 die vierteljährlichen Einkommensteuervorauszahlungen der Beschwerdeführer für 1990 auf 3817 DM und für 1991 auf 5270 DM fest.
Gegen den Einkommensteuerbescheid und den Vorauszahlungsbescheid legten die Beschwerdeführer fristgerecht Einspruch ein - u. a. mit der Begründung, die Bemessung der Kinderfreibeträge, die unvollständige Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen und die Nichtberücksichtigung der außergewöhnlichen Belastung seien verfassungswidrig.
Der zugleich beim FA gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung blieb im wesentlichen (bis auf einen hier nicht mehr streitigen Sachverhaltskomplex) erfolglos.
Daraufhin begehrten die Beschwerdeführer hinsichtlich eines Teilbetrages der Steuernachforderung in Höhe von 10 372 DM Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht (FG), indem sie geltend machten, für das Streitjahr seien sowohl der Grundfreibetrag als auch die Kinderfreibeträge in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen, desgleichen verstoße die Kürzung der Versicherungsbeiträge und die Nichtberücksichtigung der außergewöhnlichen Belastung gegen das Grundgesetz (GG).
Das FG hat den Antrag der Beschwerdeführer im wesentlichen mit folgender Begründung abgelehnt: Selbst wenn hinsichtlich des Grundfreibetrags und der Kinderfreibeträge Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Gesetzesbestimmungen bestünden, könne Aussetzung der Vollziehung nicht gewährt werden, weil das hierfür in solchen Fällen erforderliche besondere Interesse nicht ersichtlich sei. Im übrigen aber, hinsichtlich der Behandlung der Versicherungsbeiträge unter dem Gesichtspunkt des Sonderausgabenabzugs und der außergewöhnlichen Belastung verneinte das FG eine Grundrechtsverletzung.
Mit der Beschwerde begehren die Beschwerdeführer weiterhin Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides und außerdem des Vorauszahlungsbescheides. Zur Begründung stützen sie sich nach wie vor ausschließlich auf die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerdeführer können mit ihrem Begehren keinen Erfolg haben.
1. Soweit die Beschwerde auch die Vorauszahlungen zum Gegenstand hat, scheitert jegliche Sachprüfung von vornherein daran, daß die Aussetzung der Vollziehung dieser Beträge nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war.
2. Im übrigen, hinsichtlich der Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides, ist das in Fällen der streitigen Art erforderliche besondere Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht erkennbar.
Gemäß § 361 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) ist die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1987 vom 29. Mai 1990 durch die Einlegung des Einspruchs nicht gehemmt worden. - Nach § 361 Abs. 2 AO 1977 kann die Erlaßbehörde und nach § 69 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf entsprechenden Antrag hin das Gericht der Hauptsache auch schon vor Klageerhebung (unter den zusätzlichen, hier erfüllten Voraussetzungen des Art. 3 § 7 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. März 1978, BGBl I 1978, 446, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 17. Dezember 1990, BGBl I 1990, 2809) die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Eine solche Maßnahme soll erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Zur letztgenannten Variante des gesetzlichen Tatbestandes ist nichts vorgetragen. Zur erstgenannten hat der Bundesfinanzhof (BFH) in ständiger Rechtsprechung aus dem Umstand, daß es sich um eine Sollvorschrift handelt, die Notwendigkeit einer Interessenabwägung in Ausnahmefällen gefordert und zu diesen Ausnahmefällen vor allem die behauptete Verfassungswidrigkeit der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsnormen gezählt (vgl. z. B. Beschlüsse vom 6. Februar 1967 VII B 46/66, BFHE 87, 414, BStBl III 1967, 123; vom 28. Juni 1967 VII B 12/66, BFHE 89, 82, BStBl III 1967, 513; vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454; vom 11. Juni 1986 II B 49/83, BFHE 146, 474, BStBl II 1986, 782; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, sowie vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFH/NV 1990, 774) mit der Folge, daß auf Verfassungsverletzung gestützte ernstliche Zweifel die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig nur rechtfertigen, wenn insoweit ein berechtigtes Interesse des Rechtsuchenden gegeben ist. Diese Gesetzesauslegung ist vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausdrücklich bestätigt worden (BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283, und vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, vgl. auch FG München, Beschluß vom 18. Oktober 1991 8 V 2000/91, Entscheidungen der Finanzgerichte 1992, 287 - jeweils m. w. N.).
Der erkennende Senat teilt dieses Gesetzesverständnis, vor allem im Hinblick auf den in den §§ 361 Abs. 1 AO 1977, 69 Abs. 1 FGO ausgedrückten Grundsatz der sofortigen Vollziehbarkeit von Steuerverwaltungsakten, den Umstand, daß es insoweit regelmäßig um die Bewältigung von Massenverfahren geht und den Gesichtspunkt der tatsächlichen Belastungsgleichheit im Steuerrecht besonderes Gewicht zukommt (BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654).
Für die gebotene summarische Prüfung in einem Fall wie dem hier streitigen, in dem die Verfassungswidrigkeit mehrerer, für eine Vielzahl von Veranlagungsfällen bedeutsamer Gesetzesbestimmungen geltend gemacht wird, bedeutet dies, daß im Rahmen der Interessenabwägung nicht etwa, wie die Beschwerdeführer meinen, nur eine konkrete Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung der begehrten Aussetzung der Vollziehung entgegensteht, sondern umgekehrt vorläufiger Rechtsschutz ein besonderes individuelles Interesse voraussetzt. Dafür aber haben die Beschwerdeführer nichts vorgetragen und ist aus den Akten nichts zu erkennen. Auf das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der einzelnen Vorschriften kommt es unter diesen Umständen nicht an.
Fundstellen
Haufe-Index 418507 |
BFH/NV 1992, 721 |