Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassungsfreie Revision
Leitsatz (NV)
- Mit dem Vortrag, der der Vollstreckung zugrunde liegende Steuerbescheid sei wegen groben Schätzungsfehlern oder wegen Willkür nichtig, wird ein selbständiges Verteidigungsmittel geltend gemacht, das unmittelbar das Bestehen des vollstreckbaren Anspruchs betrifft und auch nicht durch § 256 AO 1977 ausgeschlossen ist. Ein Übergehen dieses Vortrags im finanzgerichtlichen Urteil kann die zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F. begründen.
- Steht der Vortrag (1.) allerdings klar im Widerspruch zu den Urteilsausführungen des FG, fehlt es bereits an der Schlüssigkeit der Rüge. Ein augenscheinlich bewusst falscher Vortrag ist zur Zulassung der Revision nicht geeignet.
- Beim FG erfolglos abgelehnte Richter sind nicht von der Teilnahme am Urteil ausgeschlossen. Der Vortag, das FG habe ein Ablehnungsgesuch abgewimmelt, stellt daher keine schlüssige Rüge des § 116 Abs. 1 Nr. 2 FGO a.F. dar.
- Die Entscheidung des BFH über eine (nach bisherigem Recht zulässige) Beschwerde gegen die Ablehnung des Richterablehnungsgesuchs durch das FG ist nicht vorgreiflich für die Entscheidung des BFH über die in der Hauptsache eingelegte Revision.
Normenkette
AO 1977 §§ 125, 256; FGO § 116 Abs. 1 Nrn. 1-2, 5, § 119 Nrn. 1-2, 6, § 134; ZPO § 579 Abs. 1 Nr. 3
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) gegen die vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) ausgebrachten Forderungspfändungen vom 16. September 1996 wegen verschiedener Steuerrückstände nebst Säumniszuschlägen (mit Verfügung vom 5. März 1997 auf einen Betrag in Höhe von 27 443,75 DM eingeschränkt) als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen seien erfüllt; mit Einwendungen gegen die zugrunde liegenden Steuerforderungen könne der Kläger im Vollstreckungsverfahren nicht gehört werden (§ 256 der Abgabenordnung ―AO 1977―). Die Pfändungsverfügungen seien auch formell in Ordnung und Ermessensfehler des FA nicht ersichtlich. Das FG hat die mündliche Verhandlung am 18. Dezember 2000 trotz Abwesenheit des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten durchgeführt und das Urteil gesprochen. Hierzu führte das FG aus, dem vom Kläger am Terminstag gestellten Vertagungsantrag (§ 155 der Finanzgerichtsordnung ―FGO― i.V.m. § 227 der Zivilprozeßordnung ―ZPO―) habe mangels Glaubhaftmachung erheblicher Gründe nicht entsprochen werden können. Obwohl dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nach einer vorgängigen Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren mit Schreiben vom 1. Dezember 2000 mitgeteilt worden sei, dass einem erneuten Vertagungsantrag aus Krankheitsgründen nur bei Vorlage eines amtsärztlichen Attestes entsprochen werden könne, sei ein solches nicht vorgelegt worden, sondern erneut wiederum lediglich ein privatärztliches.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, mit er die absoluten Revisionsgründe des Fehlens von Entscheidungsgründen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F.) und die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO a.F.) geltend macht.
Das FA ist der Revision entgegengetreten. Es hält sie für unzulässig.
Entscheidungsgründe
Die Zulässigkeit der Revision gegen die vor dem 1. Januar 2001 verkündete Vorentscheidung richtet sich nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Bestimmungen (Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757). Danach ist die Revision unzulässig und somit durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1 Satz 2, § 126 Abs. 1 FGO).
1. Nach Art. 1 Nr. 5 des sonach noch anzuwendenden Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO a.F. die Revision nur statt, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof (BFH) sie zugelassen hat. Das FG hat die Revision nicht zugelassen. Die dagegen eingelegte Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision hat der BFH durch Beschluss vom heutigen Tage als unzulässig verworfen.
2. Ein Fall der zulassungsfreien Revision gemäß § 116 Abs. 1 FGO a.F. liegt nicht vor. Die Mängel, die Vorentscheidung sei nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F.) und das erkennende Gericht sei dabei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, sind nicht schlüssig gerügt worden. Verfahrensmängel i.S. des § 116 Abs. 1 FGO sind nur dann ordnungsgemäß gerügt, wenn die zur Begründung vorgetragenen Tatsachen, ihre Richtigkeit unterstellt, den betreffenden Mangel ergeben, d.h. wenn sie schlüssig vorgetragen sind (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 19. Januar 1993 VII R 121/92, BFH/NV 1994, 40; ständige Rechtspr. des BFH). Das ist vorliegend nicht der Fall.
a) Die Verfahrensrüge des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F., § 119 Nr. 6 FGO betrifft das Fehlen der rechtlichen Begründung des Urteils. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe (s. § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO) dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgebend waren. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen liegt deshalb nur vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung zu überprüfen. Das ist nur dann der Fall, wenn das FG seine Entscheidung überhaupt nicht begründet oder einen eigenständigen Klagegrund oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat, mithin das Urteil bezüglich eines wesentlichen Streitpunktes nicht mit Gründen versehen ist (BFH/NV 1994, 40, m.w.N.).
Der Kläger behauptet zwar, das FG sei auf seinen Vortrag, die den Pfändungen zugrunde liegenden Verwaltungsakte seien wegen groben Schätzungsfehlern oder wegen Willkür nichtig, in den Urteilsgründen nicht eingegangen. Damit wendet er ein, die zu vollstreckenden Verwaltungsakte seien unwirksam (§ 125 AO 1977). Die Verfolgung eines solchen Einwandes kann als selbständiges Verteidigungsmittel angesehen werden, das unmittelbar das Bestehen des vollstreckbaren Anspruchs betrifft, und daher bei einem Übergehen in der angefochtenen Entscheidung grundsätzlich als absoluter Revisionsgrund i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F. zu dienen geeignet ist. Der Einwand ist auch nicht durch § 256 AO 1977 ausgeschlossen, weil er unmittelbar die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung selbst betrifft (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 256 AO 1977 Rz. 47).
Die entsprechenden Behauptungen des Klägers können jedoch schon deshalb nicht als schlüssig vorgetragen angesehen werden, weil sie klar im Widerspruch zu den Urteilsausführungen des FG stehen. Das FG hat auf Seite 5 seines Urteils ausgeführt: "Es ergeben sich für den Senat auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Angaben des Beklagten über die Existenz der den Pfändungen zugrunde liegenden Steuerfestsetzungen und Steuerschulden unzutreffend sein sollten. So waren z.B. die in der Aufstellung der Steuerschulden aufgeführte Umsatzsteuer und Einkommensteuer 1994 Gegenstand der beim Senat anhängigen Klageverfahren; der Kläger hat sich hier erfolglos gegen die Höhe der (nicht von der Vollziehung ausgesetzten) Steuerschätzungen gewandt, während die Existenz entsprechender Steuerfestsetzungen zu keinem Zeitpunkt streitig war."
Auf diese Ausführungen des FG hätte der Kläger bei seiner Rüge eingehen und Tatsachen dafür vortragen müssen, dass das FG trotz dieser Formulierungen das von ihm geltend gemachte Verteidigungsmittel in seinem Urteil übergangen hat. Die bloße Behauptung, das FG habe ein solches Verteidigungsmittel in der Begründung seines Urteils "komplett übergangen", stellt keine schlüssige Revisionsrüge dar, sofern sich, wie im Streitfall, diese Behauptung auf den ersten Blick als klar im Widerspruch zu dem angefochtenen Urteil stehend herausstellt. Ein augenscheinlich bewusst falscher Vortrag ist zur Zulassung der Revision nicht geeignet.
b) Die Rüge, das FG sei bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil an dem Urteil zwei Richter mitgewirkt hätten, die abgelehnt gewesen seien (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO a.F., § 119 Nr. 1 FGO), entbehrt schon deshalb der Schlüssigkeit, weil dieser Fall kein Anwendungsfall des § 119 Nr. 1 FGO ist, sondern unter die vorgehende spezielle Regelung des § 116 Abs. 1 Nr. 2 FGO a.F., § 119 Nr. 2 FGO fällt (vgl. BFH-Beschluss vom 30. November 1981 GrS 1/80, BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217). Sollte der Kläger die Rüge des § 116 Abs. 1 Nr. 2 FGO a.F., § 119 Nr. 2 FGO gemeint und erhoben haben, so wäre auch diese Rüge nicht schlüssig vorgebracht, weil der Kläger selbst einräumt, dass das FG die Ablehnungsgesuche abgelehnt ("abgewimmelt") hat, die betreffenden Richter also nicht mit Erfolg abgelehnt waren. Die erfolglos abgelehnten Richter sind nach der genannten Rechtsprechung nicht von der Teilnahme an dem Urteil ausgeschlossen, sondern berechtigt und sogar verpflichtet, an der Entscheidung mitzuwirken. Die Einlegung von Beschwerden gegen die Ablehnung der Richterablehnungsgesuche, die derzeit beim IV. Senat des BFH anhängig sind, ändert hieran nichts. Diese Beschwerden sind auch nicht vorgreiflich in dem Sinne, dass der Senat das vorliegende Revisionsverfahren auszusetzen und die Entscheidung über diese Beschwerden abzuwarten hätte. Denn sollten die Beschwerden später für begründet erachtet werden, steht es dem Kläger frei, gemäß § 134 FGO i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO Nichtigkeitsklage bzw. Nichtigkeitsantrag zu erheben bzw. zu stellen (vgl. BFH-Beschluss vom 8. Mai 1992 III B 163/92, BFHE 167, 299, BStBl II 1992, 675).
Fundstellen
Haufe-Index 705715 |
BFH/NV 2002, 660 |