Leitsatz (amtlich)
Ein Richter des BFH ist im Verfahren über die Revision gegen das Urteil eines FG von der Ausübung seines Richteramts auch dann nicht nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 41 Nr. 6 ZPO ausgeschlossen, wenn er als früherer Richter des FG bei der auf Art. 177 Abs. 2 EWGV beruhenden Einholung einer Vorabentscheidung des EGH beteiligt war, auf die das FG dann ohne seine weitere Mitwirkung das Urteil gestützt hat. Ein Grund, ihn im Revisionsverfahren nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 1 und 2 ZPO wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, besteht auch dann nicht, wenn er als Berichterstatter des FG einen bestimmenden Einfluß auf die der Auffassung eines Beteiligten widersprechende Formulierung der im Vorlagebeschluß dem EGH gestellten Fragen hatte.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1 S. 1; ZPO § 41 Nr. 6, § 42 Abs. 1-2
Tatbestand
Im Verfahren über die von der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhobene Klage holte das Finanzgericht (FG) gemäß Art. 177 Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) durch Beschluß vom 13. November 1975 eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EGH) ein. Es wies sodann die Klage durch Urteil vom 30. August 1976 ab. Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Revision eingelegt. Durch Schriftsatz vom 5. November 1979 hat sie geltend gemacht, der dem Senat angehörende Richter am Bundesfinanzhof X sei im vorliegenden Fall gemäß § 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 41 Nr. 6 der Zivilprozeßordnung (ZPO) von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen, weil er als früherer Richter des FG an dem Vorlagebeschluß vom 13. November 1975 mitgewirkt habe; jedenfalls lehne sie ihn deshalb wegen Besorgnis der Befangenheit ab. In seiner dienstlichen Äußerung vom 30. November 1979 hat Richter am Bundesfinanzhof X erklärt, er halte sich nicht für befangen.
Entscheidungsgründe
Das mit dem Schriftsatz vom 5. November 1979 angebrachte Gesuch war abzuweisen.
Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO gelten für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen in der Finanzgerichtsbarkeit die §§ 41 bis 49 ZPO sinngemäß. Einer der Sonderfälle des § 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3 FGO liegt hier nicht vor.
1. Nach der von der Klägerin zitierten Vorschrift des § 41 Nr. 6 ZPO ist ein Richter von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug "bei dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat", sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt. Eine Mitwirkung bei dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung liegt nur vor, wenn der Richter an der Urteilsfindung der unteren Instanz teilgenommen hat. Er muß demnach in seiner richterlichen Funktion an den tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Folgerungen unmittelbar beteiligt gewesen sein und damit das Urteil mitzuverantworten haben (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG - vom 26. Januar 1971 2 BvR 443/69, BVerfGE 30, 149, 155 f., Neue Juristische Wochenschrift 1971 S. 1029 - NJW 1971, 1029 -). Es genügt z. B. nicht, daß der Richter bei einem Beweisbeschluß oder bei der Verkündung der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat (Urteile des Reichsgerichts - RG - vom 26. Mai 1922 III 85/22, RGZ 105, 17, und vom 25. April 1890 III 23.90, RGZ 26, 383). Nach dem Beschluß des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 7. Februar 1968 5 AR 43/68 (NJW 1968, 814) soll allerdings ein Richter im Berufungsverfahren gegen eine Entscheidung nach § 343 ZPO auch dann nach § 41 Nr. 6 ZPO ausgeschlossen sein, wenn er zwar nicht an der angefochtenen Entscheidung, wohl aber an dem Versäumnisurteil gegen den nicht erschienenen Beklagten (§ 331 ZPO) mitgewirkt hat. Das BAG hat für einen solchen Fall als zulässig angesehen, § 41 Nr. 6 ZPO sinngemäß anzuwenden, weil die Vorschrift verhüten solle, daß ein Richter, der in der unteren Instanz an der Urteilsfindung teilgenommen habe, in der höheren Instanz wiederum als erkennender Richter tätig werde, weil dann die erforderliche Gewähr für die völlige Unbefangenheit bei der Beurteilung der angefochtenen Entscheidung fehle (Hinweis auf RG-Urteil in RGZ 26, 383, 384, und vom 8. Juni 1903, 209/03 IV, Juristische Wochenschrift 1903 S. 289 - JW 1903, 289 -, Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 5. Juli 1960 IV ZR 109/59, NJW 1960, 1762). Dieser Zweck gebiete es - so meint das BAG -, § 41 Nr. 6 ZPO auch auf die Fälle anzuwenden, in denen sich die sachliche Beurteilung der angefochtenen Entscheidung notwendigerweise ganz oder teilweise auf solche Rechtsfragen beziehen müsse, die der Richter in der Vorinstanz schon bei der Findung eines Urteils entschieden habe.
Im vorliegenden Fall hat Richter am Bundesfinanzhof X nicht bei dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung, nämlich des FG-Urteils vom 30. August 1976, mitgewirkt. Bei seiner Mitwirkung an dem Vorlagebeschluß vom 13. November 1975 hat er nicht über eine Rechtsfrage entschieden, die nunmehr im Rahmen der Revision zu beurteilen ist. Denn der Vorlagebeschluß beschränkte sich gemäß Art. 177 EWGV darauf, dem EGH Rechtsfragen vorzulegen, damit dieser über sie entscheide.
Das Oberlandesgericht (OLG) München hat im Urteil vom 19. Dezember 1968 6 U 1646/68 (NJW 1969, 754) entschieden, daß ein Richter, der nur am Erlaß einer einstweiligen Verfügung, nicht aber an dem auf Widerspruch in der Sache ergangenen Urteil mitgewirkt hat, gleichwohl von der Ausübung des Richteramts im Berufungsrechtszug ausgeschlossen sei. Es entnehme dem § 41 Nr. 6 ZPO den Willen des Gesetzgebers, einen Richter in späteren Rechtszügen stets dann von der Ausübung des Richteramts fernzuhalten, wenn er in einer anderen Instanz über die Rechtmäßigkeit einer früheren eigenen Entscheidung zu befinden hätte. Auch aus dieser Entscheidung kann für den vorliegenden Fall nichts hergeleitet werden. Denn im Verfahren über die gegen das FG-Urteil eingelegte Revision ist nur über die Rechtmäßigkeit des FG-Urteils, nicht über die des Vorlagebeschlusses zu befinden.
Der Vorlagebeschluß des FG enthielt zwar insofern eine eigene Entscheidung des FG, als dieses eine Entscheidung des EGH über die vorgelegten Fragen zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hielt (vgl. Art. 177 Abs. 2 EWGV). Da jedoch Richter am Bundesfinanzhof X beim Erlaß des FG-Urteils nicht mehr beteiligt war, beruhte die Aufrechterhaltung der Entscheidung über die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung des EGH nicht mehr auf der Mitwirkung des Richters am Bundesfinanzhof X am Vorlagebeschluß.
2. Nach § 42 Abs. 1 und 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Es muß demnach ein objektiv vernünftiger Grund vorliegen, der die Partei von ihrem Standpunkt aus befürchten lassen kann, der Richter werde nicht unparteiisch sachlich entscheiden (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 16. Juni 1973 2 BvQ 1/73, 2 BvF 1/73, BVerfGE 35, 246, 253; und vom 7. Dezember 1976 1 BvR 460/72, BVerfGE 43, 126, 127; Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 21. September 1977 I B 32/77, BFHE 123, 305, BStBl II 1978, 12).
Als Grund für ihre Befürchtung, Richter am Bundesfinanzhof X werde nicht unparteiisch sachlich entscheiden, macht die Klägerin geltend, das FG habe unter dem bestimmenden Einfluß des als Berichterstatter beteiligt gewesenen Richters am Bundesfinanzhof X durch die Formulierung von drei Fragen des Vorlagebeschlusses den Sinn ihrer - der Klägerin - Auffassung über den Begriff des Bestimmungslands (Bestimmungsgebiets) in sein Gegenteil verkehrt, um den EGH einzuladen, ihre Auffassung abzulehnen. Das ist kein objektiv vernünftiger Grund für die Befürchtung einer Parteilichkeit des Richters am Bundesfinanzhof X. Dieser mag zwar als Berichterstatter die Formulierung der Fragen des Vorlagebeschlusses beeinflußt haben. Wenn er aber dabei nicht der Auffassung der Klägerin über die Auslegung des Begriffs Bestimmungsland (Bestimmungsgebiet) gefolgt ist, bedeutet dies nicht, daß er parteilich sei. Denn als Richter des FG war er frei in der Entscheidung, ob überhaupt der EGH angerufen werden sollte (vgl. Art. 177 Abs. 2 EWGV) und wie im Falle einer Anrufung die Fragen gestellt werden sollten. Im übrigen ist nicht ersichtlich, inwiefern ein Berichterstatter des FG durch eine von ihm herbeigeführte Formulierung der Fragen des FG den EGH zu einer unzutreffenden Auslegungsentscheidung veranlassen könnte.
Fundstellen
BStBl II 1980, 158 |
BFHE 1980, 251 |