Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit von Bescheiden, die trotz Zustellungsvollmacht dem Stpfl. bekanntgegeben wurden
Leitsatz (NV)
1. Im Aussetzungsverfahren vor dem BFH können ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nur dann bejaht werden, wenn unter Beachtung der beschränkten Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes zu rechnen ist.
2. Der von der früheren Rechtsprechung zu § 8 Abs. 1 VwZG a.F. entwickelte Grundsatz, daß die Behörde kein Wahlrecht mehr hat, wenn der Stpfl ihr ausdrücklich mitteilt, daß er einen bestimmten Vertreter auch zur Entgegennahme von Verwaltungsaktenermächtige, ist für die Zeit ab dem 1. Januar 1977 bei der nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gebotenen Ermessensausübung wieder zu beachten.
3. Ist ein Berater ermächtigt, rechtsverbindliche Erklärungen abzugeben und entgegenzunehmen, so umfaßt die Vollmacht auch die Entgegennahme von Steuerbescheiden.
4. Widerspricht der Stpfl trotz erteilter Zustellungsvollmacht nicht der Bekanntgabe von Steuerbescheiden unmittelbar an ihn, so kann dieses Verhalten weder im Sinne eines Widerrufs der vorher erteilten Vollmacht noch im Sinne einer Einverständniserklärung des Inhalts ausgelegt werden, daß er auch künftig mit der Bekanntgabe von Steuerbescheiden unmittelbar ihm gegenüber einverstanden sei.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2 S. 2; AO 1977 § 122 Abs. 1 S. 3, Abs. 2, § 355 Abs. 1
Tatbestand
Das Niedersächsische Finanzgericht (FG) hat durch Urteil vom 6. September 1984 die Klage der Kläger, Revisionskläger und Antragsteller (Antragsteller) wegen Einkommensteuer 1976 bis 1980 als unbegründet abgewiesen. Das Urteil wurde den Antragstellern am 16. Oktober 1984 zugestellt. Gegen das Urteil haben sie am 6. November 1984 Revision eingelegt, die mit Schriftsatz vom 27. Dezember 1984 innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet wurde. Gleichzeitig beantragten die Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG liegt dem Antrag folgender Sachverhalt zugrunde:
Das Finanzamt (FA) erließ am 25. Januar 1983 gegenüber den Antragstellern geänderte Einkommensteuerbescheide 1976 bis 1979 sowie am 28. Februar 1983 einen Einkommensteuererstbescheid 1980. Erst mit Schreiben vom 16. Mai 1983 legten die Antragsteller durch ihren Bevollmächtigten gegen die Bescheide Einspruch mit der Begründung ein, die einmonatige Einspruchsfrist sei nicht in Lauf gesetzt worden, weil die Steuerbescheide trotz vorliegender Vollmacht nicht an den Bevollmächtigten der Antragsteller, sondern an letztere unmittelbar bekanntgegeben worden seien. Der Bevollmächtigte der Antragsteller hatte am 27. Januar 1977 dem FA eine Vollmacht der Antragsteller folgenden Inhalts vorgelegt:
,,Hiermit wird dem Steuerberater Vollmacht in allen steuerlichen Angelegenheiten vor den Finanzbehörden erteilt. Er ist zur Abgabe und Entgegennahme rechtsverbindlicher Erklärungen, sowie zur Einlegung und Zurücknahme von Rechtsbehelfen berechtigt.
Diese Vollmacht erstreckt sich gleichzeitig auf die Führung von Rechtsstreitigkeiten in allen Steuersachen vor den Finanzgerichten und dem Bundesfinanzhof. Insoweit ist die Prozeßvollmacht unbeschränkt . . ."
In der Folgezeit gab das FA Steuerbescheide teils dem Berater und teils den Antragstellern unmittelbar bekannt.
Das FA vertrat in der Einspruchsentscheidung die Auffassung, die von den Antragstellern erteilte Vollmacht sei keine ,,Zustellungsvollmacht". Die Klage blieb ohne Erfolg.
Die Antragsteller begründen die eingelegte Revision und den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit der Rüge der Verletzung der §§ 80 und 112 der Abgabenordnung (AO 1977) sowie des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist nur teilweise begründet.
1. Einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung kann dann entsprochen werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, seitdem ständige Rechtsprechung des BFH). Ob ernstliche Zweifel vorliegen, richtet sich bei einem - wie hier - schon in der Revisionsinstanz schwebenden Rechtsstreit nach revisionsrechtlichen Grundsätzen. Danach können ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nur dann bejaht werden, wenn unter Beachtung der beschränkten Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes zu rechnen ist. Nach Auffassung des Senats ist diese Frage im Streitfall zu bejahen.
2. Nach den Feststellungen des FG wurden die Einkommensteuerbescheide 1976 bis 1980 an die Kläger adressiert und am 25. Januar bzw. am 28. Februar 1983 zur Post gegeben. In Verbindung mit § 122 Abs. 2 AO 1977 folgt aus den Feststellungen, daß die Bescheide mit dem dritten Tage nach ihrer Aufgabe zur Post als den Antragstellern bekanntgegeben galten, falls die Bekanntgabe gegenüber den Antragstellern rechtswirksam war. Bei summarischer Prüfung hat der Senat jedoch ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bekanntgabe der Bescheide. Zwar ist nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 kann aber der Verwaltungsakt auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekanntgegeben werden. Dazu folgt aus dem Bericht des Finanzausschusses des Bundestages über die Beratungen des Entwurfes der AO 1977 (vgl. BTDrucks VII /4292 zu § 122 Seite 28), daß der Gesetzgeber mit § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 den bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 19. Mai 1972 - VwZG - (BGBl I 1972, 789, BStBl I 1972, 396) geltenden Rechtszustand wieder herstellen wollte. Vor Inkrafttreten des genannten Änderungsgesetzes mußte die Finanzbehörde gemäß § 8 Abs. 1 VwZG a.F. nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob sie den Verwaltungsakt dem Beteiligten selbst oder seinem Bevollmächtigten bekannt gab. Bei der Ermessensausübung war eine Reihe von Grundsätzen zu beachten, die vor allem die Rechtsprechung entwickelt hatte. Dazu gehörte u.a., daß die Behörde kein Wahlrecht mehr hatte, wenn der Steuerpflichtige ihr ausdrücklich mitteilte, daß er einen bestimmten Vertreter auch zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtige (vgl. BFH-Urteile vom 11. August 1954 II 239/53 U, BFHE 59, 305, BStBl III 1954, 327; vom 11. Juli 1962 III 127/60, Steuerrechtsprechung in Karteiform -StRK - Grunderwerbsteuergesetz, §##1, Rechtsspruch 98, und vom 25. Oktober 1963 III 7/60 U, BFHE 77, 764, BStBl III 1963, 600). Dieser Grundsatz ist für die Zeit ab dem 1. Januar 1977 bei der nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gebotenen Ermessensausübung wieder zu beachten.
3. Nach den Feststellungen des FG hatten die Antragsteller dem FA eine Vollmacht vorgelegt. Aus ihr ging hervor, daß der Bevollmächtigte der Antragsteller zur ,,Entgegennahme rechtsverbindlicher Erklärungen" berechtigt war. Unter den Begriff ,,rechtsverbindliche Erklärungen" fallen schon bei wortgetreuer Auslegung auch Verwaltungsakte aller Art. Verwaltungsakte sind nämlich hoheitliche Willensäußerungen einer Behörde, die dazu dienen, unmittelbar eine rechtliche (feststellende oder gestaltende) Wirkung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zu setzen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 118 AO 1977 Tz. 1). Der Wortlaut der Vollmacht enthält umgekehrt keinen Anhaltspunkt dafür, daß - wie das FG meint - unter rechtsverbindlichen Erklärungen nur Rückfragen und Mitteilungen im Besteuerungsverfahren gemeint sein sollten, wie sie § 80 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 sinngemäß erwähnt. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil vor allem Rückfragen auch in die Form eines Verwaltungsaktes gekleidet sein können und deshalb § 80 Abs. 3 AO 1977 grundsätzlich auch die Empfangnahme derartiger Verwaltungsakte mitumfaßt. Es kommt hinzu, daß sich die Finanzbehörde regelmäßig des Verwaltungsaktes als Form ihres Verwaltungshandelns bedienen, weshalb eine zur Entgegennahme rechtsverbindlicher Erklärungen erteilte Vollmacht im Zweifel diese als die für die Abgabe behördlicher Willenserklärungen übliche Form mitumfaßt. Sollte das FA bei Eingang der Vollmacht Zweifel an deren Umfang gehabt haben, so hätte es diese ggf. durch Rückfrage bei den Antragstellern in dem einen oder anderen Sinne ausräumen müssen. Soweit es dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist, kann dies die Auslegung der erteilten Vollmacht nicht berühren.
4. Das Urteil des Senats vom 30. Juli 1980 I R 148/79 (BFHE 131, 270, BStBl II 1981, 3) steht der hier getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Es betrifft einen Sachverhalt, in dem der Steuerpflichtige seinem Berater keine Vollmacht zur Entgegennahme von Steuerbescheiden erteilt hatte, und ist deshalb nicht einschlägig.
5. Zwar hat das FG auch festgestellt, daß das FA nach Vollmachtserteilung und vor Erlaß der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1976 bis 1980 noch weitere Steuerbescheide unmittelbar den Antragstellern bekanntgegeben hat, ohne daß diese der Bekanntgabe an sie widersprochen hätten. Daraus folgt jedoch nur die Möglichkeit, daß alle genannten Bescheide unwirksam bekanntgegeben wurden, ohne daß die Antragsteller dies beanstandet hätten. Das Verhalten der Antragsteller kann dagegen weder im Sinne eines Widerrufs ihrer vorher erteilten Vollmacht noch im Sinne einer Einverständniserklärung des Inhalts interpretiert werden, daß sie auch künftig mit der Bekanntgabe von Steuerbescheiden unmittelbar an sie einverstanden seien.
6. Ist die Bekanntgabe der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1976 bis 1980 unwirksam, so wurde die Rechtsbehelfsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 nicht in Lauf gesetzt. Die Bestimmung setzt eine wirksame Bekanntgabe der Steuerbescheide voraus. Damit ist der am 16. Mai 1983 eingelegte Einspruch rechtzeitig. Er hätte zur Überprüfung der Sache in vollem Umfang durch die Finanzbehörde führen müssen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO 1977). Diese ist jedoch bisher in eine Prüfung des sachlichen Begehrens der Antragsteller nicht eingetreten.
7. Allerdings ist der Antrag der Antragsteller der Höhe nach nur teilweise begründet. Die Antragsteller begehren die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide in Höhe der insgesamt nachgeforderten Steuerbeträge. Die Antragsbegründung läßt jedoch in keiner Weise erkennen, daß sie dem gestellten Antrag in vollem Umfang Rechnung trüge.
Fundstellen