Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrenshandlungen eines Beteiligten nach Bestellung eines Vertreters von Amts wegen
Leitsatz (NV)
1. Soweit ein nach § 81 Abs. 1 Nr. 4 AO bestellter Vertreter die Vertretung in einem Verwaltungsverfahren, auf das sich sein Amt erstreckt, tatsächlich übernommen hat, ist der Beteiligte selbst zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nicht fähig.
2. Das Einspruchsverfahren stellt gegenüber dem Veranlagungsverfahren kein selbständiges Verwaltungsverfahren dar.
3. Das FA darf die Einspruchsbegründung eines nicht handlungsfähigen Beteiligten nicht von vornherein gänzlich unberücksichtigt lassen; es muß im Rahmen seiner in § 367 Abs. 1 AO 1977 bezeichneten Prüfungspflicht etwaigen aus ihr ersichtlichen Tatsachen nachgehen.
4. Durch die Bestellung eines Vertreters für das Verwaltungsverfahren nach § 81 Abs. 1 Nr. 4 AO ist ein Beteiligter nicht gehindert, Prozeßhandlungen vor dem FG selbst vorzunehmen.
5. Das FG kann anordnen, daß ein Prozeßbevollmächtigter bestellt werden muß; es kann die Bestellung aber nicht selbst vornehmen.
6. Der für einen Beteiligten nach § 81 Abs. 1 AO bestellte Vertreter kann vom FG nicht beigeladen werden.
Normenkette
AO § 81 Abs. 1 Nr. 4, § 79 Abs. 3, § 367 Abs. 2; FGO § 58 Abs. 1, § 60 Abs. 1, § 62 Abs. 1, § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist von dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt -- FA --) für die Streitjahre zur Einkommensteuer veranlagt worden. Für ihn ist gemäß § 81 Abs. 1 Nr. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) ein Vertreter für die Besteuerungsverfahren bei dem FA bestellt. Dieser legte gegen die Einkommensteuerbescheide Einspruch ein. Der Einspruch wurde von ihm jedoch nicht begründet; nur der Kläger gab eine Einspruchsbegründung ab.
Das Finanzgericht (FG) wies die nach Zurückweisung des Einspruchs erhobene Klage ab und führte u. a. aus, die Einwendungen des Klägers gegen die angefochtenen Bescheide seien unbegründet; da der Kläger bei dem FA nicht auftreten dürfe, habe das FA seine Einspruchsbegründung nicht verwerten können.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wendet sich die Beschwerde mit der Rüge, der Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig, weil ein Verfahrensmangel, auf dem das Urteil des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --), nicht in einer den Anforderungen des § 115 Abs. 3 FGO genügenden Weise bezeichnet ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein Verfahrensmangel nur dann ordnungsgemäß gerügt, wenn die zur Begründung der Rüge vorgetragenen Tatsachen schon als solche ausreichend und geeignet sind darzutun, daß der behauptete Verfahrensmangel vorliegt und daß das angefochtene Urteil auf ihm beruhen kann (BFH-Urteile vom 10. Mai 1990 V R 17/85, BFH/NV 1991, 201, und vom 8. November 1973 V R 130/69, BFHE 110, 493, BStBl II 1974, 219; BFH-Beschluß vom 5. März 1970 V R 135/68, BFHE 98, 239, BStBl II 1970, 384). Der BFH soll durch diese strengen Anforderungen entlastet und der Notwendigkeit enthoben werden, die Verfahrensakten durchforschen zu müssen, um die Begründetheit der erhobenen Verfahrensrügen prüfen zu können (BFH-Urteil in BFHE 110, 493, BStBl II 1974, 219). Die Beschwerdebegründung genügt diesen Anforderungen nicht.
1. Die Beschwerde rügt sinngemäß, die vom Kläger ohne seinen Vertreter abgegebene schriftliche Einspruchsbegründung habe zumindest vom FG berücksichtigt werden müssen, weil der Kläger im Verwaltungsverfahren nur davon ausgeschlossen gewesen sei, zu verhandeln und Anträge zu stellen. Diesem Vorbringen ist die Rüge eines Verstoßes gegen das Gebot des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO zu entnehmen, aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu entscheiden, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Inhalts der beigezogenen Steuerakten (vgl. BFH-Urteile vom 6. Dezember 1978 I R 131/75, BFHE 126, 379, BStBl II 1979, 162, und vom 15. Dezember 1987 II R 130/85, BFH/NV 1989, 230; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 96 Rz. 8 m. w. N.). In der Beschwerdeschrift sind jedoch nicht die Tatsachen bezeichnet, die diesen Verfahrensmangel ergeben.
a) Nach § 79 Abs. 2 AO 1977 in der im Zeitpunkt der Abgabe der Einspruchsbegründung des Klägers und bis zum Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes vom 12. September 1990 (BGBl I, 2002) geltenden Fassung und nach § 79 Abs. 3 AO 1977 der jetzt geltenden Fassung i. V. m. § 53 der Zivilprozeßordnung (ZPO) steht ein Beteiligter einer nicht prozeßfähigen Person gleich, wenn er in dem Verwaltungsverfahren durch einen nach § 81 Abs. 1 Nr. 4 AO 1977 bestellten Vertreter vertreten wird; soweit sich das Amt des Vertreters auf das Verwaltungsverfahren erstreckt und dieser die Vertretung tatsächlich übernommen hat, ist folglich der Beteiligte selbst zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nicht fähig (vgl. BFH-Beschluß vom 14. November 1979 VII E 2/78, BFHE 129, 244, BStBl II 1980, 192).
Der Vertreter des Klägers hat das Verfahren jedenfalls dadurch übernommen, daß er gegen die Einkommensteuerbescheide Einspruch eingelegt hat. Sein Amt bezog sich auf die Besteuerungsverfahren bei dem FA. Nach dem Sinn und Zweck der Bestellung eines Vertreters dürften dazu nicht nur die Veranlagungsverfahren als solche gehören, sondern auch ein sich anschließendes Einspruchsverfahren; denn das Einspruchs verfahren stellt gegenüber dem Veranlagungsverfahren kein selbständiges Verwaltungsverfahren dar (vgl. Bundesverwaltungsgericht -- BVerwG --, Urteile vom 27. September 1989 8 C 88.88, BVerwGE 82, 336, 338, und vom 18. April 1986 8 C 81.83, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 316, § 3 VwVfG Nr. 2 m. w. N.).
Soweit in der Einspruchsbegründung eine Verfahrenshandlungsfähigkeit erfordernde Mitwirkungshandlung des Klägers liegt, konnte sie jedoch, selbst wenn der Kläger bei Abgabe der Einspruchsbegründung handlungsunfähig war, dadurch Wirksamkeit erlangen, daß der dem Kläger bestellte Vertreter sie genehmigte (vgl. BFH-Urteil vom 18. Oktober 1988 VII R 123/85, BFHE 154, 446, BStBl II 1989, 76 m. w. N.). Ferner konnte der Kläger selbst seinen Einwendungen gegen die angefochtenen Bescheide dadurch Beachtung verschaffen, daß er sie in das gerichtliche Verfahren einführte; denn im gerichtlichen Verfahren ist er nach § 58 Abs. 1 FGO uneingeschränkt verfahrenshandlungsfähig.
In der Beschwerdebegründung ist nicht dargelegt, daß dies geschehen ist. Aber selbst wenn man davon absieht, muß die Beschwerde jedenfalls deshalb ohne Erfolg bleiben, weil nicht angegeben ist, inwiefern das FG zu einer anderen Entscheidung hätte gelangen können, wenn es die Einspruchsbegründung als wirksame Verfahrenshandlung behandelt hätte.
b) Ungeachtet der Frage der verfahrensrechtlichen Wirksamkeit der vom Kläger vorgelegten Einspruchsbegründung hatte das FA allerdings die Sache nach § 367 Abs. 2 AO 1977 in vollem Umfang erneut zu prüfen. Es durfte deshalb die Einspruchsbegründung nicht von vornherein gänzlich unberücksichtigt lassen, sondern mußte im Rahmen seiner in § 367 Abs. 2 AO 1977 bezeichneten Prüfungspflicht etwaigen aus ihr ersichtlichen, gegebenenfalls nach weiterer Sachaufklärung von Amts wegen zu berücksichtigenden Tatsachen nachgehen. Die gleiche Obliegenheit traf das FG, soweit es nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu entscheiden hatte.
In der Beschwerdebegründung sind indes diesbezügliche Mängel des angefochtenen Urteils ebenfalls nicht bezeichnet. Dazu hätte nämlich die genaue Angabe der Tatsachen gehört, die das FG der Einspruchsbegründung oder dem sonstigen Akteninhalt nach § 96 Abs. 1 FGO hätte entnehmen oder deren Aufklärung sich ihm im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hätte aufdrängen müssen. Es fehlt in der Beschwerdebegründung nicht nur an jeglichen Angaben dazu, sondern darüber hinaus an der erforderlichen Darlegung, inwiefern die Berücksichtigung dieser Tatsachen oder eine weitere Sachaufklärung zu einer dem Kläger günstigeren Entscheidung hätten führen können. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, dem von sich aus nachzugehen.
2. Die vom Kläger sinngemäß erhobene Rüge, das FG habe dadurch gegen § 62 FGO verstoßen, daß es ihm für das gerichtliche Verfahren keinen Vertreter bestellt habe, obwohl er selbst seine Rechte vor dem FG nicht habe verteidigen können und sich sein Vertreter dazu aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage gesehen habe, ist ebenfalls nicht schlüssig dargelegt. Die Beschwerde weist selbst mit Recht darauf hin, daß der Kläger durch die Bestellung eines Vertreters für das Verwaltungsverfahren nach § 81 Abs. 1 Nr. 4 AO 1977 nicht gehindert war, Prozeßhandlungen vorzunehmen. Ein Fall, in dem nur durch die Hinzuziehung eines Vertreters dem Kläger rechtliches Gehör hätte gewährt werden können, lag also nicht vor. Überdies kann das FG nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO lediglich anordnen, daß ein Bevollmächtigter bestellt werden muß; es kann diese Bestellung aber nicht selbst vornehmen, sondern muß sie dem Beteiligten überlassen, der nach Ergehen dieser Anordnung ohne einen Vertreter keine weiteren Prozeßhandlungen mehr vornehmen kann (BFH-Beschluß vom 24. April 1975 VI R 210/74, BFHE 115, 423, BStBl II 1975, 672; vgl. auch Gräber/Koch, a.a.O., 3. Aufl., § 62 Rz. 17 m. w. N.). Im übrigen scheitert die Rüge der Beschwerde aber auch daran, daß nicht dargelegt ist, inwiefern das Urteil des FG auf dem angeblichen Verfahrensmangel beruhen kann, was also ein vom Kläger aufgrund eines Beschlusses des FG nach § 62 Abs. 1 Satz 2 FGO bestellter Vertreter noch hätte vortragen sollen und inwiefern dies zu einer anderen Entscheidung des FG hätte führen können.
3. Schließlich wird auch durch das Vorbringen der Beschwerde, das FG habe den vormundschaftsgerichtlich bestellten Vertreter des Klägers beiladen müssen, kein Verfahrensmangel bezeichnet, auf dem das Urteil beruhen kann. Nach § 60 Abs. 1 FGO kann das FG andere zu einem Rechtsstreit beiladen, deren rechtliche Interessen nach den Steuergesetzen durch die Entscheidung berührt werden, und nach § 60 Abs. 3 FGO muß es sie notwendig beiladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO stellt einen Verfahrensmangel dar, der zur Zulassung der Revision führt (BFH-Beschluß vom 30. Juni 1967 VI B 49/66, BFHE 89, 328, BStBl III 1967, 612; vgl. zuletzt BFH- Urteil vom 30. August 1994 IX R 42/91, BFH/NV 1995, 481). Der für den Kläger bestellte Vertreter ist jedoch an dem streitigen Steuerrechtsverhältnis zwischen dem Kläger und dem FA nicht selbst beteiligt, sondern lediglich berufen, die steuerrechtlichen Interessen des Klägers im Verwaltungsverfahren wahrzunehmen.
Fundstellen
Haufe-Index 421049 |
BFH/NV 1996, 289 |