Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Bedeutung des Fragerechts nach § 83 FGO bei einer Sachaufklärungsrüge
Leitsatz (NV)
Verzichtet ein Beteiligter (ausdrücklich oder stillschweigend) auf das in § 83 FGO verankerte Fragerecht, führt dies grundsätzlich zum Verlust des Rügerechts.
Normenkette
FGO §§ 83, 155; ZPO § 295
Gründe
1. Das Finanzgericht (FG) weicht von den zitierten Entscheidungen nicht ab.
Das FG geht bei seiner Entscheidung von den im Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. März 1989 VII R 75/85 (BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534) aufgestellten Grundsätzen aus. Danach kann der Nachweis des Zugangs eines schriftlichen Verwaltungsaktes nach § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) von der Finanzbehörde nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises (prima-facie-Beweis) geführt werden; vielmehr gelten die allgemeinen Beweisregeln, insbesondere der Indizienbeweis.
- Aus dem vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt - FA -) zitierten BFH-Urteil vom 5. Dezember 1974 V R 111/74 (BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286) ergibt sich für den einen Fall, daß der Empfänger den Zugang überhaupt bestreitet, nichts anderes (vgl. BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 unter II, b, cc).
- Die in den vom FA zitierten BFH-Urteilen vom 4. März 1977 VI R 242/74 (BFHE 121, 389, 391, BStBl II 1977, 523) und vom 12. August 1981 I R 140/78 (BFHE 134, 213, 215, BStBl II 1982, 102) vertretene Auffassung für den anderen Fall, daß der Empfänger einen späteren Zugang behauptet, ist durch die neuere Rechtsprechung überholt (BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 unter II, 3 letzter Absatz).
- Das BFH-Urteil vom 6. September 1989 II R 233/85 (BFHE 158, 297, BStBl II 1990, 108) konkretisiert lediglich die in BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 aufgestellten Grundsätze.
- Das BFH-Urteil vom 7. Oktober 1976 VIII R 76/72 (BFHE 120, 142, BStBl II 1977, 133) betrifft einen anderen Sachverhalt. Dort ging es allein um die Frage, ob die Zugangsvermutung des § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) auch dann gilt, wenn - anders als im Streitfall - der Empfänger zwar nicht behauptet, den Verwaltungsakt tatsächlich später erhalten zu haben, aber zwei der drei Tage Feiertage sind.
2. Wird mangelnde Sachaufklärung mit der Begründung gerügt, das FG habe auch ohne Beweisantritt von Amts wegen aufklären müssen, so ist für eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge die genaue Angabe der Beweismittel erforderlich, die das FG nicht erhoben hat, deren Erhebung sich ihm aber ohne besonderen Antrag hätte aufdrängen müssen (z.B. BFH-Beschluß vom 16. Februar 1988 V B 140/87, BFH/NV 1990, 39). Weiter muß der Beschwerdeführer darlegen, daß das Urteil auf der vermißten Aufklärungsmaßnahme beruht (z.B. BFH-Urteil vom 14. Januar 1981 I R 133/79, BFHE 132, 508, BStBl II 1981, 443). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht.
a) Mit dem Hinweis, das FG hätte der nach § 81 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. §§ 450 bis 455 der Zivilprozeßordnung (ZPO) vernommenen Klägerin und weitere oder andere Fragen stellen müssen, ist ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nicht schlüssig gerügt.
Soweit das FA damit sinngemäß beanstandet, das FG habe die Aussage der Klägerin zur Frage des Zeitpunkts des Zugangs unzutreffend gewürdigt, betrifft dies die Beweiswürdigung. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem materiellen Recht zugeordnet und deshalb der Prüfung des BFH im Rahmen einer Verfahrensrüge entzogen (vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 115 Rz. 28 m.w.N.).
Im übrigen kann der Einwand, das FG hätte andere oder weitere Fragen an die Klägerin stellen müssen, auch deshalb nicht durchdringen, weil das FA durch sein eigenes Verhalten selbst zu dem beanstandeten Geschehensablauf beigetragen hat. Nach § 83 FGO können die Beteiligten an Zeugen und Sachverständige und auch an andere Beteiligte (vgl. z.B. Gräber/Koch, a.a.O., § 83 Rz. 4; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 83 FGO Rz. 2) sachdienliche Fragen richten. Weist das FG eine solche Frage zu Unrecht zurück, liegt darin ein Verfahrensmangel i.S des § 119 Nr. 3 FGO (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör), der mit der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Dem in § 83 FGO eröffneten Fragerecht entspricht auf der Seite des Beteiligten in bestimmtem Umfang die Pflicht, aktiv am Prozeß mitzuwirken und gegebenenfalls selbst Fragen zu stellen (vgl. zur Prozeßverantwortung des Beteiligten z.B. BFH-Urteil vom 7. August 1974 II R 177/73, BFHE 113, 540, BStBl II 1975, 119, 121; BFH-Beschluß vom 27. Juni 1985 I B 28/85, BFHE 144, 139, BStBl II 1985, 626; Gräber/von Groll, a.a.O., § 96 Rz. 33 m.w.N.). Verzichtet ein Beteiligter (ausdrücklich oder stillschweigend) auf sein Fragerecht, führt dies grundsätzlich zum Verlust des Rügerechts (vgl. § 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO; z.B. Gräber/Koch, a.a.O., § 83 Rz. 6). Eine schlüssige Verfahrensrüge setzt deshalb voraus, daß der Beschwerdeführer darlegt, weshalb er selbst nicht in der Lage war, auf entsprechende Fragen hinzuwirken, und/oder weshalb sich dem FG die Notwendigkeit weiterer Befragung angesichts des bisherigen Sachstandes dann hätte aufdrängen müssen. Dies gilt um so mehr, wenn ein Beteiligter - wie im Streitfall das FA - im Termin der Beweisaufnahme von einem Juristen vertreten war (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 25. Oktober 1977 VII R 5/74, BFHE 124, 105, BStBl II 1978, 274, 276, und vom 28. November 1991 XI R 13/90, BFH/NV 1992, 609 jeweils m.w.N.). Hierzu hat das FA nichts vorgetragen.
b) Der nicht näher konkretisierte Hinweis, das FG hätte weitere Zeugen anhören müssen, genügt nicht den eingangs beschriebenen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge mangelnder Sachaufklärung.
c) Soweit das FA rügt, das FG hätte bei der Post Nachforschungen anstellen müssen, ob es - wie vom FG als möglich angenommen - tatsächlich durch die zwei Feiertage zu Verzögerungen bei der Postzustellung gekommen ist, fehlt es an der Darlegung, weshalb das Urteil auf der vermißten Ermittlungsmaßnahme beruhen kann. Dies war schon deshalb erforderlich, weil es auch bei normalem Postablauf vorkommen kann, daß ein Brief den Empfänger nicht innerhalb der Dreitagesfrist erreicht, und weil das FG dem Umstand wesentliche Bedeutung beigemessen hat, daß die Klägerin bereits im Einspruchsschreiben den Zugangstermin genannt hat. Die Behauptung allein, das Urteil beruhe auf der vermißten Ermittlungshandlung, ist nicht ausreichend.
Der Beschluß ergeht im übrigen gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Begründung.
Fundstellen
Haufe-Index 418998 |
BFH/NV 1994, 108 |