Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Beschwerde; Begründungspflicht des Gerichts; AdV wegen verfassungsrechtlicher Zweifel
Leitsatz (NV)
- Eine "außerordentliche Beschwerde" zu einem im Instanzenzug höheren Gericht mit dem Antrag, dieses möge seine Entscheidung wegen Verletzung von Grundrechten erneut überprüfen, ist nicht gegeben.
- Das Ausmaß der Begründungspflicht des Gerichts orientiert sich an dem Gewicht der in dem Verfahren erhobenen oder sonst auf der Hand liegenden rechtlichen Einwände, so wie sie ein verständiger Betrachter einschätzen müsste.
- Werden die Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts mit Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Gesetzes selbst begründet, ist zusätzlich zu den sonstigen Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung ein berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich. Das gilt umso mehr dann, wenn solche Bedenken in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und in der des Bundesverfassungsgerichts keinerlei Anhalt finden.
Normenkette
GG Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; FGO § 69 Abs. 3, § 105 Abs. 5, § 128 Abs. 3
Tatbestand
I. Der Antragsteller und Rechtsbehelfsführer (Antragsteller) wendet sich gegen den Bescheid des Antragsgegners und Rechtsbehelfsgegners (Finanzamt ―FA―), durch den nach Maßgabe des Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetzes 1997, das die Kraftfahrzeugsteuersätze für als nicht schadstoffarm eingestufte Fahrzeuge erheblich erhöht hat, die Kraftfahrzeugsteuer für das vom Antragsteller am 29. März 2000 bei der Zulassungsstelle angemeldete Kfz festgesetzt worden ist. In seinem gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch hat der Antragsteller u.a. geltend gemacht, die Kraftfahrzeugsteuer müsse die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Singles und Eltern in Familien berücksichtigen und verletze anderenfalls Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Ferner müsse der Wert des Fahrzeuges berücksichtigt werden und die Steuer dürfe nicht für ein ganzes Jahr im Voraus festgesetzt werden.
Nach Zurückweisung dieses Einspruchs hat der Antragsteller beim Finanzgericht (FG) Klage gegen den vorgenannten Bescheid erhoben und u.a. gerügt, seine "verfassungsrechtliche Begründung" sei in der Einspruchsentscheidung "nicht verarbeitet worden". Außerdem hat der Antragsteller beim FG die Aussetzung der Vollziehung des Kraftfahrzeugsteuerbescheides des FA beantragt, welcher Antrag Gegenstand dieses Rechtsbehelfsverfahrens ist. Das FG hat den Antrag durch den angefochtenen Beschluss abgelehnt und zur Begründung dieser Entscheidung in entsprechender Anwendung von § 105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf die Einspruchsentscheidung sowie auf den Beschluss des beschließenden Senats vom 15. Juni 1999 VII R 86/98 (BFH/NV 1999, 1645) Bezug genommen.
Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller beim FG Gegenvorstellung erhoben und zugleich eine "außerordentliche Beschwerde" eingelegt. Das FG hat die Gegenvorstellung zurückgewiesen und der außerordentlichen Beschwerde nicht abgeholfen. Es hat die Akte des Verfahrens dem Bundesfinanzhof (BFH) vorgelegt.
Das FA beantragt, die außerordentliche Beschwerde abzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Gegen Entscheidungen des FG über die Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO steht den Beteiligten nach § 128 Abs. 3 Satz 1 FGO eine Beschwerde nur zu, wenn sie in der Entscheidung zugelassen worden ist. Das FG hat in seinem angefochtenen Beschluss die Beschwerde nicht zugelassen. Die Entscheidung ist mithin rechtskräftig.
Ob gegen rechtskräftige Entscheidungen eines Instanzgerichts ein in dem einschlägigen Verfahrensrecht nicht vorgesehener "außerordentlicher" Rechtsbehelf zu dem im Instanzenzug nächst höheren Gericht eingelegt werden kann, erscheint unbeschadet der Stimmen in Rechtsprechung und Schrifttum, die dies ―unter bestimmten, im Wesentlichen auf dem Gebiete des Verfassungsrechts liegenden Voraussetzungen― für zulässig halten, zweifelhaft. Der beschließende Senat ist der Auffassung, dass bei der Verletzung von Grundrechten zwar unter Umständen eine Gegenvorstellung zu dem erkennenden Gericht mit dem Antrag erhoben werden kann, dieses möge seine Entscheidung erneut überprüfen, nicht jedoch eine "außerordentliche Beschwerde" zu einem im Instanzenzug höheren Gericht (vgl. auch Rüsken, Deutsche Steuer-Zeitung 2000, 815, 818). Der beschließende Senat braucht jedoch in diesem Verfahren über die Zulässigkeit eines außerordentlichen Rechtsbehelfs nicht abschließend zu entscheiden. Denn ein solcher Rechtsbehelf könnte allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die angegriffene, an sich rechtskräftige Entscheidung des Instanzgerichts formelle oder materielle Grundrechte des Antragstellers in einer Weise verletzt, dass sie aufgrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ungeachtet der im einfachen Prozessrecht fehlenden Anfechtungsmöglichkeit keinen Bestand haben darf.
Den Ausführungen des Antragstellers ist weder nachvollziehbar zu entnehmen, dass diese Voraussetzungen bei dem angefochtenen Beschluss des FG vorliegen, noch ist es sonst erkennbar. Es mag dahinstehen, ob es einen verfassungsrechtlichen Anspruch des Antragstellers gibt, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 69 Abs. 3 FGO eine eingehend begründete gerichtliche Entscheidung zu erhalten. Selbst wenn davon mit dem Antragsteller ausgegangen wird, muss sich das Ausmaß der Begründungspflicht an dem Gewicht der in dem Verfahren erhobenen oder sonst auf der Hand liegenden rechtlichen Einwände orientieren, so wie sie ein verständiger Betrachter einschätzen müsste.
So gesehen vermag der beschließende Senat nicht die Beurteilung des Antragstellers zu teilen, der angefochtene Beschluss enthalte nicht die angeblich verfassungsrechtlich erforderliche Begründung.
Was die Einzelheiten der Kraftfahrzeugsteuerberechnung und die Grundlagen der Kraftfahrzeugsteuererhebung angeht, konnte das FG gemäß § 105 Abs. 5 FGO auf die insoweit eingehend begründete Einspruchsentscheidung des FA Bezug nehmen. Diese Bezugnahme umfasst, wie bereits in dem Beschluss des Senats in BFH/NV 1999, 1645 unter Bezugnahme auf das einschlägige Urteil vom 10. Juli 1990 VII R 12/88 (BFHE 162, 141, BStBl II 1990, 929) erkannt worden ist, dass die Kraftfahrzeugsteuererhöhung durch das Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz 1997 nicht verfassungswidrig ist. Auf den vorgenannten Beschluss hat das FG im Übrigen erneut ausdrücklich hingewiesen.
Der Einwand des Antragstellers, die Kraftfahrzeugsteuer dürfe von Verfassungs wegen nicht im Voraus erhoben werden und müsse "den Wert" des Fahrzeuges berücksichtigen, hat so wenig rechtliche Substanz, dass das FG darauf nicht eigens eingehen musste. Das Gleiche gilt für den Einwand, die Kraftfahrzeugsteuererhöhung verletze Art. 6 Abs. 1 GG; dass auch dieser Einwand ―namentlich in der pauschalen Form, wie ihn der Antragsteller vorgetragen hat― keinen Gesichtspunkt erkennen lässt, der ernstlich gegen das Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz 1997 angeführt werden könnte, hat der beschließende Senat bereits in seinem Beschluss vom 13. Juli 2000 VII B 120/00 (BFH/NV 2001, 50) näher ausgeführt; er kann hierauf Bezug nehmen.
Im Übrigen ist, anders als der Antragsteller meint, keineswegs selbstverständlich, dass das FG in einem Massenverfahren wie dem der Kraftfahrzeugsteuererhebung die Vollziehung eines Kraftfahrzeugsteuerbescheides nach § 69 Abs. 3 FGO aussetzen dürfte, wenn es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der ihm zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschriften hat. Die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ist zwar auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts mit Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzes selbst begründet werden (Urteil des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180, 186, BStBl I 1961, 63). In diesem Fall ist allerdings im Hinblick auf den Geltungsanspruch eines jeden formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes nach ständiger Rechtsprechung des BFH zusätzlich ein berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. März 1994 VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, und vom 31. Mai 1995 II B 126/94, BStBl II 1995, 572). Das gilt umso mehr dann, wenn solche Bedenken ―wie im Streitfall― zwar in Erwägung zu ziehen sein mögen, jedoch anderweit, insbesondere in der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung und in der des BVerfG keinerlei Anhalt finden.
Fundstellen
Haufe-Index 585763 |
BFH/NV 2001, 1031 |