Leitsatz (amtlich)
Ergibt die dem FG nach § 130 FGO obliegende Prüfung, daß die Beschwerde begründet und demnach die angefochtene Entscheidung zu Unrecht ergangen ist, hält aber das FG nunmehr diese Entscheidung aus einem neuen Gesichtspunkt für richtig, so muß es dennoch die mit Recht angefochtene Entscheidung aufheben. Es darf den neuen Gesichtspunkt nur zum Anlaß nehmen, eine neue Sachentscheidung mit neuer Begründung zu erlassen.
Normenkette
FGO § 130; ZPO § 571
Tatbestand
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (HZA) erließ am 18. Dezember 1974 gegen die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) einen Bescheid über 184 095,40 DM Mineralölsteuer und wies den hiergegen erhobenen Einspruch als unbegründet zurück. Am 12. August 1975 erklärte die Antragstellerin dem FG, sie beantrage unter Bezugnahme auf die gleichzeitig eingereichte Klage, die Vollziehung des Steuerbescheides auszusetzen.
Das FG teilte der Antragstellerin durch Verfügung vom 15. August 1975 mit: Dem Antrag könne nur stattgegeben werden, wenn die Antragstellerin die ihn begründenden Tatsachen dargelegt und glaubhaft gemacht habe. Bisher liege dem Gericht weder der Steuerbescheid noch die Einspruchsentscheidung vor. Außerdem sei nicht erkennbar, aus welchen Tatsachen sich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ergeben sollten oder aufgrund welcher Tatsachen anzunehmen sein solle, daß die mit dem Vollzug des Bescheides verbundene Härte unbillig und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen geboten sein sollte. Bevor eine Entscheidung über den Antrag ergehe, werde ihr Gelegenheit gegeben, die angedeuteten Bedenken zu beheben. Das Gericht behalte sich vor, nach Ablauf von zwei Wochen zu entscheiden.
Mit Schreiben vom 29. August 1975, das beim FG an diesem Tage einging, legte die Antragstellerin unter Bezugnahme auf die Verfügung des FG Fotokopien des Steuerbescheides und der Einspruchsentscheidung vor. Sie wandte sich gegen die der Steuerforderung zugrunde liegende Auffassung des HZA, sie habe Heizöl bestimmungswidrig verwendet, und berief sich auf die Höhe des ihren Mietern in Rechnung gestellten Heizölverbrauchs.
Das FG lehnte den Aussetzungsantrag durch Beschluß vom 3. September 1975 ab und erklärte in der Begründung dieser Entscheidung, die Antragstellerin habe auf die Verfügung vom 15. August 1975 noch nicht geantwortet.
Mit der Beschwerde rügt die Antragstellerin, der Beschluß gehe von der falschen Behauptung aus, sie sei der Verfügung des FG vom 15. August 1975 nicht nachgekommen.
Das FG hat durch Beschluß vom 23. September 1975 abgelehnt, der Beschwerde abzuhelfen. Es hat dabei ausgeführt, die Schriftsätze der Antragstellerin, insbesondere ihre abstrakten Berechnungen des möglichen Heizölverbrauchs, ergäben keine so ernstliche Zweifel an den durch Zeugenaussagen belegten Vorwürfen des HZA, daß das FG der Beschwerde hätte abhelfen müssen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Das FG hat durch den Beschluß vom 3. September 1975 den auf Art. 103 Abs. 1 GG beruhenden Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, das Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Das Gericht ist dafür verantwortlich, daß ein bei ihm eingegangener Schriftsatz bei seiner Entscheidung berücksichtigt werden kann. Das gilt auch für einen Schriftsatz, der innerhalb einer Äußerungsfrist eingereicht worden ist. Auf ein Verschulden des Gerichts oder seiner Geschäftsstelle kommt es bei einer unterbliebenen Berücksichtigung eines solchen Schriftsatzes nicht an (vgl. Beschlüsse des BVerfG vom 13. März 1973 2 BvR 484/72 und vom 10. Juni 1975 2 BvR 1086/74, BVerfGE 34, 344; 40, 101). Das FG hat den Beschluß vom 3. September 1975 gefaßt, ohne die Antwort der Antragstellerin vom 29. August 1975 auf seine Verfügung vom 15. August 1975 zur Kenntnis genommen zu haben. Das zeigt die in der Begründung des Beschlusses enthaltene, den Tatsachen widersprechende Erklärung, die Antragstellerin habe auf diese Verfügung noch nicht geantwortet.
Das FG hat die Verletzung des Anspruchs der Antragstellerin auf rechtliches Gehör nicht dadurch heilen können, daß es bei seiner auf § 130 FGO beruhenden Entscheidung über die Frage, ob der Beschwerde abzuhelfen sei, nunmehr auf den Schriftsatz vom 29. August 1975 einging. Die dem § 148 der VwGO und dem § 571 ZPO entsprechende Vorschrift des § 130 FGO sieht vor, daß das FG der Beschwerde abhilft, wenn es sie für begründet hält, und verlangt, daß es andernfalls die Beschwerde unverzüglich dem BFH vorlegt. Nach dieser Regelung obliegt dem FG eine erneute Entscheidung nur über die Frage, ob auf Grund des Beschwerdevorbringens der Beschwerde abzuhelfen ist. Die Vorschrift gestattet nicht, bei Verneinung dieser Frage das durch die angefochtene Entscheidung abgeschlossene Verfahren ohne Aufhebung des bisherigen Beschlusses fortzusetzen und unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens inder Sache selbst erneut zu entscheiden. Denn für diesen Fall verpflichtet sie das FG, die Beschwerde dem BFH vorzulegen, der nunmehr als Beschwerdegericht für die Entscheidung allein zuständig ist. Die Entschließung des FG, der Beschwerde nicht abzuhelfen, ergeht zwar ebenfalls in der Form eines Beschlusses. Sie ist aber keine Sachentscheidung. Demgemäß ist gegen sie auch keine besondere Beschwerde gegeben, da die Beschwer bereits in dem ursprünglichen Beschluß des FG enthalten ist und der BFH über diese Beschwer entscheidet (vgl. BFH-Beschluß vom 26. April 1972 II B 31/72, BFHE 105, 333, BStBl II 1972, 575).
Ergibt die dem FG nach § 130 FGO obliegende Prüfung, daß die Beschwerde begründet und demnach die angefochtene Entscheidung zu Unrecht ergangen ist, hält aber das FG nunmehr diese Entscheidung aus einem neuen Gesichtspunkt für richtig, so muß es dennoch die mit Recht angefochtene Entscheidung aufheben. Es darf den neuen Gesichtspunkt nur zum Anlaß nehmen, eine neue Sachentscheidung mit neuer Begründung zu erlassen (vgl. Entscheidung des Oberlandesgerichts Kiel vom 21. Juli 1949 - 4 W 158/49, Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der Obersten Gerichte in Zivilsachen Bd. 2 S. 368 = Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1949 S. 285; Zöller, Zivilprozeßordnung, 11. Aufl., § 571 Anm.; Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., S. 815; Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 588; Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 571 Anm. II 3; Rothe, Deutsche Rechtszeitung 1950 S. 152 - DRZ 1950, 152 -). Für den erwähnten Fall meinen Hamelbeck (DRZ 1950, 296) und Thomas-Putzo (Zivilprozeßordnung, 8. Aufl., § 571 Anm. 1 c), das Erstgericht dürfe, da es der Beschwerde nicht abhelfe, seinen ursprünglichen Beschluß nicht aufheben und keinen neuen Beschluß erlassen, sondern könne nur die Beschwerde unter Angabe seiner neuen Gründe vorlegen. Diese Auffassung findet jedoch weder in § 571 ZPO noch in dem hier maßgeblichen § 130 FGO eine Stütze. Das Kammergericht hat sich im Beschluß vom 28. Mai 1974 - 4 W 631/74 (NJW 1974, 2010) mit dem Fall befaßt, daß der durch Beschwerde anfechtbare und angefochtene Beschluß des Erstgerichts entgegen einer Rechtspflicht nicht begründet worden war. Es hat hierzu die Auffassung vertreten, diese Unterlassung könne und müsse im Beschluß, der Beschwerde nicht abzuhelfen, durch Nachholung der Begründung behoben werden. Es kann dahinstehen, ob diese auf Schneider (NJW 1966, 1367) und Wieczorek (Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl., § 571 Anm. A II b) gestützte und von Baumbach-Lauterbach (Zivilprozeßordnung, 34. Aufl., § 571 Anm. 2) geteilte Auffassung mit der Vorschrift des § 571 ZPO vereinbar ist, die für den Fall, daß das Erstgericht die Beschwerde für nicht begründet hält, nur bestimmt, daß das Gericht die Beschwerde vor Ablauf einer Woche dem Beschwerdegericht vorzulegen hat. Im hier zu entscheidenden Fall hatte nämlich das FG seinen angefochtenen Beschluß begründet, so daß es nicht um die Frage geht, ob eine unterlassene Begründung auf die Beschwerde hin nachgeholt werden kann, also jetzt nur mitgeteilt wird, welche Gründe zur Zeit der Beschlußfassung maßgebend waren, sondern ob das FG die von ihm als berechtigt erkannte Beschwerde zum Anlaß nehmen durfte, seinen angefochtenen Beschluß aufrechtzuerhalten und ihn auf eine neue Begründung zu stützen. Diese Frage muß verneint werden, weil die Erkenntnis des FG, daß die Beschwerde begründet ist, nach § 130 Abs. 1 FGO das FG verpflichtet, der Beschwerde abzuhelfen, d. h. den Tenor seines Beschlusses entsprechend zu ändern oder aufzuheben.
Gerichtliche Beschlüsse über die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts können zwar nach § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Aber auch für diese Beschlüsse gelten für den Fall, daß sie durch Beschwerde angefochten worden sind, für die weitere Tätigkeit des FG nur die Vorschriften des § 130 FGO.
Das FG konnte also die ihm durch den angefochtenen Beschluß vom 3. September 1975 unterlaufene Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch seinen Nichtabhilfebeschluß vom 23. September 1975 nicht mehr heilen.
Als Verstoß gegen eine Verfassungsvorschrift stellt sich die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als ein besonders schwerwiegender Verfahrensfehler dar. Dementsprechend hat der Gesetzgeber für den Fall, daß ein solcher Fehler in einem Klageverfahren entstanden ist, durch § 119 Nr. 3 FGO bestimmt, daß ein daraufhin ergangenes Urteil ohne weiteres als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist. In dem durch § 113 FGO nur lückenhaft geregelten Beschlußverfahren kann die Verletzung rechtlichen Gehörs nicht geringere Bedeutung haben. Auch hier muß vermieden werden, daß dem betroffenen Beteiligten durch einen solchen die Grundlagen der Entscheidung treffenden Verfahrensfehler die ihm zustehende Instanz genommen wird.
Der BFH ist nach §§ 132, 155 FGO i. V. m. § 575 ZPO befugt, die Sache an das FG zurückzuverweisen (vgl. BFH-Beschluß vom 6. Oktober 1967 III B 56/67, BFHE 90, 284, BStBl II 1968, 65). Von dieser Möglichkeit macht der Senat Gebrauch.
Fundstellen
Haufe-Index 71632 |
BStBl II 1976, 595 |
BFHE 1977, 122 |