Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen
Leitsatz (NV)
- Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 scheidet aus, wenn die maßgeblichen Tatsachen zur Beurteilung der Frage, ob eine Abfindung nach § 3 Nr. 9 und §§ 24, 34 EStG ermäßigt zu besteuern ist, dem FA spätestens bei Erlass des für die Beurteilung des nachträglichen Bekanntwerdens maßgeblichen Einkommensteuerbescheides bekannt waren.
- Ist für das FA unschwer erkennbar, dass die Auflösung des Dienstverhältnisses des geschäftsführenden GmbH-Gesellschafters mit dem Verkauf der GmbH-Anteile durch ihn zumindest zusammenhängen kann, so sind Zweifel am Vorliegen eines unfreiwilligen Arbeitsplatzverlustes naheliegend und weitere Ermittlungen grundsätzlich geboten.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; EStG § 3 Nr. 9, §§ 24, 34
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) waren bis zum 31. Dezember 1993 Gesellschafter der Firma X GmbH (GmbH); der Kläger zu einem Anteil von 95 v.H. und die Klägerin zu 5 v.H. Der Kläger war zudem alleiniger Geschäftsführer der GmbH. Mit notariellem Vertrag vom … 1993 veräußerten die Kläger ihre Geschäftsanteile an der GmbH an Herrn Z. Nach Ziffer 9 des Vertrags verpflichtete sich der Kläger, die Geschäftsführung der Gesellschaft zum 31. Dezember 1993 niederzulegen. Auch sollte zu diesem Zeitpunkt der Anstellungsvertrag des Klägers enden. Die Kläger verpflichteten sich weiterhin, den Käufer und die GmbH von allen etwaigen Ansprüchen des Klägers als Geschäftsführer freizustellen, die aus einem Zeitraum nach dem 31. Dezember 1993 resultieren sollten.
In der am … 1993 abgehaltenen Gesellschafterversammlung beschlossen die Kläger als Gesellschafter der GmbH die Beendigung der Geschäftsführertätigkeit des Klägers zum 31. Dezember 1993 sowie die Zahlung einer Abfindung an den Kläger in Höhe eines Jahresbruttogehaltes von 180 000 DM für den Verlust des Arbeitsplatzes und die einmalige Zahlung von 85 000 DM zur Abgeltung des Pensionsanspruchs des Klägers. In dem Protokoll der Versammlung wird hierzu festgehalten, der Käufer sei nicht bereit, den Kläger als Geschäftsführer über den 31. Dezember 1993 hinaus zu beschäftigen. Am 31. Mai 1993 schloss die GmbH sodann mit dem Kläger einen entsprechenden Aufhebungsvertrag über eine einvernehmliche Aufhebung aus betriebsbedingten Gründen und die vorgesehenen Entschädigungen.
Im Rahmen ihrer, unter Mitwirkung ihres steuerlichen Beraters erstellten Einkommensteuererklärung erklärte der Kläger in der Anlage N aus der Tätigkeit als Geschäftsführer einen erzielten Bruttoarbeitslohn in Höhe von 567 398 DM. In Zeile 14 der Anlage N gab er hiervon unter der Rubrik "Entschädigungen, die ermäßigt zu besteuern sind" 241 000 DM an.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) veranlagte die Kläger dementsprechend und erließ am 15. Dezember 1994 den Einkommensteuerbescheid 1991, in dem er den Betrag von 241 000 DM dem ermäßigten Steuersatz gemäß § 34 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unterwarf. Der Bescheid erging im Hinblick auf andere Sachverhalte vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Mit Schreiben vom 27. Januar 1995 reichten die Kläger die der Steuererklärung nicht beigefügte Anlage GSE nach und gaben den Wert des erzielten Veräußerungsgewinns aus dem Anteilsverkauf mit 572 000 DM an. Dem Schreiben war die Urkunde über die Veräußerung beigefügt. Am Rande des Schreibens ist vermerkt "Vertrag lag vor". Das FA erließ am 20. April 1995 einen Änderungsbescheid, in dem es den Betrag von 813 000 DM (241 000 DM + 572 000 DM) ermäßigt nach § 34 EStG besteuerte.
Aufgrund einer Außenprüfung bei der GmbH erfuhr das FA, dass der Pensionsanspruch des Klägers gegenüber der GmbH noch nicht unverfallbar gewesen sei und ohne Zahlung einer Abfindung hätte gekündigt werden können. Die Zahlung beruhe auf dem Gesellschaftsverhältnis und stelle eine verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) dar. Hinsichtlich der Abfindung für den Arbeitsplatzverlust wies das FA für Großbetriebsprüfung (BP-FA) darauf hin, dass der Verkauf der Gesellschaftsanteile auf der freien Entscheidung des Klägers beruhe und eine ermäßigte Besteuerung nach § 34 EStG daher mangels einer Zwangslage ausscheide.
Das FA änderte daraufhin gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 mit Bescheid vom 5. Februar 1997 die Einkommensteuerfestsetzung; es besteuerte nur noch den Veräußerungsgewinn nach § 34 EStG. Während des Einspruchsverfahrens wurde der Bescheid vom 27. Oktober 1997 erneut geändert. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Die Kläger trugen mit ihrer Klage vor, der Einkommensteuerbescheid vom 20. April 1995 habe nicht gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geändert werden dürfen. Außerdem habe das FA die Voraussetzungen des § 3 Nr. 9 EStG sowie der §§ 24 Nr. 1 Buchst a und 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG zu Unrecht verneint.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt (abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 2001, 545).
Mit seiner Revision trägt das FA vor, das FG weiche von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ab. Es führt im Wesentlichen aus, die Ermittlungspflicht sei vom FA nicht verletzt worden, weil sich keine Zweifel an der Steuererklärung der Kläger, an der ein Steuerberater mitgewirkt habe, aufgedrängt und keine ersichtlichen Unklarheiten bestanden hätten. Die Erklärung habe den Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte entsprochen. Demgegenüber sei der steuerlich relevante Sachverhalt nicht richtig, vollständig und deutlich dem FA unterbreitet worden. So hätten die Kläger es versäumt, die vertraglichen Unterlagen für die Zahlungen vorzulegen.
Das FA beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet; sie ist zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Im Ergebnis zutreffend hat das FG hinsichtlich der Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes die Befugnis des FA verneint, den Einkommensteuerbescheid 1993 nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.
1. Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 können Steuerbescheide geändert werden, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann; es kann sich handeln um Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 173 Anm. 21, m.w.N.). Die Änderung eines Bescheides ist nach Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dem FA die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Allerdings muss der Steuerpflichtige dann seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt haben. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das FA es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass der Steuerbescheid geändert werden kann. Das FA braucht eindeutigen Steuererklärungen nicht mit Misstrauen zu begegnen; es kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen. Nur wenn sich Unklarheiten oder Zweifelsfragen aufdrängen, ist das FA zum Tun verpflichtet (BFH-Urteil vom 24. Januar 2002 XI R 2/01, BFH/NV 2002, 715, m.w.N.; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Anm. 80 ff., m.w.N.).
2. Soweit das FA die Änderung des Einkommensteuerbescheides 1993 darauf stützt, der Kläger habe mit der Veräußerung der GmbH-Anteile, die auf seinem freien Entschluss als dem beherrschenden Mitgesellschafter beruhte, selbst freiwillig die entscheidende Ursache für sein Ausscheiden als Geschäftsführer der GmbH gesetzt, waren die maßgeblichen Tatsachen zur Beurteilung der Frage einer Steuerbefreiung bzw. Steuerermäßigung der Abfindung nach § 3 Nr. 9 EStG und §§ 24, 34 EStG dem FA spätestens mit der nachträglichen Erklärung des Veräußerungsgewinns im Schreiben vom 27. Januar 1995 unter Vorlage des Veräußerungsvertrags bekannt geworden.
Als das FA den Einkommensteueränderungsbescheid 1993 am 20. April 1995 erließ, auf den es für die Beurteilung des nachträglichen Bekanntwerdens ankommt (vgl. BFH-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 8/88, BFHE 156, 4, BStBl II 1989, 438), war ihm zum einen bekannt, dass der Kläger seine 95 %ige Beteiligung an der GmbH veräußert hatte. Außerdem war ihm bekannt, dass er von der GmbH als deren Geschäftsführer eine ermäßigt zu besteuernde Entschädigung bezogen hatte. Für das FA war damit unschwer erkennbar, dass die Auflösung des Dienstverhältnisses mit der GmbH mit dem Verkauf der GmbH-Anteile zumindest zusammenhängen konnte. In derartigen Fällen sind Zweifel am Vorliegen eines unfreiwilligen Arbeitsplatzverlustes naheliegend und weitere Ermittlungen grundsätzlich geboten.
Dem FA waren bereits bei Erlass des ersten Änderungsbescheids die maßgeblichen Tatumstände bekannt, die es zur späteren Versagung der Steuerermäßigung der Entschädigung für den Arbeitsplatzverlust veranlassten (vgl. BFH-Urteil vom 23. Juni 1993 I R 14/93, BFHE 171, 521, BStBl II 1993, 806, dort konnte das FA unter dem Begriff "Marketingkosten" nicht erkennen, dass die Klägerin ihren Geschäftspartnern im Streitjahr eine als Geschenk zu wertende Reise zuwendete). Jedenfalls musste sich dem FA aufgrund der bekannten Sachverhalte Abfindung des Gesellschafter-Geschäftsführers und Veräußerung der GmbH-Anteile die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen aufdrängen. Dies gilt umso mehr, als es die beiden Sachverhalte zusammen wahrgenommen und steuerlich beurteilt hat. Im Bescheid vom 20. April 1995 hat es die Abfindung und den Veräußerungsgewinn zusammen nach § 34 Abs. 2 EStG ermäßigt besteuert.
Eine Verletzung von Mitwirkungspflichten des Klägers ist zu verneinen. Die Vorlage von Unterlagen über die Abfindung war nach der Anlage N nicht erforderlich. Dass die Einkommensteuererklärung ohne die Anlage GSE abgegeben wurde, kann als bloßes Versehen gewertet werden; im Mantelbogen der Erklärung war sie als beigefügt angekreuzt.
Fundstellen
Haufe-Index 873237 |
BFH/NV 2003, 137 |