Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Zur Bedeutung der Rüge, ein Richter des FG habe infolge übermüdung wesentlichen Vorgängen in der mündlichen Verhandlung nicht folgen können.
Normenkette
FGO § 4 Abs. 3, § 116 Abs. 1 Nr. 1, § 119/1; LStDV § 46 Abs. 4; GG Art. 101 Abs. 1
Tatbestand
Im Oktober 1964 fand bei dem Revisionskläger (Stpfl.) eine Lohnsteuer-Außenprüfung statt, bei deren Abschluß der Stpfl. eine ihm vom Prüfer vorgelegte Erklärung unterzeichnete, in der er die errechneten Mehrlohnsteuern für die Jahre 1957 bis 1963 von insgesamt 24.192,95 DM als richtig anerkannte und sich verpflichtete, den Betrag ohne nochmalige Aufforderung binnen einer Woche bei der Finanzkasse einzuzahlen. Gleichzeitig beantragte er Ratenzahlungen. Am 22. Januar 1965 bat der Stpfl. schriftlich um einen förmlichen Haftungsbescheid. Das FA lehnte das ab. Nunmehr legte der Stpfl. gegen die Heranziehung zur Lohnsteuer von 16.673,37 DM Einspruch ein, den das FA als unzulässig verwarf. Seine Klage wies das FG als unbegründet ab. Es bestätigte die Auffassung des FA, daß der Einspruch wegen Nichteinhaltung der Rechtsmittelfrist von einem Monat als unzulässig zu verwerfen gewesen sei. Es führte aus, die Rechtsbehelfsfrist des § 245 AO a. F. sei gemäß § 246 Abs. 1 AO a. F. - entgegen der Meinung des Stpfl. - in Lauf gesetzt worden, da er als Arbeitgeber die ihm gemäß § 46 Abs. 4 LStDV vorgelegte Erklärung unterzeichnet habe (Urteil des BFH VI 267/63 U vom 13. November 1964, BFH 81, 502, BStBl III 1965, 181). Bei formlosen Steuerbescheiden werde die Rechtsmittelfrist in Lauf gesetzt, auch wenn sie keine Rechtsmittelbelehrung enthielten (Urteil des BFH VI 43/60 U vom 13. Mai 1960, BFH 71, 131, BStBl III 1960, 297). Die Rechtsmittelfrist sei hier am 30. November 1964 abgelaufen gewesen; der Einspruch sei erst am 21. Juni 1965, also verspätet, eingelegt worden. Der Einspruch sei aber auch verspätet, wenn man das Schreiben vom 22. Januar 1965 wegen Erteilung eines Haftungsbescheides als Einspruch ansehe. Nachsicht nach § 86 AO könne nicht gewährt werden, da der Stpfl. die Frist nicht unverschuldet versäumt habe. Auch der Hilfsantrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Haftungsbescheides sei nicht begründet; denn der Bescheid sei höchstens anfechtbar, aber nicht nichtig gewesen.
Mit seiner Revision rügt der Stpfl. Verletzung sachlichen Rechts. Ferner erhebt er die Verfahrensrüge, das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, denn einer der ehrenamtlichen Finanzrichter habe geistig den Vorgängen in der mündlichen Verhandlung nicht folgen können; ihm seien die Augen immer wieder zugefallen; das Einschlafen habe er nur dadurch verhindert, daß er sein Kinn auf eine Bleistiftspitze stützte. Dieser Richter habe nicht auf Grund seiner Erkenntnisse in der mündlichen Verhandlung seine Stimme abgeben können.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Verfahrensrüge greift nicht durch. Ein Gericht ist, wie allgemein anerkannt ist, im Sinne von § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn ein Richter während der mündlichen Verhandlung schläft und deshalb wesentlichen Vorgängen nicht folgt (Urteil des BVerwG VIII C 161/60 vom 6. Mai 1965, HFR 1966, 281; Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 60 S. 63; Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bd. 2 S. 14; Monatsschrift für Deutsches Recht 1956 S. 398; NJW 1962 S. 2212; Seibert in NJW 1963 S. 1044). Alle mitwirkenden Richter müssen sich ihr Urteil in der Streitsache auf Grund der mündlichen Verhandlung bilden (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Ist ein Richter infolge übermüdung oder aus anderen Gründen nicht in der Lage, wesentliche Vorgänge in der mündlichen Verhandlung in sich aufzunehmen und geistig zu verarbeiten, so ist das Urteil, das unter seiner Mitwirkung ergangen ist, so schwer fehlerhaft, daß es auf entsprechende Rüge aufzuheben ist, auch wenn bestimmte Voraussetzungen, die sonst für die Zulässigkeit der Revision gegeben sein müssen, nicht erfüllt sind (§ 116 FGO). Die Frage, ob ein mitwirkender Richter wesentliche Vorgänge in der mündlichen Verhandlung nicht aufgenommen hat, ist allerdings, zumal wenn schon längere Zeit verstrichen ist, oft nur schwer zu beantworten. Es ist aber anerkannt, daß nicht jede erkennbare vorübergehende Ermüdung eines Richters, wie sie zumal bei längeren und anstrengenden Verhandlungen auftreten und etwa durch Gähnen und Zufallen der Augen in Erscheinung treten kann, den Richter ohne weiteres hindert, der Verhandlung voll zu folgen und die Vorgänge in der Verhandlung geistig so zu verarbeiten, daß er sich sein Urteil in der Streitsache aus dem vollen Inhalt der mündlichen Verhandlung bildet.
Ob ein Richter tatsächlich der mündlichen Verhandlung in entscheidenden Punkten nicht gefolgt ist, weil er eingeschlafen war, muß das Revisionsgericht auf die entsprechende Verfahrensrüge eines Beteiligten unter Würdigung des Vortrags des Revisionsklägers und gegebenenfalls nach Beweiserhebung durch Anhörung des betroffenen Richters, seiner Richterkollegen oder anderer Zeugen prüfen.
Im Streitfall erübrigt sich nach der Auffassung des Senats eine solche Beweiserhebung, weil sich aus dem eigenen Sachvortrag des Revisionsklägers nicht ergibt, daß der betroffene Laienrichter geistig so abwesend gewesen ist, daß er wesentlichen Vorgängen in der mündlichen Verhandlung nicht gefolgt ist und darum nicht in der Lage war, sein Urteil in der Streitsache auf alle in der mündlichen Verhandlung erörterten Tatsachen und Vorgänge zu gründen. Denn der Revisionskläger trägt nur vor, daß der Laienrichter übermüdet gewesen sei und ein Einschlafen nur dadurch verhindert habe, daß er das Kinn auf eine Bleistiftspitze stützte. Daraus ergibt sich nicht, daß dieser Richter der Verhandlung nicht folgen konnte oder gefolgt ist. Es ist anzunehmen, daß der Revisionskläger den Vorsitzenden wohl darauf hingewiesen hätte, wenn der Richter eingeschlafen wäre. Aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung und dem Sachvortrag des Revisionsklägers ergibt sich nicht, daß der Revisionskläger das getan hat. Der eigene Vortrag des Revisionsklägers rechtfertigt vielmehr die Annahme, daß der Richter allenfalls von einer vorübergehenden Ermüdung befallen worden ist, sich aber dagegen dadurch gewehrt hat, daß er sein Kinn auf die Bleistiftspitze stützte. Unter diesen Umständen spricht nichts dafür, daß dem Richter infolge geistiger Abwesenheit wesentliche Vorgänge der mündlichen Verhandlung entgangen sind.
Sachlich ist die Revision unbegründet. Das Urteil des FG entspricht der vom FG angeführten Rechtsprechung des Senats.
Fundstellen
BStBl III 1967, 558 |
BFHE 1967, 183 |
BFHE 89, 183 |
StRK, FGO:116/1/1 R 2 |