Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf mündliche Verhandlung - Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ohne Einverständnis der Beteiligten - Zolltarifsache i.S. des § 116 Abs. 2 FGO
Leitsatz (amtlich)
1. Ein unter dem Vorbehalt des Widerrufs erklärter Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist wirkungslos.
2. Ein Urteil, das ohne mündliche Verhandlung ergeht, obgleich das erforderliche Einverständnis der Beteiligten nicht vorliegt, verletzt das Recht auf Gehör und ist auf entsprechende Rüge aufzuheben, selbst wenn nicht im einzelnen dargelegt wird, was in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden wäre und inwieweit der Vortrag zur Klärung der Sache beigetragen hätte.
Orientierungssatz
1. Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist eine Prozeßhandlung; bei ihrer Auslegung und Beurteilung ist der BFH als Revisionsgericht nicht an die Feststellungen des FG gebunden. Als Prozeßhandlung muß der Verzicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden. Der Verzicht kann grundsätzlich nicht widerrufen werden (vgl. Rechtsprechung: BFH, BVerwG).
2. Die Verletzung des Rechts auf Gehör führt dann nicht zur Zurückverweisung der Sache, wenn der Verfahrensfehler nur einzelne tatsächliche Feststellungen betrifft, auf die es in revisionsrichterlicher Betrachtung unter keinen denkbaren Gesichtspunkten ankommen konnte (vgl. Rechtsprechung: BFH, BVerwG).
3. Um eine Zolltarifsache i.S. des § 116 Abs. 2 FGO, bei der die Revision ohne besondere Zulassung zulässig ist, handelt es sich, wenn das FG in seinem Urteil auch über die Zuordnung einer Ware zu einer bestimmten Tarifstelle des GZT entschieden hat und es sich bei der Tarifierungsfrage nicht um einen unerheblichen Gesichtspunkt handelt (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 90 Abs. 2, § 116 Abs. 2, § 119 Nr. 3, § 120 Abs. 2 S. 2, § 90 Abs. 1, § 118 Abs. 2
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hat im Sammelzollverfahren Blutkörperchenzählautomaten sowie Teile davon eingeführt und sie mit ihrer handelsüblichen Bezeichnung und Angabe ihrer dem Deutschen Gebrauchszolltarif entnommenen Codenummer --Blutkörperchenzählgeräte (Codenummer 9017 907 00) bzw. Teile davon (Codenummer 9017 908 00)-- angemeldet.
Eine Überprüfung der Tarifierung der Blutkörperchenzählgeräte (Blutkörperchenzählautomaten und Blutuntersuchungsautomaten) durch die Zollehranstalt der Oberfinanzdirektion ergab, daß die genannten Geräte nicht von der Codenummer 9017 907 00 (bzw. infolge Umstellung des Zolltarifschemas 9017 998 00), sondern von der Tarifst.90.28 A II b des Gemeinsamen Zolltarifs --GZT-- (Codenummer 9028 599 00) erfaßt waren.
Aufgrund dieser Feststellung erhob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt --HZA--) mit mehreren Änderungsbescheiden Zoll gemäß Art.2 der Verordnung (EWG) Nr.1697/79 (VO Nr.1697/79) des Rates vom 24.Juli 1979 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1979 L 197/1) nach.
Die hiergegen erhobenen Einsprüche der Klägerin blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage im wesentlichen ab und führte im Ergebnis aus, die Blutkörperchenzählautomaten und Blutuntersuchungsautomaten seien vom HZA zutreffend der Tarifst.90.28 A II b GZT zugewiesen worden. Die Nacherhebung nach Art.2 der VO Nr.1697/79 begegne keinen Bedenken, weil die Voraussetzungen von Art.5 Abs.1, 1.Anstrich und Art.5 Abs.2 VO Nr.1697/79 nicht vorlägen. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme hielt das FG einen für das Absehen von der Nacherhebung nach Art.5 Abs.2 VO Nr.1697/79 erforderlichen "aktiven" Irrtum der Behörden nicht für erwiesen.
Nach Durchführung der Beweisaufnahme erklärte die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 18.Dezember 1989, sie sei "nach dem derzeitigen Verfahrensstand (Gräber/Koch, FGO, 2.Aufl. 1987, § 90 Anm.14) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden". Das FG entnahm daraus das Einverständnis der Klägerin zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und entschied, nachdem das HZA auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte, durch Urteil ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Aufhebung der Änderungsbescheide weiter. Sie hält u.a. die vom HZA vorgenommene Zuweisung der Waren zur Tarifst.90.28 A II b GZT nicht für zutreffend. Ferner macht sie geltend, das FG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden dürfen, da ihr Verzicht auf die mündliche Verhandlung --weil unter Vorbehalt erklärt-- nicht wirksam gewesen sei. Dadurch werde ihr Recht auf Gehör (Art.103 Abs.1 des Grundgesetzes --GG--) verletzt, was gemäß § 119 Nr.3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ein absoluter Revisionsgrund sei. Wenn das Gericht sie darauf hingewiesen hätte, daß es noch nicht alle beweiserheblichen Tatsachen für erwiesen halte, hätte sie ihren Verzicht auf mündliche Verhandlung widerrufen und in dieser mündlichen Verhandlung weitere Beweisanträge gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
1. Die Revision ist nach § 116 Abs.2 FGO zulässig. Das FG hat in seinem Urteil auch über die Zuordnung der Blutkörperchenzählgeräte zu einer bestimmten Tarifstelle des GZT entschieden. Das Urteil wird auch zu diesem Punkt angefochten und beruht auf der Entscheidung über diese Frage; anders als im Fall der durch Beschluß des Senats vom 26.Februar 1991 VII R 41/89 (BFHE 164, 5, BStBl II 1991, 526) entschiedenen Sache handelt es sich im vorliegenden Fall bei der Tarifierungsfrage nicht um einen unerheblichen Gesichtspunkt. Es handelt sich daher um eine Zolltarifsache i.S. von § 116 Abs.2 FGO (vgl. Beschlüsse des Senats vom 20.Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 159, 573, 575, BStBl II 1990, 546, und vom 1.März 1990 VII R 38/89, VII R 39-40/89, BFH/NV 1990, 743), bei der die Revision ohne besondere Zulassung zulässig ist.
2. Die Revision ist auch begründet.
Das FG hat der Klägerin das Recht auf Gehör verweigert (Art.103 Abs.1 GG), indem es entgegen § 90 Abs.1 Satz 1 FGO ohne mündliche Verhandlung entschied; die Vorentscheidung war daher, da sie als auf Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist, aufzuheben (§ 119 Nr.3 FGO).
Zwar setzt das Recht auf Gehör nicht unbedingt auch die Mündlichkeit der Verhandlung voraus, vielmehr kann das Gesetz auch ein schriftliches Verfahren vorsehen. Sieht das Gesetz aber wie im Falle von § 90 FGO grundsätzlich die Gewährung des Gehörs in mündlicher Verhandlung vor, so ist dieses Recht verletzt, wenn die Mündlichkeit nicht gewahrt wird (vgl. Bundesverfassungsgericht --BVerfG--, Beschluß vom 5.Oktober 1976 2 BvR 558/75, BVerfGE 42, 364, 370; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 90 FGO Rz.1).
Die Beteiligten können zwar auf mündliche Verhandlung verzichten (§ 90 Abs.2 FGO); im vorliegenden Fall hat die Klägerin jedoch --entgegen der Auffassung des FG-- nicht wirksam auf die mündliche Verhandlung verzichtet. Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist eine Prozeßhandlung; bei ihrer Auslegung und Beurteilung ist der Senat nicht an die Feststellungen des FG gebunden (Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 20.Juni 1984 I R 22/80, BFHE 142, 32, BStBl II 1985, 5). Als Prozeßhandlung muß der Verzicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden (Bundesverwaltungsgericht --BVerwG--, Urteil vom 22.November 1957 IV C 161/56, BVerwGE 6, 18; Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Rz.9; Tipke/Kruse, a.a.O., § 90 FGO Rz.2; Ziemer/ Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.7854). Diese Voraussetzung erfüllt der von der Klägerin mit Schriftsatz vom 18.Dezember 1989 erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht. Sie hat darin nicht eindeutig und vorbehaltlos auf die mündliche Verhandlung verzichtet. Die Erklärung ist aufgrund der in ihr enthaltenen Beschränkung auf den "derzeitigen Verfahrensstand" im Zusammenhang mit dem beigefügten Schrifttumshinweis dahin auszulegen, daß die Klägerin sich bei einer von ihr als wesentlich angesehenen Änderung der Prozeßlage den Widerruf des Verzichts vorbehalten wollte.
Die Frage, inwieweit ein einmal erklärter Verzicht auf mündliche Verhandlung widerrufen werden kann, ist umstritten. Einigkeit besteht darüber, daß er grundsätzlich nicht widerrufen werden kann (Urteil des BFH vom 4.April 1974 V R 161/72, BFHE 112, 316 ff., BStBl II 1974, 532; weitere Nachweise bei Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Rz.13). Unterschiedliche Auffassungen bestehen aber darüber, ob der Verzicht ausnahmsweise bei einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage widerrufen werden kann (verneinend: BFH-Urteil in BFHE 112, 316 ff., BStBl II 1974, 532; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, a.a.O., Tz.7859; zweifelnd: BFH-Urteil vom 6.April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744; Senatsurteil vom 5.September 1989 VII R 62/87, BFH/NV 1990, 348, 351; bejahend: Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Rz.14, m.w.N.). Diese Frage braucht hier aber nicht endgültig entschieden zu werden. Selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, daß ein Widerruf des Verzichts in keinem Fall möglich wäre, bedeutet dies nicht, daß der Vorbehalt der Klägerin unbeachtlich wäre. Die Klägerin geht vielmehr unter Berufung auf Gräber/Koch (a.a.O.) davon aus, daß ein solcher Widerruf möglich ist, und behält ihn sich vor. Ihre Verzichtserklärung ist daher nicht vorbehaltlos abgegeben und daher unwirksam. Das FG hätte somit nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen.
Zwar führt die Verletzung des Rechts auf Gehör dann nicht zur Zurückweisung der Sache, wenn der Verfahrensfehler nur einzelne tatsächliche Feststellungen betrifft, auf die es in revisionsrichterlicher Betrachtung unter keinen denkbaren Gesichtspunkten ankommen konnte (BFH-Urteil vom 5.Dezember 1979 II R 56/76, BFHE 129, 297, BStBl II 1980, 208; BVerwG-Urteil vom 30.August 1962 VIII C 49.60, BVerwGE 15, 24; Gräber/Koch, a.a.O., § 119 Rz.14). Wird einem Beteiligten jedoch, wie im Streitfall, die Möglichkeit verschlossen, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt --dem Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. des § 96 Abs.1 Satz 1 FGO-- zu äußern, so kann das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf seine sachlich- rechtliche Richtigkeit nicht überprüfen, weil das Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. des § 96 Abs.1 FGO verfahrensrechtlich fehlerhaft zur Grundlage der Entscheidung geworden ist.
In diesem Fall kommt es auch nicht darauf an, ob im einzelnen ausgeführt ist, was die Klägerin in der mündlichen Verhandlung noch hätte vortragen wollen, und daß dies zur Klärung der Sache geeignet gewesen wäre. Die Durchführung der mündlichen Verhandlung gibt den Beteiligten vielmehr ein umfassendes Vortrags- und Erörterungsrecht, dessen Ausmaß im einzelnen von ihrem konkreten Verlauf abhängt. Dieses Recht würde unzulässig eingeschränkt, wenn man im Falle einer zu Unrecht nicht durchgeführten mündlichen Verhandlung nachträglich die konkrete Festlegung der Klägerin auf einen bestimmten Vortrag verlangen würde. Es muß daher in diesem Fall genügen, daß die Klägerin nach § 120 Abs.2 FGO ordnungsgemäß rügt, das Urteil sei zu Unrecht ohne mündliche Verhandlung ergangen (vgl. BVerwG-Urteil vom 18.Oktober 1983 BVerwG 9 C 127.83, Buchholz, BVerwG 310 § 108 VwGO Nr.140; BFH-Urteile vom 24.November 1976 II R 28/76, BFHE 121, 132, BStBl II 1977, 293; vom 16.März 1989 IV R 27/88, BFH/NV 1990, 110; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz.13; Tipke/Kruse, a.a.O., § 119 FGO Rz.10). Da das im Streitfall zutrifft, ist die angefochtene Entscheidung als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend nach § 119 Nr.3 FGO, § 126 Abs.3 Nr.2 FGO aufzuheben (BFHE 129, 297, 299, BStBl II 1980, 208; Urteil vom 15.Januar 1985 IX R 122/84, BFH/NV 1985, 87; Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Rz.46). Eine Sachentscheidung ist dem Revisionsgericht verwehrt.
Fundstellen
Haufe-Index 63721 |
BStBl II 1992, 425 |
BFHE 166, 415 |
BFHE 1992, 415 |
BB 1992, 769 (L) |
DB 1992, 1028 (L) |
DStR 1992, 715 (KT) |
HFR 1992, 295 (LT) |
StE 1992, 220 (K) |