Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung teilweise vorläufig ergangener Einkommensteuerbescheide - Umfang der Vorläufigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ist ein im Hinblick auf eine Besteuerungsgrundlage teilweise vorläufig ergangener Einkommensteuerbescheid bestandskräftig geworden, so können spätere Änderungen nach § 165 Abs.2 Satz 1 AO 1977 nur aus Gründen erfolgen, die mit dieser Besteuerungsgrundlage zusammenhängen.
Orientierungssatz
Ist die Formulierung hinsichtlich des tatsächlichen Umfangs eines Vorläufigkeitsvermerks objektiv unklar, so ist der Umfang der Vorläufigkeit durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BFH-Urteil vom 26.10.1988 I R 189/84).
Normenkette
AO 1977 § 165 Abs. 1-2, § 351 Abs. 1; BGB § 133
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist auf dem Gebiet des Steuerrechts nichtselbständig tätig. Er ist verheiratet und hat u.a. eine ledige Tochter (T), die in den Streitjahren das 27. Lebensjahr vollendet hatte.
Auf der Grundlage der vom Kläger und seiner Ehefrau für 1987 abgegebenen Einkommensteuererklärung setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mit Bescheid vom 17.Oktober 1988 die Einkommensteuer nach einem zu versteuernden Einkommen von 102 868 DM auf 30 362 DM fest. Dabei erfaßte das FA u.a. erklärungsgemäß Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in Höhe von 2 845 DM (Einnahmen: 6 194 DM) und gleichartige Einkünfte seiner Ehefrau in Höhe von 2 188 DM. In einer Anlage zum Bescheid gab das FA folgende Erläuterung:
"Der Bescheid ist nach § 165 Abs.1 AO teilweise vorläufig hinsichtlich der
Einkünfte aus selbständiger Arbeit, weil die Einkünfte nicht abschließend
geprüft wurden. Ich bitte, binnen drei Wochen nach Erhalt des Bescheides
die Einnahmen in Höhe von 6 194 DM aufzuschlüsseln, und zwar Anteil 1.)
nebenberufliche Tätigkeit i.S. des § 3 Nr.26 EStG 2.) sonstige
selbständige Tätigkeit."
Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Unter dem 6.Dezember 1988 erteilte das FA einen geänderten und nach § 165 Abs.2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) endgültigen Bescheid für 1987. Darin berücksichtigte es neben den übrigen, unveränderten Besteuerungsgrundlagen Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in Höhe von 3 510 DM; es setzte dementsprechend die Einkommensteuer nach einem zu versteuernden Einkommen von 103 533 DM auf 30 662 DM fest. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und begehrte --unter Aufschlüsselung seiner Einnahmen aus selbständiger Arbeit--, von Einkünften aus selbständiger Arbeit in Höhe von 3 135 DM auszugehen.
Dem Einspruch wollte das FA stattgeben. Ihm unterlief jedoch im Änderungsbescheid vom 25.Januar 1989 insoweit ein Versehen, als es die Einkünfte der Ehefrau des Klägers aus selbständiger Arbeit auf 3 135 DM änderte. Nach erneutem Einspruch des Klägers änderte das FA den Bescheid vom 25.Januar 1989 durch nach § 172 Abs.1 Nr.2 AO 1977 geänderten Bescheid vom 6.März 1989; es setzte dabei die Einkommensteuerschuld nach einem zu versteuernden Einkommen von 103 088 DM auf 30 462 DM herab.
Gegen diesen Bescheid legten der Kläger und seine Ehefrau am 30.März 1989 wiederum Einspruch ein; zur Begründung machten sie erstmals geltend, sie hätten ihrer Tochter T das ganze Jahr 1987 über mindestens monatlich 1 000 DM Unterhalt gezahlt. Die Tochter habe nur in der Zeit vom Januar bis April 1987 eigene Einkünfte in Höhe von 2 000 DM erzielt, im übrigen sei sie ohne Beschäftigung gewesen.
Das FA berücksichtigte in seinem gemäß § 172 Abs.1 Nr.2 AO 1977 erneut geänderten Bescheid vom 24.Mai 1989 (nur) eine außergewöhnliche Belastung in Höhe von 220 DM, weil der erste Einkommensteuerbescheid (vom 17.Oktober 1988; Ursprungsbescheid) im übrigen in Bestandskraft erwachsen sei (zu versteuerndes Einkommen nunmehr --wie zuallererst-- 102 868 DM; festgesetzte Einkommensteuer 30 362 DM).
Hiergegen legten der Kläger und seine Ehefrau erneut Einspruch ein mit der Begründung, die Unterhaltsaufwendungen müßten bis zur Höhe der im Ursprungsbescheid vorläufig veranlagten Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit anerkannt werden; ungeachtet der Änderungssperre in § 351 Abs.1 AO 1977 könne die Einkommensteuerbelastung auf diese Einkünfte auch aus anderen Gründen bis auf 0 DM herabgedrückt werden.
Nach Zurückweisung des Einspruchs begehrte der Kläger mit der Klage, die Einkommensteuer für 1987 unter Verminderung des zu versteuernden Einkommens um 5 235 DM niedriger festzusetzen, und in verfahrensmäßiger Hinsicht,
1. das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) i.S. 2 BvR 1493/89 anzuordnen,
2. das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit des § 32 Abs.6 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1987 einzuholen.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus:
Die Anträge auf Aussetzung bzw. Ruhen des Verfahrens seien unbegründet. Die Einkommensteuerfestsetzung sei hinsichtlich aller für sie maßgeblichen Besteuerungsgrundlagen in Bestandskraft erwachsen, ausgenommen die im Ursprungsbescheid erklärungsgemäß angesetzten Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in Höhe von 2 845 DM; denn insoweit sei die Steuerfestsetzung bestandskräftig für teilweise vorläufig erklärt worden. Die späteren Einsprüche des Klägers bzw. des Klägers und seiner Ehefrau gegen die wiederholten Änderungsbescheide hätten die Steuerfestsetzung nur insoweit offenhalten können, als sie nicht schon in Bestandskraft erwachsen sei. Für die erstrebte niedrigere Steuerfestsetzung als die im ersten Einkommensteuerbescheid gebe es keine Rechtsgrundlage. Mithin sei auch die Einkommensteuer auf die vom Kläger erklärten Kapitaleinkünfte bestandskräftig festgesetzt, ebenso wie über die Höhe der --evtl. verfassungswidrig zu niedrigen-- Grund- und Kinderfreibeträge bestandskräftig entschieden sei. Ein Anlaß, das Verfahren ruhen zu lassen und die Vorlage an das BVerfG zu beschließen, bestehe deshalb nicht.
Dem Änderungsbegehren des Klägers sei zu Recht nicht entsprochen worden.
§ 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 komme nicht zur Anwendung, weil die Unterstützung der Tochter keine steuermindernde Tatsache sei, die dem Kläger ohne grobe Fahrlässigkeit bei der ursprünglichen Steuererklärung unbekannt gewesen sei. Denn als ... sei der Kläger steuerrechtskundig, so daß ihn ein grobes Verschulden daran treffe, daß die jetzt geltend gemachte steuerrechtlich relevante Tatsache nicht sogleich erklärt worden sei.
Auch auf § 165 Abs.2 AO 1977 könne der Kläger seinen Änderungsbescheid nicht stützen. Denn die Einkommensteuerschuld sei im ersten bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheid auf 30 362 DM festgesetzt worden. Deshalb sei das FA im Einspruchsverfahren gegen die nachfolgenden, auf § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977 gestützten Änderungsbescheide an einer niedrigeren Steuerfestsetzung durch § 351 Abs.1 AO 1977 gehindert gewesen.
Daß der ursprüngliche Bescheid teilweise vorläufig ergangen sei, stehe dem nicht entgegen. Denn Umfang und Grund der Vorläufigkeit seien in der Anlage des --in seinem Kopf als teilweise vorläufig bezeichneten-- Bescheids hinreichend kenntlich gemacht worden. Insbesondere sei deutlich genug zum Ausdruck gekommen, daß sich der Vorläufigkeitsvermerk auf die Einkünfte des Ehemannes und nicht etwa diejenigen der Ehefrau, die nie im ungewissen gewesen seien, beziehe. Teilweise vorläufig hätten deshalb allein die Einkommensteuerfestsetzungen sein sollen, die die bei der Veranlagung berücksichtigten Einkünfte des Klägers aus einer selbständigen Arbeit (2 845 DM) betroffen hätten. Nach der übereinstimmenden Ansicht der gesamten Fachliteratur bestehe aber hinsichtlich des nichtvorläufigen Teils der Steuerfestsetzung die Anfechtungsbeschränkung des § 351 Abs.1 AO 1977 mit der Folge, daß mit anderen, die Einkünfte aus selbständiger Arbeit nicht betreffenden Angriffsmitteln eine Steuerfestsetzung unter die bestandskräftig festgesetzte (Teil-)Einkommensteuerschuld des Ursprungsbescheides nicht erreicht werden könne.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, mit der dieser die Verletzung objektiven Rechts rügt.
Er meint, die Möglichkeit, den in einem teilweise vorläufigen Einkommensteuerbescheid festgesetzten Steuerbetrag in einem Änderungsbescheid zu unterschreiten, Einwendungen angegriffen werden könne, die auch gegen den vorläufigen Bescheid hätten erhoben werden können. Es gebe keinen zureichenden Grund, bei teilweiser Vorläufigkeit hinsichtlich des von der Vorläufigkeit erfaßten Teils die Rechtslage anders zu beurteilen. Die Auffassung lasse sich auch aus der Rechtsnatur des Steuerbescheids herleiten. Denn die Besteuerungsgrundlagen bildeten einen nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuerbescheids. Die der Steuer zugrunde gelegten Tatsachen könnten durch andere, dieselbe Steuer betreffende ausgetauscht werden. Die Steuerfestsetzung dagegen beziehe sich auf die Steuer, nicht auf die Tatsachen. Dementsprechend sei bei einem teilweise für vorläufig erklärten Steuerbescheid eine Zweiteilung zwischen dem endgültigen und dem vorläufigen Teil in der Art vorzunehmen, daß infolge des Mangels der Bestandskraft der Besteuerungsgrundlagen nur der Steuerbetrag materiell bestandskräftig werde, der sich auf den endgültigen Teil beziehe. Hingegen werde der Steuerbetrag, der sich auf die Tatsachen beziehe, deretwegen der Bescheid für vorläufig erklärt worden sei, nicht materiell bestandskräftig.
Im Streitfall könne deshalb eine Änderung in Höhe der im Ursprungsbescheid insgesamt festgestellten Einkünfte aus selbständiger Arbeit, also in Höhe von 5 235 DM erfolgen. Dieser Betrag entspreche zwar nicht nur den einschlägigen Einkünften des Klägers, sondern auch denen seiner Ehefrau. Der Vorläufigkeitsvermerk des FA sei jedoch in der Art auszulegen, daß die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit insgesamt betroffen gewesen seien. Aus dem Umstand, daß das FA nur bezüglich der Einkünfte des Klägers nähere Auskunft erbeten habe, könne ein gegenteiliger Schluß nicht gezogen werden. Denn eine entsprechende Beschränkung hätte das FA durch einen entsprechenden Vermerk zum Ausdruck bringen können und müssen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß das FA den im Ursprungsbescheid festgesetzten Einkommensteuerbetrag von 30 362 DM in dem angefochtenen Änderungsbescheid nicht unterschreiten durfte.
Da der Ursprungsbescheid unanfechtbar geworden ist, konnte der hier angefochtene geänderte Bescheid insoweit gemäß § 351 Abs.1 AO 1977 grundsätzlich nicht mehr angegriffen werden. Etwas anderes könnte sich --da das FG in Übereinstimmung mit den Beteiligten zutreffend die Voraussetzungen des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 verneint hat-- nur aus § 165 Abs.2 Satz 1 AO 1977 ergeben. Das FG ist jedoch zu Recht davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht gegeben waren.
Nach § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiß ist, ob die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind. Nach § 165 Abs.2 Satz 1 AO 1977 kann die Finanzbehörde eine Steuerfestsetzung aufheben oder ändern, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Dabei kommt es --jedenfalls nach Eintritt der Unanfechtbarkeit-- nicht darauf an, ob und in welchem Umfang die Finanzbehörde die Vorläufigkeit aussprechen mußte bzw. durfte. Maßgebend ist vielmehr, welchen Umfang der Vorläufigkeitsvermerk tatsächlich hat. Ist die entsprechende Formulierung objektiv unklar, so ist der Umfang der Vorläufigkeit durch Auslegung zu ermitteln (BFH-Urteil vom 26.Oktober 1988 I R 189/84, BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130).
§ 165 Abs.1 Satz 3 AO 1977 verlangt allerdings, daß Umfang und Grund der Vorläufigkeit für den Steuerpflichtigen ausreichend erkennbar gemacht worden sind (BFH-Beschluß vom 22.Dezember 1987 IV B 174/86, BFHE 152, 43, 47, BStBl II 1988, 234). Das war hier jedoch der Fall. Als Grund für die Aufnahme des Vorbehaltsvermerks war erkennbar, daß dem FA die Angaben des Klägers zu seinen Einnahmen aus selbständiger Arbeit und zur Höhe der entsprechenden Einkünfte nicht ausreichten, insbesondere deshalb nicht, weil der Anteil der Einnahmen aus nebenberuflicher Tätigkeit i.S. des § 3 Nr.26 EStG nicht ersichtlich war. Wegen des Umfangs der Vorläufigkeit ist das FG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, daß sich der Vermerk nur auf die Einnahmen aus selbständiger Arbeit des Ehemannes beziehen sollte, weil nur dessen Einnahmen im Vermerk erwähnt waren und die Höhe der entsprechenden Einkünfte der Ehefrau nie im ungewissen war.
Betraf aber der Vorbehaltsvermerk nur die Einkünfte des Ehemannes aus selbständiger Arbeit, so bezog er sich --wie im Urteil in BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130-- unmittelbar nur auf eine Besteuerungsgrundlage und nicht, wie § 165 Abs.1 AO 1977 dies an sich vorschreibt, auf die festzusetzende Steuer. Dies wird indessen häufig, wenn nicht gar regelmäßig, so sein; denn mit der tatsächlichen Ungewißheit (über die Besteuerungsgrundlage) wird regelmäßig auch der Umfang der Auswirkungen auf die festzusetzende Steuer ungewiß sein, so daß die betragsmäßige Auswirkung nicht angegeben werden kann. Es reicht deshalb aus, wenn durch den Vorbehaltsvermerk jedenfalls mittelbar auch der Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen die Steuerfestsetzung abänderbar sein und damit die Bestandskraft durchbrochen werden soll. So war es hier. Denn da die Höhe der Einkünfte des Ehemannes aus selbständiger Arbeit ungewiß war und das FA sich ersichtlich im Hinblick hierauf die Abänderungsmöglichkeit vorbehalten wollte, konnte sich die Vorläufigkeit nur auf die auf diese Einkünfte entfallende Steuer beziehen. Dabei ist es im vorliegenden Streitfall unerheblich, ob die vom FA insoweit bereits festgesetzte, auf eine Bemessungsgrundlage von Einkünften aus selbständiger Arbeit in Höhe von 2 845 DM entfallende Steuer in jedem Fall (gewissermaßen als Mindestbetrag) festgesetzt werden sollte, oder ob das FA die Entstehung der Steuer auch insoweit als ungewiß ansah und deshalb auch eine Unterschreitung der vorläufig angesetzten Einkünfte aus selbständiger Arbeit für möglich hielt. Offenbleiben kann deshalb auch, ob eine solche Verfahrensweise des FA (Steuerfestsetzung trotz Ungewißheit) zulässig ist (vgl. dazu (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 165 AO 1977 Tz.6, m.w.N.). Denn jedenfalls wollte das FA erkennbar nur wegen der Ungewißheit über die Höhe der Einkünfte aus selbständiger Arbeit (des Ehemannes) die Steuer mit dem Vorläufigkeitsvermerk versehen, da die anderen Besteuerungsgrundlagen nach Auffassung der festsetzenden Behörde keiner weiteren Aufklärung bedurften. Für das FA bestand keine Veranlassung, wegen der Unsicherheit der Steuerentstehung hinsichtlich nur einer Besteuerungsgrundlage die Steuerfestsetzung auch für Änderungen bei anderen Besteuerungsgrundlagen offen zu halten.
Dies bedeutet, daß die Einkommensteuerfestsetzung für Änderungen bei der Besteuerungsgrundlage Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Ehemannes offenbleiben sollte, während Änderungen bei anderen Besteuerungsgrundlagen bzw. aus anderen Gründen von der Berücksichtigung nach § 165 Abs.2 Satz 1 AO 1977 ausgeschlossen sein sollten. Ob solchen Änderungen bis zur Höhe des im Ursprungsbescheid festgesetzten Einkommensteuerbetrags Rechnung getragen werden konnte, die Anerkennung der außergewöhnlichen Belastung in Höhe von 220 DM durch das FA also zu Recht erfolgt ist, hängt davon ab, ob § 351 Abs.1 AO 1977 anwendbar ist, wenn ein teilweise für vorläufig erklärter Bescheid geändert wird (dagegen z.B. Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4.Aufl., § 351 Anm.2). Die Frage kann im Streitfall offenbleiben, weil eine Änderung zum Nachteil des Klägers nicht möglich ist.
Entgegen der Auffassung des Klägers besteht keine Veranlassung, eine sachlich weitergehende Durchbrechung der Bestandskraft zuzulassen, wenn --wie hier-- hinsichtlich der ungewissen Besteuerungsgrundlage (im Streitfall: Einkünfte aus selbständiger Arbeit) im Ursprungsbescheid bereits ein bestimmter Betrag angesetzt worden ist (hier: 2 845 DM). Denn die Vorläufigkeit dieses Ansatzes hat nichts zu tun mit dem späteren Einwand aus einem ganz anderen Rechtsgrund. Dafür sollte die Bestandskraft nicht offengehalten werden, eben weil die anderen Rechtsgründe bereits abschließend geprüft waren.
Die Auffassung des Senats, daß eine im Hinblick auf eine (oder mehrere) Besteuerungsgrundlage(n) vorläufige Steuerfestsetzung nach dem erkennbaren Willen der Finanzbehörde nur für solche Einwendungen offengehalten werden soll, die sich auf die betreffende(n) Besteuerungsgrundlage(n) beziehen, der Berücksichtigung von Einwendungen wegen anderer Besteuerungsgrundlagen dagegen die materielle Bestandskraft der ursprünglichen Steuerfestsetzung entgegensteht, entspricht der überwiegend in der Literatur vertretenen Meinung (von Wallis in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9.Aufl., § 351 AO 1977 Rdnr.7 a; Tipke/Kruse, a.a.O., § 351 AO 1977 Rz.15; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8.Aufl., S.162; Macher, Steuer und Wirtschaft --StuW-- 1985, 33, 45). Demgegenüber wollen Haarmann (in Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr.1439) und Wismeth (Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1971, 29, 30) die Abänderung bis zur Höhe des ursprünglich festgesetzten Steuerbetrages abzüglich des Betrages zulassen, mit dem die vom Vorläufigkeitsvermerk betroffene Besteuerungsgrundlage im Ursprungsbescheid angesetzt worden ist. Diese nicht näher begründeten abweichenden Meinungen lassen nach Auffassung des Senats nicht nur den Willen der Finanzbehörde außer Betracht, sondern berücksichtigen auch nicht ausreichend, daß der Ansatz positiver Einzeleinkünfte auch die zumindest stillschweigende Ablehnung entsprechender negativer Einkünfte beinhaltet. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so wäre eine Untergrenze für die Berücksichtigung "anderer" Einwendungen kaum auszumachen.
Zu Unrecht hält der Kläger dem entgegen, daß die Finanzbehörde nach der Rechtsprechung ihre einem teilweise vorläufigen Bescheid zugrunde liegende Rechtsauffassung im endgültigen Bescheid ändern könne. Das ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Der Beschluß in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234 betrifft lediglich eine Änderung der Rechtsauffassung hinsichtlich einer für vorläufig erklärten Besteuerungsgrundlage. In jenem Fall hatte das FA seine Rechtsauffassung hinsichtlich der Abziehbarkeit von Betriebsausgaben geändert, die ihrerseits ausschließlich mit einer Erfindertätigkeit zusammenhingen, deretwegen der Vorläufigkeitsvermerk in den Einkommensteuerbescheid aufgenommen worden war. Die Auffassung des IV.Senats im Beschluß in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234 beruht insoweit auf der Annahme, daß die Veranlagung nicht nur wegen der Frage offengehalten werden sollte, ob es sich bei der Erfindertätigkeit um Liebhaberei handelte, sondern auch wegen anderer mit der Erfindertätigkeit zusammenhängenden Fragen, die sich erst stellten, wenn Liebhaberei endgültig verneint wurde (nachrangige Fragen).
Auch die zur Rechtslage unter der Geltung der Reichsabgabenordnung ergangene Rechtsprechung des BFH, nach der ein in vollem Umfang vorläufiger Bescheid noch mit allen Einwendungen angegriffen werden kann, steht der Rechtsauffassung des erkennenden Senats nicht entgegen. Eine solche nach der alten Rechtslage mögliche Steuerfestsetzung, die § 165 Abs.1 AO 1977 nicht mehr zuläßt, konnte unbeschränkt angefochten werden, weil die Vorläufigkeit ebenfalls nicht beschränkt war.
Der Rechtsauffassung des Senats stehen schließlich nicht die vom Kläger zutreffend dargelegten allgemeinen Grundsätze der Steuerfestsetzung und ihrer Anfechtung (Streitgegenstandsbegriff) entgegen. Denn § 165 AO 1977 ist eine Ausnahmevorschrift, die --abweichend vom Regelfall-- die Steuerfestsetzung zuläßt, obwohl die Besteuerungsgrundlagen noch nicht alle feststehen. Diese vorgezogene Möglichkeit der Steuerfestsetzung konnte der Gesetzgeber naturgemäß nur zulassen, wenn --ebenfalls abweichend vom Regelfall-- im Umfang und aus dem Grunde der Ungewißheit auch nach Eintritt der Bestandskraft und eingetretener Gewißheit der betreffenden Besteuerungsgrundlagen noch Änderungen erfolgen können.
Eine andere Auffassung würde die Bestandskraft in weiterem Umfang durchbrechen, als es zur Rechtfertigung des § 165 AO 1977 notwendig ist. Sie würde auch die Möglichkeit einer zeitgerechten Steuerfestsetzung, der diese Vorschrift gerade dienen soll, erheblich beeinträchtigen. Das zeigen nicht zuletzt die zur Zeit in großer Zahl im Hinblick auf die ausstehende Neuregelung des Kinderlastenausgleichs und/bzw. die nicht abgeschlossenen Verfahren vor dem BVerfG zur Höhe der Grundfreibeträge teilweise vorläufig ergehenden Steuerfestsetzungen. Die Bestandskraft all dieser Bescheide soll nur im Hinblick auf das künftige Tätigwerden des Gesetzgebers zum Kinderlastenausgleich und/bzw. die ausstehende Rechtsprechung des BVerfG zum steuerlich zu berücksichtigenden Existenzminimum offengehalten werden. Keineswegs ist beabsichtigt, die Abänderungsmöglichkeit wegen anderer, bereits abschließend geprüfter Besteuerungsgrundlagen offen zu halten.
Fundstellen
Haufe-Index 64161 |
BFH/NV 1992, 49 |
BStBl II 1992, 588 |
BFHE 167, 290 |
BFHE 1992, 290 |
DB 1992, 1460 (L) |
DStR 1992, 911 (KT) |
DStZ 1992, 507 (KT) |
HFR 1992, 385 (LT) |
StE 1992, 346 (K) |