Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Auslegung ehemaliger DDR-Rechtsnormen
Leitsatz (NV)
1. § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) ist als partielles Bundesrecht revisibel (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).
2. § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) ist eine Steuerrechtsnorm der ehemaligen DDR, deren Gesetzes- und Verordnungsbegriffe nicht ohne weiteres anhand bundesdeutschen Begriffsverständnisses ausgelegt werden können. Nach dem Steuerrecht der ehemaligen DDR hatte der Kommissionshändler einen eigenen Gewerbebetrieb inne.
3. Einem Kommissionshändler, der nach Kündigung des Kommissionshandelsvertrags seinen Betrieb fortführt, steht der Steuerabzugsbetrag nach § 9 Abs. 1 DBStÄndG nicht zu (Anschluß an BFH-Urteil vom 16. 3. 1994 I R 146/93 BFHE 175, 22, BStBl II 1994, 941).
Normenkette
DBStÄndG (DDR) § 9 Abs. 1; FGO § 118 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt eine Herrenboutique. Bis zum 30. Juni 1990 bestand ein Kommissionshandelsvertrag mit der Bezirkshandelsdirektion des volkseigenen Einzelhandels der Handelsorganisation -- HO --. Ab 1. Juli 1990 wandelte der Kläger das Geschäft in ein privates Einzelhandelsunternehmen um.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) erließ am 15. April 1992 den Bescheid über Steuern und Ausgleichszahlung für lohnpolitische Maßnahmen für 1990. Im Einspruchsverfahren beantragte der Kläger, ihm den Steuerabzugsbetrag nach § 9 Abs. 1 der Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Einkommen-, Körperschaft- und Vermögensteuer -- Steueränderungsgesetz -- vom 16. März 1990 (DDR) -- DBStÄndG (DDR) -- zu gewähren, da er mit der Umwandlung des Kommissionshandelsgeschäfts in ein privates Handelsunternehmen erstmalig einen selbständigen Gewerbebetrieb eröffnet habe. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben. Es führt im wesentlichen aus, der Kläger habe das Geschäft mit der Auflösung des Kommissionshandelsvertrags i. S. des § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) 1990 neu eröffnet; denn er sei nicht bereits in seiner Eigenschaft als Kommissionshändler Inhaber des Gewerbebetriebs gewesen. Das Gericht schließe sich insoweit der Rechtsauffassung des FG Leipzig in dessen Urteil vom 2. Juni 1993 2 K 20/93 (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1993, 809) an. Der Kläger habe unter Berücksichtigung der Umstände, die seine rechtliche und wirtschaftliche Stellung bestimmten, nicht in einem Maße Unternehmerinitiative entfalten können und Unternehmerrisiko tragen müssen, daß er als Unternehmer hätte bezeichnet werden können. Nach der staatlichen Auflage des Rates der Stadt X vom 10. Dezember 1986 habe der Kläger die versorgungspolitische Aufgabenstellung einzuhalten und Änderungen in der Versorgung, zum Sortiment, zu den Öffnungszeiten, Veränderungen in der Person des Gewerbeträgers u. a. vorher mit der Fachabteilung abzustimmen gehabt. In dem Kommissionshandelsvertrag sei ihm eine Handelsspanne vorgeschrieben gewesen.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR). Es verweist auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 16. März 1994 I R 146/93 (BFHE 175, 22, BStBl II 1994, 941) und trägt ergänzend vor, der Kläger habe seinen seit 1986 bestehenden Betrieb mit den wesentlichen Grundlagen fortgeführt. Die Herrenboutique werde in den gleichen Geschäftsräumen betrieben, der Mietvertrag sei unverändert fortbestehen geblieben und auch die Geschäftseinrichtung sei im Eigentum des Klägers verblieben. Nach dem Recht der DDR sei der Kommissionshändler selbständiger Gewerbetreibender gewesen und habe hinsichtlich der Besteuerung nicht den Bestimmungen der Verordnung über die Besteuerung des Arbeitseinkommens i. d. F. des Steueranpassungsgesetzes vom 22. Dezember 1952 (Gesetzblatt -- GBl -- Nr. 182 S. 1413), sondern über die Besteuerung der Kommissionshändler vom 24. Dezember 1959 und der 4. Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Besteuerung der Kommissionshändler vom 13. Februar 1980 unterlegen. Es sei entscheidungsunerheblich, daß der Kläger bei seiner Betriebseröffnung im Jahre 1986 keinen Steuerabzugsbetrag von 10 000 M/DDR erhalten habe.
Der Kläger macht im wesentlichen geltend, da § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) vom Gesetzgeber ausdrücklich als Bundesrecht übernommen worden sei, könne es nicht entscheidend darauf ankommen, wie und nach welchen Vorschriften er in der früheren DDR besteuert worden sei. Entscheidend sei vielmehr, ob er inhaltlich als Kommissionshändler vor dem 1. Juli 1990 eine Stellung innegehabt habe, die es rechtfertige, ihn schon vor diesem Zeitpunkt als Inhaber der Herrenboutique anzusehen. Dies sei zu verneinen, weil er lediglich ein verlängerter Arm der HO gewesen sei, deren Weisungen er zu folgen gehabt habe. Ihm seien Umsatz und Handelsspanne verbindlich vorgeschrieben gewesen; er habe mithin nicht eigenverantwortlich unternehmerisch handeln können. Darüber hinaus habe er aufgrund der staatlichen Auflage vom 10. Dezember 1986 auch nicht freiwillig handeln können; denn ohne Abstimmung mit der Fachabteilung habe er nichts selber entscheiden können. Aufgrund der Auflage vom 10. Dezember 1986 habe er vor dem 1. Juli 1990 eine unselbständige Verkaufs- und Zahlstelle der in Art und Menge nach staatlichen Vorgaben produzierten Waren verwaltet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Entscheidung in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Zu Unrecht hat das FG dem Kläger den Steuerabzugsbetrag gemäß § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) gewährt.
1. § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) ist als partielles Bundesrecht revisibel (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Art. 8 des Einigungsvertrages (EinigVtr) i. V. m. Anlage I Kap. IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14 Abs. 1 bestimmt, daß das Recht der Besitz- und Verkehrsteuern der ehemaligen DDR und damit auch die DBStÄndG der DDR auf den Veranlagungszeitraum 1990 weiter anzuwenden ist. Nach Satz 1 der genannten Vorschrift im EinigVtr trat das Recht der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) u. a. auf dem Gebiet des Rechts der Besitz- und Verkehrsteuern einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer (erst) am 1. Januar 1991 in Kraft. Für die Steuern, die vor dem 1. Januar 1991 entstanden, war nach Satz 2 der Regelung das bis zum 31. Dezember 1990 im Beitrittsgebiet geltende Recht weiter anzuwenden (BFH-Urteile vom 15. September 1994 XI R 20/93, BFHE 176, 130, und vom 27. Oktober 1994 I R 107/93, BFHE 176, 529, BStBl II 1995, 403).
2. Gemäß § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) wird bei Neueröffnung eines Handwerks-, Handels- oder Gewerbebetriebs dem Inhaber eine einmalige Steuerbefreiung für zwei Jahre höchstens bis 10 000 Mark gewährt. Dem Kläger steht der Steuerabzugsbetrag nicht zu, weil er das Einzelhandelsgeschäft nicht neu eröffnet hat. Er betrieb es als Kommissionshändler seit 1986.
Entgegen der Auffassung des FG und des Klägers ist es für die Beurteilung, ob bereits ein eigener Betrieb bestand, ohne Bedeutung, ob die Stellung eines Kommissionshändlers der eines eigenständigen Unternehmers im Sinne des bundesdeutschen Rechtsverständnisses entsprach. Maßgebend ist vielmehr die Sicht des Steuerrechts der ehemaligen DDR. Denn § 9 Abs. 1 DBStÄndG (DDR) ist eine Steuerrechtsnorm der ehemaligen DDR, deren Gesetzes- und Verordnungsbegriffe nicht ohne weiteres anhand bundesdeutschen Begriffsverständnisses ausgelegt werden können. Nach dem Steuerrecht der ehemaligen DDR hatte der Kommissionshändler einen eigenen Gewerbebetrieb inne. Der Senat verweist zur weiteren Begründung auf das Urteil des BFH in BFHE 175, 22, BStBl II 1994, 941, durch das der I. Senat des BFH das von der Vorinstanz in Bezug genommene Urteil des FG Leipzig in EFG 1993, 809 wegen fehlerhafter Rechtsanwendung aufgehoben hat.
Daß der Kläger nach dem Rechtsverständnis der ehemaligen DDR Gewerbetreibender war, ergibt sich auch aus der staatlichen Auflage des Rates der Stadt X vom 10. Dezember 1986 zur Erteilung der Gewerbegenehmigung. Die Auflage beruht auf § 2 der Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Förderung des Handwerks bei Dienst- und Reparaturleistungen sowie die Regelung der privaten Gewerbetätigkeit (GBl I Nr. 36). Darauf, ob die in der Auflage enthaltenen Einschränkungen nach bundesdeutschem Steuerrechtsverständnis das Unternehmerrisiko und die Unternehmerinitiative des Klägers in Frage stellen, kommt es nicht an.
Da der Kläger seinen eigenen Gewerbebetrieb fortführte, hat das FA ihm zu Recht den Steuerabzugsbetrag für die Neueröffnung eines Betriebs versagt. Die Klage ist mithin abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 420954 |
BFH/NV 1996, 128 |