Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonstiges Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Der IV. Senat schließt sich der Entscheidung des I. Senats I 101/60 S vom 9. Januar 1962 (BStBl 1962 III S. 238, Slg. Bd. 74 S. 641) an, wonach die Landesfinanzbehörden hinsichtlich der Gewerbesteuer zu Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO nicht befugt sind, wenn die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer durch Landesrecht den Gemeinden übertragen ist. Der IV. Senat ist mit dem I. Senat auch der Auffassung, daß dieser Grundsatz auch auf die Verwaltungsanordnung der Bundesregierung betreffend Teilerlaß der Gewerbesteuer bei Betrieben von Vertriebenen, Flüchtlingen und Verfolgten sowie von Kriegssachbeschädigten und Evakuierten vom 21. Januar 1958 (Bundesanzeiger 1958 Nr. 17, BStBl 1958 I S. 24) anzuwenden ist.
Legt der Steuerpflichtige nachträglich die Zustimmung der Gemeinde zur Berücksichtigung von Billigkeitsmaßnahmen bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags oder eine entsprechende rechtskräftige Entscheidung eines Verwaltungsgerichts vor, so ist das Finanzamt auf Antrag des Steuerpflichtigen unabhängig von der Rechtskraft des Gewerbesteuermeßbetragsbescheids verpflichtet, diesen Bescheid durch einen neuen, die Billigkeitsmaßnahme berücksichtigenden Bescheid zu ersetzen (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs I 129/59 S vom 25. Mai 1962, BStBl 1962 III S. 497).
GG Art. 108 Abs. 3; BFHG § 1; AO §§ 131 Abs. 1, 3 und 5, 237, 252; StAnpG § 4 Abs. 3 Ziff. 2; WvGO
Normenkette
GG Art. 108 Abs. 3; BFHG § 1; AO § 131 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, 5, §§ 237, 230, 252, 239; FGO § 124; StAnpG § 4 Abs. 3 Ziff. 2; VwGO § 40/1
Tatbestand
Der Steuerpflichtige betreibt einen Tabakwarengroßhandel, zu dessen Einrichtung und Vergrößerung er als Vertriebener auch im Streitjahr 1959 größere Kredite in Anspruch genommen hat. Der Einheitswert des gewerblichen Betriebes, der auf den letzten Feststellungszeitpunkt vor dem Ende des Erhebungszeitraums festgestellt worden ist (1957), betrug 22.000 DM. Die Dauerschulden an diesem Stichtag beliefen sich auf über 50 v. H. des oben angegebenen Einheitswertes.
Wie in den Gewerbesteuererklärungen der Vorjahre beantragte der Steuerpflichtige auch in der Gewerbesteuererklärung für 1959, bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags für den vorgenannten Zeitraum die Dauerschulden und die Dauerschuldzinsen nach der Verwaltungsanordnung betreffend Teilerlaß der Gewerbesteuer bei Betrieben von Vertriebenen, Flüchtlingen und Verfolgten sowie von Kriegssachgeschädigten und Evakuierten vom 21. Januar 1958 (BStBl 1958 I S. 24) - Verwaltungsanordnung (VAO) - nur mit 40 v. H. hinzuzurechnen.
Das Finanzamt lehnte im Gegensatz zu den Vorjahren den Antrag des Steuerpflichtigen im Gewerbesteuermeßbetragsbescheid vom 8. Mai 1961 ab und führte zur Begründung an, die zuständige Stadtgemeinde habe ihre Zustimmung zu der beantragten Billigkeitsmaßnahme nicht erteilt.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde blieb ohne Erfolg. In ihrer Beschwerdeentscheidung führte die Oberfinanzdirektion aus, die beantragte Billigkeitsmaßnahme könne nur im Einvernehmen mit der hebeberechtigten Gemeinde gewährt werden.
Die Berufung des Steuerpflichtigen hatte Erfolg. Das Finanzgericht ging davon aus, daß im Falle der Verweigerung der Zustimmung durch die Gemeindebehörde nicht nur die Entscheidung der Gemeindebehörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren angreifbar sei. Vielmehr liege auch eine selbständige, mit den Rechtsmitteln der AO (ß 237 AO) angreifbare Entscheidung des Finanzamts vor. Das Finanzgericht halte sich hiernach für zuständig zur Entscheidung über die mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden. Die Gemeinde habe die Zustimmung zu Unrecht versagt. Die VAO bestimme ganz allgemein, daß die Hinzurechnungen nur mit 40 v. H. vorzunehmen "sind". Da eine andere Entscheidung nicht möglich sei und jede andere begriffsnotwendig auf einem Ermessensfehler beruhen müsse, sei der Gewerbesteuermeßbetrag durch das Finanzgericht zu ändern.
Mit der Rb. macht die Oberfinanzdirektion unter anderem geltend, wenn die Entscheidung der Finanzverwaltungsbehörden über die Versagung der Billigkeitsmaßnahme vom Finanzgericht auf eine Ermessensverletzung hin überprüft werden könne, folge daraus nicht, daß damit auch die Entscheidung der hebeberechtigten Gemeinde der Nachprüfung durch das Finanzgericht unterliege. Die Finanzverwaltung habe nach den angegebenen Weisungen die Ermessensausübung der Gemeinde ihrem Inhalt nach nicht in ihren Entscheidungswillen aufnehmen können, nachdem die hebeberechtigte Gemeinde ihre Zustimmung versagt habe.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist begründet.
Zu den Fragen, die für die Entscheidung im vorliegenden Falle von maßgeblicher Bedeutung sind, hat der I. Senat des Bundesfinanzhofs in dem Urteil I 101/60 S vom 9. Januar 1962 (BStBl 1962 III S. 238, Slg. Bd. 74 S. 641) eingehend Stellung genommen. Nach diesem Urteil, dem der erkennende Senat beitritt, muß folgendes gelten.
Nach dem Wortlaut des § 131 Abs. 1 Satz 2 AO, der die Nichtberücksichtigung einzelner Besteuerungsgrundlagen bei der Festsetzung der Steuer vorsieht, sind bei der Gewerbesteuer die Landesfinanzbehörden zu Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO nicht befugt, wenn die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer durch Landesrecht den Gemeinden übertragen ist. Die letztere Voraussetzung ist im Streitfall gegeben.
Verfahrensrechtlich bestehen keine Bedenken, wenn ein Finanzamt den Gewerbesteuermeßbetrag niedriger festsetzt, nachdem die zur Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer befugte Gemeinde einen Billigkeitserlaß der Gewerbesteuer in der Weise gewährte, daß sie sich mit einer durch Nichtberücksichtigung einzelner Besteuerungsgrundlagen bewirkten niedrigeren Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags durch das Finanzamt einverstanden erklärte. Im vorliegenden Falle hat die zuständige Gemeinde jedoch ihre Zustimmung nicht erklärt.
Es braucht nicht mehr erörtert zu werden, ob die Gemeinde die Verfügung über den Billigkeitserlaß dem Steuerpflichtigen selbst bekanntgeben muß oder ob sie sich zur Bekanntgabe des Finanzamts als Erklärungsboten bedienen kann. In beiden Fällen handelt es sich um eine Maßnahme der Gemeinde, gegen die nicht die Finanzgerichte (vgl. § 1 Satz 2 des Gesetzes über den Bundesfinanzhof und neuerdings § 228 AO in der Fassung des Art. 17 Nr. 7 des Steueränderungsgesetzes 1961 vom 13. Juli 1961, BGBl 1961 I S. 891, BStBl 1961 I S. 444, § 3 Abs. 3 AO), sondern nur die Verwaltungsgerichte angerufen werden können (ß 40 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung). Rechtsstreitigkeiten über die Gewerbesteuer betreffende Maßnahmen von Gemeindebehörden sind nicht ausdrücklich durch Gesetz den Finanzgerichten zugewiesen. Im übrigen wird auf die Ausführungen in der angegebenen Entscheidung Bezug genommen.
Nach alledem führt die Rb. der Oberfinanzdirektion zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die diese Grundsätze nicht beachtet hat.
Die Entscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden, die die Gewährung der beantragten Billigkeitsmaßnahme abgelehnt haben, sind zwar im Ergebnis richtig. Dabei ist jedoch folgendes zu beachten. Die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion geht davon aus, daß dem Steuerpflichtigen gegen die Ablehnung der Anwendung der VAO die Beschwerde zustehe. Das ist jedoch nicht der Fall. Demgemäß mußte die Beschwerde des Steuerpflichtigen unter Aufhebung der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion als unzulässig verworfen werden.
Der Senat ist der Auffassung, daß der Gewerbesteuermeßbetragsbescheid gemäß § 4 Abs. 3 Ziff. 2 des Steueranpassungsgesetzes auf Antrag zu ändern ist, wenn der Steuerpflichtige nachträglich die Zustimmung der Gemeinde zur Berücksichtigung von Billigkeitsmaßnahmen bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags erreicht oder eine entsprechende rechtskräftige Entscheidung eines Verwaltungsgerichts vorlegt. Insoweit müssen die Grundsätze entsprechend gelten, die im Urteil des Bundesfinanzhofs I 129/59 S vom 25. Mai 1962 (BStBl 1962 III S. 497) aufgestellt worden sind.
Da das Rechtsmittel des Steuerpflichtigen im endgültigen Ergebnis keinen Erfolg hat, fallen ihm die Kosten des gesamten Rechtsmittelverfahrens zur Last (ß 307 Abs. 1 Satz 1 AO). Es erschien jedoch angebracht, sämtliche Rechtsmittelgebühren und Auslagen der Rechtsmittelbehörden gemäß § 314 AO nicht zu erheben.
Fundstellen
Haufe-Index 410645 |
BStBl III 1963, 143 |
BFHE 1963, 390 |
BFHE 76, 390 |