Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugang eines Verwaltungsakts innerhalb der Drei-Tage-Frist
Leitsatz (amtlich)
Vereinbart ein als Prozessbevollmächtigter tätiger Rechtsanwalt mit einem in seinem Zustellbezirk eingesetzten Postzusteller, an Samstagen die an sein Büro adressierten Postsendungen wieder mitzunehmen, falls das Büro nicht besetzt ist, und sie erst am darauffolgenden Werktag auszuliefern, kann er sich als eine geschäftlich für Dritte Rechtsangelegenheiten wahrnehmende Person nicht darauf berufen, ihm sei eine mit einfachem Brief bekannt gegebene Einspruchsentscheidung nicht innerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 zugegangen.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1, § 366 S. 2; FGO § 56 Abs. 1
Verfahrensgang
FG des Landes Sachsen-Anhalt (Dok.-Nr. 0144036; EFG 1997, 847) |
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt in X (Sachsen-Anhalt) eine Bautischlerei in der Rechtsform eines Einzelunternehmens. Unter dem 19. Mai 1994 beantragte er bei dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ―FA―) eine erhöhte Investitionszulage von 20 v.H. für neun Wirtschaftsgüter mit Anschaffungskosten von insgesamt 999 403 DM, darunter auch Anzahlungen auf eine Y-Fensterfertigungsstraße Typ DSTH mit Anschaffungskosten von 850 670 DM (Nr. 8 des IZ-Antrages) und ein Tintenspritzgerät mit Anschaffungskosten von 65 000 DM (Nr. 9 des IZ-Antrages). Der Kläger gab als Anschaffungsdatum für beide Wirtschaftsgüter jeweils den 21. Dezember 1993 an.
Im Rahmen der Überprüfung des Antrags durch eine Investitionszulagen-Außenprüfung stellte der Prüfer fest (vgl. Bericht vom 16. August 1994), dass der Kläger die Fertigungsstraße bereits am 12. Oktober 1992 in Auftrag gegeben und die Firma Y diesen Auftrag mit Schreiben vom 11. November 1992 bestätigt hatte. Die Vertragspartner hatten vereinbart, dass der Auftrag "unter dem Vorbehalt der Finanzierungszusage dieses Objektes und der Erteilung der beantragten Baugenehmigung" gelten solle. Als Lieferzeit war Ende Juni 1993 bzw. ein Zeitraum von ca. drei bis vier Monaten nach Erhalt der Anzahlung und Bankgarantie, die Montage für den Juli 1993 und der Produktionsbeginn für August 1993 vereinbart worden. Der Prüfer beurteilte diese Vereinbarung als verbindliche Bestellung, so dass lediglich eine normale Investitionszulage in Höhe von 8 v.H. zu gewähren sei. Dementsprechend setzte das FA die Investitionszulage mit Bescheid vom 14. September 1994 auf 89 987 DM fest. Hiergegen legte der Kläger Einspruch mit der Begründung ein, erst im Jahr 1993, nämlich am 17. Dezember 1993, sei der Auftrag verbindlich bestätigt worden.
Das FA wies den Einspruch unter Aufhebung des Nachprüfungsvorbehaltes als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 12. April 1995). Es gab die Einspruchsentscheidung nach Aktenlage dem Prozessbevollmächtigten unter dessen Büroanschrift mit einfachem Brief durch Aufgabe zur Post am 12. April 1995 bekannt. Der Prozessbevollmächtigte erhob am 18. Mai 1995 per Telefax mit auf den 17. Mai 1995 datiertem Schriftsatz beim Finanzgericht (FG) Klage.
Auf die Rüge des FA (vgl. Klageerwiderung vom 6. September 1995), dass die Klage verspätet erhoben worden sei, machte der Prozessbevollmächtigte geltend, die Einspruchsentscheidung sei ihm erst am 18. April 1995 zugegangen. Dieser Zeitpunkt ergebe sich aufgrund der Osterfeiertage vom 14. bis 17. April 1995. Die Einspruchsentscheidung sei auch nicht am Samstag, dem 15. April 1995, zugegangen. Die Post werde ihm regelmäßig in der Weise zugestellt, dass der Postzusteller die Briefe direkt in seinen Büroräumen abgebe. Am Samstag werde nicht zugestellt, weil das Büro nicht regelmäßig zu den Zustellzeiten besetzt sei.
Der Prozessbevollmächtigte hat jeweils in Kopie die mit seinem Eingangsstempel vom 18. April 1995 versehene Einspruchsentscheidung und einen Auszug aus seinem Fristenkontrollbuch vorgelegt, in dem als Eingangsdatum der Einspruchsentscheidung der 18. April 1995 eingetragen ist. Auf Anfrage des Berichterstatters beim FG hat die Deutsche Post AG ―Niederlassung Briefpost Hannover― mit Schreiben vom 30. August 1996 mitgeteilt, dass normalerweise Briefpost auch samstags für den Prozessbevollmächtigten zugestellt werde. Nur nach persönlicher Absprache mit "dem Empfänger" werde samstags keine Post ausgeliefert. Der Kunde erhalte sie dann am darauf folgenden Montag. Wünschten Firmen bzw. Praxen, ihre Post erst am Montag auszuliefern, werde diesem Wunsch Rechnung getragen. Wann ein am 12. April 1996 (gemeint ist 1995) eingelieferter gewöhnlicher Brief an (den Prozessbevollmächtigten) Dr. B dort ausgeliefert worden sei, könne nicht exakt beantwortet werden. Aufzeichnungen o.Ä. über die Zustellung gewöhnlicher Briefe würden nicht geführt.
In der mündlichen Verhandlung vor dem FG vom 21. Januar 1997 hat die Unterbevollmächtigte des Prozessvertreters erklärt, mit dem für das Büro des Prozessbevollmächtigten zuständigen Briefzusteller bestehe eine dahingehende Absprache, die Post wieder mitzunehmen, falls das Büro nicht besetzt sei. Es sei vereinbart, die Post nicht in den vor dem Haus stehenden Briefkasten einzuwerfen.
Das FG gab der Klage ―mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 847 veröffentlichtem Urteil― statt. Es führte im wesentlichen aus, die Klage sei gemäß § 47 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) fristgerecht erhoben worden. Das FG sehe als Aufgabedatum aufgrund der in den vom FA vorgelegten Akten befindlichen Vermerke den 12. April 1995 als nachgewiesen an. Die Zugangsvermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) ―für den 15. April 1995― müsse der Empfänger, sofern er behaupte, die Sendung erst später erhalten zu haben, durch einen substantiierten Vortrag erschüttern. Jedoch dürften an den Empfänger keine Anforderungen gestellt werden, welche die die Behörde treffende Beweislast auf den Empfänger verlagerten. Der Einwand des Prozessbevollmächtigten, er habe die Sendung erst am Dienstag nach Ostern, dem 18. April 1995, erhalten, begründe freilich nicht schon deshalb Zweifel am Zugang innerhalb des Drei-Tages-Zeitraums, weil der dritte Tag auf den Karsamstag gefallen sei. Jedoch habe der Senat aufgrund der Vereinbarung zwischen dem Prozessbevollmächtigten und dem Zustellungsbeamten Zweifel am fristgerechten Zugang. Die vom Prozessbevollmächtigten behauptete konkrete Zustellungspraxis sei nach der Auskunft der Deutschen Post AG vom 30. August 1996 und auch aufgrund der Erklärung der Unterbevollmächtigten glaubhaft. Es sei nicht ausgeschlossen, dass der Postbeamte die nach § 11 Abs. 1 der Postdienstverordnung ―PostV― (BGBl I 1994, 336) nicht formbedürftige Absprache nicht aktenkundig gemacht habe. Jedenfalls könne der Wirksamkeit einer solchen Absprache zwischen Empfänger und Zusteller bzw. dem Vertrauen des Empfängers auf deren Wirksamkeit nicht entgegengehalten werden, dass der Zustellungsbeamte damit möglicherweise gegen postinterne Anweisungen zur Aufzeichnung entsprechender Zustellungsvereinbarungen verstoßen habe. Zweifel an der Zugangsvermutung könnten allerdings nur erweckt werden, wenn Tatsachen vorgebracht würden, die es als ausgeschlossen erscheinen ließen, dass auch nur an einem Tage innerhalb des Drei-Tages-Zeitraums eine Bekanntgabe als möglich in Betracht komme. Im Streitfall bestünden derartige Zweifel. Ein Zugang am ersten Tag nach Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post erscheine zweifelhaft. Am Gründonnerstag sei das Büro des Prozessbevollmächtigten besetzt gewesen. Ausgeschlossen sei ein Zugang am Karfreitag, dem 14. April 1995, an dem keine Post ausgetragen worden sei. Ein Zugang am Samstag, dem 15. April 1995, sei aber angesichts der vom Prozessbevollmächtigten glaubhaft vorgetragenen Zustellungspraxis zweifelhaft. Dem Prozessbevollmächtigten könne insoweit nicht entgegengehalten werden, die private Vereinbarung habe keinen Einfluss auf den Ablauf der Drei-Tages-Frist (so aber das Hessische FG im Urteil vom 26. Oktober 1994 2 K 2298/94, EFG 1996, 791). Es handele sich um eine postrechtlich zulässige Vereinbarung, der keine den Kläger belastende Wirkung beizumessen sei. Wähle das FA die ―einfachste― Bekanntgabeart der Übersendung durch einfachen Brief, so trage es insoweit das Risiko der Bekanntgabeart und des Bekanntgabezeitpunkts. Es trage auch das Risiko für vom Regelfall der Zustellung abweichende Vereinbarungen (vgl. § 9 Abs. 1 PostV; Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 5. Dezember 1974 V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286). Wolle das FA das Risiko und insbesondere Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Zeitpunkts der Bekanntgabe vermeiden, so stehe es ihm frei, die Zustellung nach § 122 Abs. 5 AO 1977 anzuordnen. Angesichts der vorstehenden Umstände könne offen bleiben, ob sich Zweifel auch bereits allein aus dem Eingangsstempel auf der dem Prozessbevollmächtigten zugegangenen Einspruchsentscheidung und aus dem Eintrag in das in Kopie vorgelegte Fristenkontrollbuch ergeben könnten. Zumindest belegten diese Umstände ergänzend die Glaubhaftigkeit der vorgetragenen Zustellungspraxis. Das FA habe den danach ihm obliegenden Beweis für einen früheren Zugang der Einspruchsentscheidung nicht erbracht. Die Klage sei auch begründet; denn nach den vom BFH entwickelten Grundsätzen zu dem für den Streitfall maßgebenden Begriff des Bestellens im Investitionszulagenrecht seien die Fensterfertigungsstraße und das Tintenspritzgerät erst im Jahr 1993 bestellt worden.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts, und zwar des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977, und hilfsweise des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Satz 4 des Investitionszulagengesetzes 1993 (InvZulG 1993).
Zu Unrecht habe das FG wegen fehlender Übergabe der Einspruchsentscheidung an den Prozessbevollmächtigten durch den Postzusteller am 15. April 1995 einen Zugang verneint und deshalb die Klage nicht bereits als unzulässig abgewiesen. Es lege den Begriff des Zugangs sehr eng im Sinne einer körperlichen Übergabe des Schriftstückes aus und bewerte die subjektiven Umstände im Streitfall zu hoch. Nach ständiger Rechtsprechung sei ein Schriftstück bereits dann zugegangen, wenn es derart in den Machtbereich des Empfängers gelange, dass dieser unter Ausschluss unbefugter Dritter von dem Schriftstück Kenntnis nehmen und die Kenntnisnahme nach den Gepflogenheiten auch erwartet werden könne (vgl. BFH-Urteil vom 13. Oktober 1994 IV R 100/93, BFHE 176, 510, BStBl II 1995, 484). Der BFH habe wiederholt zu Sonderformen der Zustellung durch die Bundespost entschieden, z.B. durch Urteil vom 26. Juni 1996 X R 97/95 (BFH/NV 1997, 90), vom 7. Februar 1962 II 137/60 U (BFHE 75, 628, BStBl III 1962, 496), ferner Urteil des FG Düsseldorf vom 18. September 1970 I 179/69 L (EFG 1971, 210). Diesen Entscheidungen liege der Gedanke zugrunde, dass ein Zugang beim Steuerpflichtigen auch bei besonderen Abreden mit der Post stets dann gegeben sei, wenn dem Steuerpflichtigen objektiv nicht der Zugriff auf das Schriftstück verwehrt gewesen sei. Hingegen komme es nicht auf die tatsächliche körperliche Inbesitznahme an. Allen diesen Zustellungsformen sei gemeinsam, dass sie durch individuelle, bewusste Maßnahmen des Steuerpflichtigen veranlasst werden könnten, was jedoch für den Zugang grundsätzlich unerheblich sei. Folglich müsse auch die hier gegebene, rechtlich nicht zu beanstandende Abrede für den Zugang unerheblich sein. Durch diese Abrede verfüge der Prozessbevollmächtigte nämlich bereits über in seinen Machtbereich gelangte Schriftstücke. Durch die Mitnahme der Post durch den Boten bis zum nächsten Werktag sei auch ein Ausschluss unbefugter Dritter gewährleistet. Der Prozessbevollmächtigte sei nicht vollständig durch diese Maßnahme an einem Zugriff auf die Schriftstücke gehindert. Sie würden im Postamt gelagert und ihre Herausgabe könne innerhalb der Öffnungszeiten des Zustellamtes vom Prozessbevollmächtigten verlangt werden.
Bei einer anderen Auslegung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 verliere die Bekanntgabefiktion erheblich an Bedeutung und der Vereinfachungsgedanke für den Bekanntgabezeitraum wäre ausgehöhlt. Der Steuerpflichtige könne nämlich vermittels einfacher Absprachen mit dem Postboten die Bekanntgabe beliebig steuern und verschieben und damit die Rechtsfolgen einseitig verändern, obwohl in diesen speziellen Fällen ein Zugang und damit die Bekanntgabe objektiv möglich und zumutbar sei. Das Gesetz lasse die Bekanntgabefiktion nicht eintreten, wenn Zweifel am tatsächlichen Zugang eines Verwaltungsaktes bestünden. Dadurch solle der Bürger vor rechtlichen Nachteilen geschützt werden, falls die Bekanntgabe durch Umstände beeinflusst werde, auf die er objektiv keinen Einfluss habe. Diese rechtliche Sicht teile auch das Hessische FG in seinem Urteil in EFG 1996, 791 (Revision IX R 79/95).
Hilfsweise rügt das FA, das FG habe die Gesamtumstände der Bestellung der Fertigungsstraße unzutreffend gewürdigt und deshalb in das Jahr 1993 verlegt.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hat zur Rechtzeitigkeit der Klageerhebung insbesondere geltend gemacht, dass für die Erschütterung der Zugangsvermutung in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 lediglich begründete Zweifel vorgetragen werden müssten, die auf einen späteren Zugang hindeuteten. Dazu habe das FG festgestellt, dass sich derartige Zweifel bereits aus dem auf der Einspruchsentscheidung angebrachten Eingangsstempel des (damaligen) Bevollmächtigten sowie aus der vorgelegten Kopie des Fristenkontrollbuches ergäben.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Abweisung der Klage als unzulässig.
Entgegen der Rechtsansicht des FG hat der Kläger die Klagefrist versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung dieser gesetzlichen Frist kommt nicht in Betracht.
1. a) Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat. Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 Satz 2 i.V.m. § 122 Abs. 2 AO 1977). Sie gilt nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zuganges nachzuweisen. Der Drei-Tages-Zeitraum gilt auch, wenn der dritte Tag auf einen Samstag fällt (vgl. BFH-Urteile vom 13. März 1991 I R 39/90, BFH/NV 1992, 146, 147, und vom 5. März 1986 II R 5/84, BFHE 146, 27, BStBl II 1986, 462, unter Ziff. II. 1. c der Gründe; jeweils zum Fristablauf an einem Sonntag).
Bestreitet der Empfänger, den Verwaltungsakt innerhalb der Drei-Tages-Frist erhalten zu haben, so hat er substantiiert Tatsachen vorzutragen, die schlüssig auf einen späteren Zugang hindeuten und deshalb Zweifel an der Zugangsvermutung begründen. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so hat das FG den Sachverhalt unter Berücksichtigung des Sachvortrags des Steuerpflichtigen aufzuklären und die festgestellten und unstreitigen Umstände im Wege freier Beweiswürdigung gegeneinander abzuwägen (vgl. BFH-Urteile vom 17. Juni 1997 IX R 79/95, BFH/NV 1997, 828, und vom 8. Februar 1996 III R 127/93, BFH/NV 1996, 850, m.w.N.).
b) Unter Zugang i.S. des § 122 Abs. 2 AO 1977 wird nicht allein die tatsächliche Kenntnisnahme des Schriftstückes verstanden. Vielmehr ist dieses bereits dann zugegangen, wenn es derart in den Machtbereich des Empfängers (Inhaltsadressaten) gelangt ist, dass dieser unter Ausschluss unbefugter Dritter von dem Schriftstück Kenntnis nehmen und diese Kenntnisnahme nach den allgemeinen Gepflogenheiten auch von ihm erwartet werden kann (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1997, 90, 91; in BFHE 176, 510, BStBl II 1995, 484, unter Ziff. 1. a aa der Gründe, m.w.N.; vom 14. März 1990 X R 104/88, BFHE 160, 207, BStBl II 1990, 612, 615, und vom 14. August 1975 IV R 150/71, BFHE 119, 201, BStBl II 1976, 764). Diese Voraussetzungen sind regelmäßig erfüllt, wenn die Sendung entsprechend den postalischen Vorschriften zugestellt worden ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286, Nr. 2., 2. Absatz der Entscheidungsgründe).
c) Die Rechtsprechung hat in diesem Sinne einen Zugang auch bejaht, wenn z.B. die betreffende Postsendung innerhalb der Drei-Tages-Frist in ein vom Empfänger unterhaltenes Postfach einsortiert worden ist und dieses zu diesem Zeitpunkt normalerweise auch noch geleert zu werden pflegt. Ob das Postfach tatsächlich an diesem Tag noch geleert wird, ist hingegen unerheblich. Ebenso hat es die Rechtsprechung genügen lassen, wenn das Schriftstück innerhalb dieser Frist bei der Post aufgrund einer vereinbarten Lagerung nach § 58 Abs. 4 der Postordnung (PostO) zur Abholung bereitgehalten wird, unabhängig davon, ob der Empfänger tatsächlich von der Möglichkeit zur Abholung Gebrauch gemacht hat (BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 90; vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 12. August 1998 IV B 145/97, BFH/NV 1999, 286, m.w.N., und vom 28. Oktober 1998 X B 100/98, BFH/NV 1999, 588; ebenso Urteil des FG Düsseldorf in EFG 1971, 210, 211, rkr., wenn der Empfänger postlagernd zugesandter Briefe dem Postamt gegenüber die Anordnung erteilt, die für ihn eingehenden Sendungen bis zur Abholung durch ihn bei der Post zu lagern).
d) Insbesondere Personen, die kraft ihrer Berufsstellung verpflichtet sind, für Dritte Rechtsangelegenheiten wahrzunehmen, wie Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, oder die nach der Art ihrer Geschäfte regelmäßig mit dem Eingang fristgebundener Erklärungen rechnen müssen, wie dies bei Wirtschaftsbetrieben der Fall ist, können sich nicht auf einen verspäteten Zugang berufen, wenn sie diese Verspätung durch ihr Verhalten verursacht haben (vgl. BFH/NV 1999, 286, 287, wonach die unterlassene Leerung eines Postfachs an Samstagen durch Rechtsanwälte wegen fehlenden Sekretariatspersonals unerheblich ist; ferner BFH-Urteil in BFHE 75, 628, BStBl III 1962, 496; s. auch Urteil vom 7. Oktober 1976 VIII R 76/72, BFHE 120, 142, BStBl II 1977, 133, 135, wonach es unerheblich ist, dass am Pfingstsamstag in dem Betrieb nicht gearbeitet wurde). In gleicher Weise hat die Rechtsprechung auch bezüglich anderer im Geschäftsleben tätiger Empfänger entschieden (vgl. Urteil des Oberlandesgerichts ―OLG― Celle vom 9. April 1974 11 U 156/73, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1974, 1386, 1387, hinsichtlich solcher Personen, die regelmäßig mit dem Eingang fristgebundener Erklärungen rechnen müssen). Derartige Personen müssen dafür sorgen, dass ihnen Erklärungen während der Geschäftszeiten jederzeit zugehen können (s. auch Urteil des Verwaltungsgerichtshofs ―VGH― Kassel vom 11. Januar 1968 V OE 123/67, NJW 1968, 1979, 1980). Grundsätzlich besteht nämlich auch dann die Möglichkeit zur Kenntnisnahme (vgl. BFH-Urteil in BFHE 119, 201, BStBl II 1976, 764, unter Ziff. 1. d). Ein Rechtsanwalt z.B. muss dafür sorgen, dass sämtliche seine Mandanten betreffenden amtlichen Schriftstücke rechtzeitig abgeholt werden, sofern und sobald dies möglich ist (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 286, 287; Beschluss des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 4. Oktober 1990 V ZB 7/90, NJW 1991, 109; ferner Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 122 Tz. 2, für im Geschäftsleben stehende Personen). Derartige Personen handeln auf eigenes Risiko, wenn sie es unterlassen, ihr Postfach zu leeren (BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 286, 287). Ebenso hat der BFH im Urteil vom 23. September 1959 VII 59/59 U (BFHE 69, 529, BStBl III 1959, 456, 457) unter Hinweis auf eine Entscheidung des Reichsgerichts vom 3. Mai 1934 IV 17/34 (RGZ 144, 289, 293) ausgeführt, wer seine Post stets postlagernd in Empfang nehme, müsse die Folgen tragen, die sich aus einer unregelmäßigen oder verspäteten Abholung der Post ergäben. Er könne sich nicht darauf berufen, die Sendung sei ihm erst mit der Abholung zugegangen. Andernfalls hätte der Empfänger postlagernder Sendungen nämlich die Möglichkeit, durch Verzögerung bei der Abholung die Wirkungen fristbegründender Schriftstücke beliebig hinauszuzögern.
e) Ein Zugang ist schließlich auch dann angenommen worden, wenn der Empfänger die rechtlich vorgesehene Zustellung von gewöhnlichen Briefsendungen verhindert und diese Verhinderung als Verweigerung der Annahme einer Sendung zu werten ist (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 26. April 1968 VII C 180.66, NJW 1968, 1394, 1395; ferner Urteil des FG Düsseldorf in EFG 1971, 210, 211). Ähnlich hat das Hessische FG es für die Fristberechnung nach § 122 Abs. 2 AO 1977 in seinem Urteil in EFG 1996, 791 als unbeachtlich angesehen, wenn ein Steuerberater mit dem Postboten vereinbart, eingehende Sendungen nicht am Samstag, sondern erst am nachfolgenden Montag zuzustellen, weil eine derartige private Vereinbarung keinen Einfluss auf den Lauf von Fristen haben könne (zustimmend Klein, Abgabenordnung, 6. Aufl., § 122 Bem. 4. b). Der BFH hat mit Urteil in BFH/NV 1997, 828 diese Frage allerdings (im anschließenden Revisionsverfahren gegen das Urteil in EFG 1996, 791) dahingestellt sein lassen können, weil die Kläger in jenem Fall keine Tatsachen gegen eine mögliche Bekanntgabe bereits am Freitag vorgetragen hätten.
Dieser Rechtsprechung liegt der gemeinsame Gedanke zugrunde, dass der gemäß § 122 Abs. 2 AO 1977 vermutete Zugang nur dann in Zweifel zu ziehen ist, wenn es aufgrund des Tatsachenvortrags des Empfängers ausgeschlossen erscheint, dass an einem der drei Tage dieser Frist die Möglichkeit der Bekanntgabe in Gestalt der Abholung der Post bestand. Der Adressat kann sich dabei nicht auf solche Umstände berufen, die zwar zu einer Verzögerung der Kenntnisnahme geführt haben, die jedoch seiner Verantwortungs- bzw. Risikosphäre zuzurechnen sind (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 90, 91; ebenso Urteil des FG Hamburg vom 24. Januar 1985 V 199/82, EFG 1985, 378, 379, rkr., nachdem die Revision durch Beschluss des BFH vom 2. März 1990 VIII R 100/85 nach Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ―BFHEntlG― als unbegründet zurückgewiesen worden ist).
2. Der Kläger kann sich in Anwendung dieser Rechtsgrundsätze nicht auf einen Zugang der Einspruchsentscheidung erst am 18. April 1995 berufen.
a) Nach § 366 Satz 2 AO 1977 kann die Finanzbehörde die Einspruchsentscheidung entsprechend § 122 AO 1977 bekannt geben, und zwar nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 auch gegenüber einem Bevollmächtigten. Der Prozessvertreter des Klägers bestreitet nicht den Zugang der Einspruchsentscheidung überhaupt. Vielmehr behauptet er, die Rechtsbehelfsentscheidung nicht innerhalb der Drei-Tages-Frist erhalten zu haben. Nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des FG ist die Einspruchsentscheidung vom 12. April 1995 noch am gleichen Tage durch Aufgabe zur Post versandt worden.
b) Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 gilt die Einspruchsentscheidung damit am Samstag, dem 15. April 1995, als bekannt gegeben.
Das FG hat offen gelassen, ob der vom Prozessvertreter des Klägers auf der Einspruchsentscheidung angebrachte Eingangsstempel auf Dienstag, den 18. April 1995, und der entsprechende Eintrag in dem in Kopie vorgelegten Fristenkontrollbuch auch für sich allein geeignet gewesen wären, Zweifel an einem Zugang innerhalb der Drei-Tages-Frist zu begründen. Allerdings hat das FG diesen Umständen im Zusammenhang mit der glaubhaft vorgetragenen abweichenden Zustellpraxis an Samstagen zu Unrecht eine ergänzende Bedeutung beigemessen.
Im Streitfall handelt es sich um den Zugang bei einem Vertreter jener Personengruppe, für welche eine gesteigerte Verpflichtung besteht, Vorkehrungen für den fristwahrenden Zugang von Schriftstücken zu treffen. Verhindert oder verzögert ein solcher Berufsvertreter ohne berechtigte sachliche Gründe den Zugang fristauslösender Schriftstücke, so muss er sich so behandeln lassen, als ob ihm das Schriftstück zu dem Zeitpunkt zugegangen ist, zu dem der betreffende Zustellversuch unternommen worden ist, ohne Rücksicht darauf, ob die entgegenstehende Vereinbarung zwischen ihm und dem Postzusteller postrechtlich wirksam ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei der zunächst behaupteten Absprache zwischen dem Prozessvertreter und dem Boten, an Samstagen generell keine Post in dem Büro zuzustellen, es dem Prozessvertreter unbenommen gewesen wäre, bei dem Zustellpostamt auch an diesen Tagen während der Annahmezeiten die Sendungen abzuholen. Aber auch bei einem modifizierten Inhalt der Absprache, wonach lediglich Sendungen wieder mitzunehmen seien, falls im Büro am Samstag niemand anwesend sei, kann sich der Prozessvertreter auf einen späteren Zugang nicht berufen. Als ein fremde Rechtsangelegenheiten besorgender Rechtsanwalt musste er vielmehr sicherstellen, während der üblichen Postzeiten fristwahrende Sendungen übermittelt zu bekommen. Wären entgegenstehende Vereinbarungen auch für die Fristberechnung beachtlich, so könnte dadurch beliebig die Einhaltung von Fristen vereitelt oder zumindest verzögert werden. Zu denken ist z.B. auch an die Entgegennahme fristgebundener Gestaltungsrechte (Kündigung, Rücktrittsrechte, Widerruf von Vergleichen u.a.), die gegenüber einem Rechtsanwalt jedenfalls innerhalb der üblichen Zeiten jederzeit fristwahrend ausgeübt werden können müssen. Der BFH hat in BFH/NV 1999, 286, 287 insoweit ausgeführt, ebenso wie ein Gericht oder eine Behörde müsse auch ein Rechtsanwalt dafür sorgen, dass alle seine Mandanten betreffenden amtlichen Schriftstücke rechtzeitig abgeholt würden, sofern und sobald dies möglich sei. Unter diesen Umständen muss sich der Prozessvertreter im Streitfall so behandeln lassen, als ob er das Schriftstück am Samstag tatsächlich erhalten habe; denn die durch die Vereinbarung herbeigeführte Verzögerung der Kenntnisnahme der Einspruchsentscheidung ist nicht mehr der Risikosphäre des FA, sondern bereits derjenigen des Prozessvertreters zuzurechnen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 286, 287). Der Prozessvertreter als Empfänger berufsbezogener Schriftstücke soll lediglich für solche Umstände nicht einzustehen haben, auf die er selbst gar keinen Einfluss hat, wie z.B. Verzögerungen durch eine falsche Adressierung durch die absendende Behörde oder durch sonstige objektiv im Bereich des Postbetriebs liegende Gründe, die zu einer Postverzögerung führen ―Streiks oder dergleichen― (vgl. zu diesen besonderen Umständen BFH-Urteil in BFHE 119, 201, BStBl II 1976, 764, unter Ziff. 1. d). Danach ist die erst am 18. Mai 1995 beim FG eingegangene Klage nicht mehr innerhalb der ―am Montag, dem 15. Mai 1995 endenden― Monatsfrist erhoben worden, so dass die Klage wegen Verfristung als unzulässig abzuweisen ist.
Unbehelflich sind in diesem Zusammenhang die in der mündlichen Verhandlung erneut gemachten Ausführungen zu den Eintragungen im Fristenkontrollbuch. Diesen Eintragungen käme allenfalls dann Bedeutung zu, wenn sich aus ihnen ergäbe, dass das Buch auch für Samstag, den 15. April 1995, geführt wurde und für diesen Tag andere Eingänge ―mit Ausnahme der hier streitigen Einspruchsentscheidung― vermerkt wurden. Für einen solchen Geschehensablauf gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte. Der frühere Prozessbevollmächtigte des Klägers hat im Gegenteil vorgetragen, dass bei ihm am Samstag keine Postsendungen zugestellt wurden.
3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist kommt im Streitfall nicht in Betracht.
Der Prozessvertreter war nicht ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Klagefrist einzuhalten. Zwar bedurfte es, nachdem die Klage bereits erhoben worden war, nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO keines gesonderten Wiedereinsetzungsantrages mehr. Vielmehr kann danach Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden. Indes hat der Kläger bzw. sein Prozessvertreter weder zur Begründung geeignete Wiedereinsetzungsgründe vorgetragen und glaubhaft gemacht noch sind solche aus den Prozessakten ersichtlich. Nachdem der Rechtsstreit als wesentlichen Streitpunkt gerade auch die Einhaltung der Klagefrist zum Gegenstand hatte, hätte für den Kläger bzw. seinen Prozessvertreter besondere Veranlassung bestanden, derartige Umstände vorzutragen.
Eine Fristversäumung ist im Übrigen nur dann als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (vgl. BFH-Urteil vom 8. Oktober 1981 IV R 108/81, BFHE 134, 388, BStBl II 1982, 165, 166, m.w.N.). Nach § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung i.V.m. § 155 FGO muss sich ein Prozessbeteiligter, hier der Kläger, auch das Verschulden seines Bevollmächtigten wie eigenes Verschulden zurechnen lassen (vgl. BFH-Beschluss vom 2. März 1994 I R 134/93, I S 18/93, BFH/NV 1995, 121, 122; Koch/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 56 Rz. 6, m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung).
Der Prozessvertreter hat, wie unter Ziffer 2. der Gründe ausgeführt, nicht die für einen fristgerechten Zugang von Postsendungen notwendigen Vorkehrungen getroffen. Nach der unter Ziffer 1. aufgeführten Rechtsprechung und dem Schrifttum war für den Prozessvertreter jedenfalls ohne weiteres erkennbar, dass er als geschäftsmäßiger Besorger fremder Rechtsangelegenheiten gehalten war, Vorkehrungen für den ordnungsgemäßen Zugang von fristgebundenen Schriftstücken zu treffen (vgl. BGH-Beschluss in NJW 1991, 109).
Fundstellen
Haufe-Index 424829 |
BFH/NV 2000, 626 |
BStBl II 2000, 175 |
BFHE 2000, 292 |
BB 2000, 603 |
DB 2000, 959 |
DStRE 2000, 381 |
HFR 2000, 405 |
StE 2000, 167 |