Entscheidungsstichwort (Thema)

Bloße Kassation des Verwaltungsakts

 

Leitsatz (NV)

1. Zu den Voraussetzungen für eine Kassation des Verwaltungsakts ohne Entscheidung des Finanzgerichts in der Sache.

2. Zum Umfang der Haftung für die Lohnsteuer bei auf die Nettolöhne beschränkten Zahlungsmitteln.

 

Normenkette

FGO § 100 Abs. 2 S. 2; AO 1977 §§ 69, 34

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war in der Zeit vom 4. Mai 1977 bis 12. April 1978 alleiniger Geschäftsführer einer GmbH, über deren Vermögen im Juni 1978 das Konkursverfahren eröffnet worden ist. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm ihn wegen angemeldeter, aber nicht an das FA abgeführter Lohnsteuerabzugsbeträge für Dezember 1977 und Februar/ März 1978 der GmbH in Höhe von insgesamt 18 000 DM gemäß § 69 i. V. m. § 34 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldner in Anspruch. Auf die Klage des Klägers hob das Finanzgericht (FG) den Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung mit folgender Begründung auf:

Das FA habe den Kläger dem Grunde nach zu Recht als Haftenden in Anspruch genommen, da dieser den Haftungstatbestand der §§ 34, 69 AO 1977 erfüllt habe. Wie die ungekürzte Auszahlung der Nettolöhne an die Arbeitnehmer der GmbH zeige, habe der Kläger Zahlungsmittel zumindest in dieser Höhe zur Verfügung gehabt. Wenn das Geld der GmbH zur Abführung der auf die Löhne entfallenden Steuern nicht ausgereicht habe, hätte er die Löhne nur gekürzt auszahlen und die entsprechende Lohnsteuer aus den dann übrig bleibenden Mitteln abführen müssen. Der Kläger könne sich nicht damit entschuldigen, daß die GmbH mit neuen Einnahmequellen habe rechnen dürfen und er aus diesen die rückständige Lohnsteuer habe tilgen wollen. Der von der Stadt R in Aussicht gestellte Zuschuß sei unsicher gewesen und die Werbeeinnahmen seien allenfalls für die Zeit nach Fälligkeit der streitbefangenen Steuern zu erwarten gewesen. Auch die Ermessensausübung des FA, den Kläger als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, sei nicht zu beanstanden.

Der Senat könne aber aufgrund des bisher bekanntgewordenen Sachverhalts nicht entscheiden, ob das FA den Kläger auch der Höhe nach zu Recht in vollem Umfang mit den auf die ausgezahlten Nettolöhne entfallenden Steuern in Anspruch genommen habe. Das FA habe keine Feststellungen dazu getroffen, ob und ggf. welche Mittel dem Kläger neben den ausgezahlten Löhnen noch zur Zahlung der Steuern zur Verfügung gestanden hätten. Gehe man mit dem bisherigen Vorbringen des Klägers davon aus, daß er neben den Beträgen, die zur Auszahlung an die Arbeitnehmer gelangt seien, keinerlei weitere Geldmittel mehr zur Verfügung hatte, so sei die Haftungsschuld der Höhe nach - ggf. im Wege der Schätzung - auf denjenigen Betrag zu mindern, der sich als Steuer auf die gekürzt ausbezahlten Löhne ergeben würde (Urteil des FG Düsseldorf vom 23. November 1983 III 230/76 L, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1984, 378). Denn die Inanspruchnahme für die auf die vollen Nettolöhne entfallenden Steuern würde dazu führen, daß der Geschäftsführer höhere Beträge als die von ihm verwalteten Mittel zur Tilgung der Verbindlichkeiten aufwenden müßte. Hätten dagegen dem Kläger noch weitere Mittel (Barmittel, kurzfristig realisierbare Forderungen, zusätzliche Kreditmöglichkeiten) zur Verfügung gestanden, um hieraus die auf die ausgezahlten Löhne entfallenden Steuern zu zahlen, so hafte er in vollem Umfang.

Da die Feststellung der Liquiditätslage der GmbH durch das Gericht - sowohl für die Lohnzahlungszeitpunkte als auch für die Zeitpunkte der Fälligkeit der Steuern - eine einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung nötig machen würde, sei der Haftungsbescheid gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufzuheben. Das FA trage hinsichtlich der Liquiditätslage der GmbH die objektive Beweislast. Sollte insofern eine Aufklärung des Sachverhalts nicht mehr möglich sein, so hafte der Kläger lediglich für die auf die gekürzten Löhne entfallenden Steuern.

Mit der Revision wendet sich das FA gegen die Rechtsauffassung des FG, wonach der Geschäftsführer bei auf die ausgezahlten Nettolöhne beschränkten Zahlungsmitteln der GmbH nur hinsichtlich der Lohnsteuern haften soll, die sich bei der hier gebotenen Kürzung der Löhne ergeben hätten. Es meint, die Haftung habe sich auch dem Umfang nach an den tatsächlichen Vorgängen - hier die ungekürzte Auszahlung der Löhne - zu orientieren. Das FG lasse unberücksichtigt, daß der Kläger die Entstehung der höheren Lohnsteuerschuld durch die ungekürzte Lohnzahlung zu verantworten habe. Er hafte deshalb ohne Rücksicht auf etwaige fehlende Mittel der GmbH für die gesamte auf die tatsächlich ausbezahlten Löhne entfallende Lohnsteuer; anderenfalls entstünde in Höhe der Differenz zwischen der ausgelösten tatsächlichen Lohnsteuerschuld und der fiktiven Lohnsteuerschuld bei angenommener Kürzung der Lohnzahlung ein haftungsfreier Raum.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Kläger als Geschäftsführer der GmbH mit der Nichtabführung der Steuerabzugsbeträge den Haftungstatbestand der §§ 34, 69 AO 1977 erfüllt hat. Seine Ausführungen entsprechen insoweit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats. Der Senat nimmt deshalb, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die Urteilsbegründung des FG Bezug. Ergänzend verweist er für die dort angesprochenen Rechtsfragen - a) Verpflichtung zur anteiligen Befriedigung des FA und der Arbeitnehmer im Wege der Kürzung der auszuzahlenden Löhne bei nicht ausreichenden Mitteln der GmbH, b) Eintritt der Steuerverkürzung bei Nichtabführung der Lohnsteuer zum Fälligkeitszeitpunkt und c) Verpflichtung des Geschäftsführers, sich über seine steuerlichen Pflichten zu informieren - auf sein Urteil vom 20. April 1982 VII R 96/79 (BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521, m. w. N.). Der Kläger hat demnach, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, auch wenn die vorhandenen Mittel der GmbH zur Zahlung der Löhne einschließlich der darauf entfallenden Steuern nicht ausgereicht haben sollten, die ihm obliegenden steuerlichen Pflichten zumindest dadurch grob fahrlässig verletzt, daß er die Nettolöhne ungekürzt an die Arbeitnehmer der GmbH ausgezahlt hat, ohne aus diesen, ihm jedenfalls zur Verfügung stehenden Geldbeträgen das FA hinsichtlich der Lohnsteuer zu befriedigen.

Seine Erwartung, daß die GmbH die Lohnsteuer aus späteren Einnahmen werde begleichen können, konnte den Kläger im Hinblick auf seine Verpflichtung zur rechtzeitigen Zahlung nicht entlasten. Das FG hat festgestellt, daß der Kläger mit einer Verbesserung der Liquidität der GmbH vor den hier maßgeblichen Fälligkeitszeitpunkten (10. Januar, 10. März, 10. April 1978) nicht rechnen konnte und daß mit dem Eingang der von der Stadt R in Aussicht gestellten Mittel wegen ihrer Abhängigkeit von einem außergerichtlichen Vergleich nicht sicher zu rechnen war. Der Senat ist an diese Feststellungen gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Denn der Kläger hat in bezug auf sie keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben; er hat in seiner Revisionserwiderung die vom FG festgestellten Tatsachen lediglich anders gewürdigt. Das FG hat demnach die Haftung des Klägers dem Grunde nach zu Recht bejaht.

2. Die Vorentscheidung ist aber rechtsfehlerhaft, weil das FG von einer abschließenden Entscheidung, insbesondere zur Höhe der Haftung des Klägers abgesehen hat. Das FG hätte den gegen den Kläger ergangenen Haftungsbescheid und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung nicht gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO aufheben dürfen, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Vorschrift gibt dem FG bei Klagen gegen einen Verwaltungsakt der in § 348 AO 1977 bezeichneten Art, zu denen auch Haftungsbescheide gehören (§ 348 Abs. 1 Nr. 4 AO 1977), nur dann die Möglichkeit der Kassation ohne eigene Entscheidung, wenn es wesentliche Verfahrensmängel festgestellt hat und eine weitere, einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung für nötig hält. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist eine im Revisionsverfahren nachprüfbare Rechtsentscheidung (Ziemer/Haarmann/ Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 9563).

Es kann dahingestellt bleiben, ob die vom FG für geboten erachtete Aufklärung der Liquiditätslage der GmbH zu den Lohnzahlungs- und Lohnsteuerfälligkeitszeitpunkten in dem Sinne kosten- und zeitaufwendig wäre, daß das FG nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO von einer Entscheidung in der Sache selbst absehen durfte. Das FG hat jedenfalls verkannt, daß die Zurückverweisung der Sache an das FA, die in der bloßen Kassation des angefochtenen Verwaltungsakts liegt, nach dieser Vorschrift außerdem einen wesentlichen Verfahrensmangel des FA voraussetzt, bei dessen Feststellung von der materiellen Rechtsauffassung des FA auszugehen ist (BFH-Urteile vom 14. Juni 1967 VI R 215/66, BFHE 89, 253, BStBl III 1967, 610; vom 18. Dezember 1979 VIII R 27/77, BFHE 130, 7, BStBl II 1980, 330, und vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, 276, BStBl II 1984, 661, 663).

Die Vorentscheidung enthält keine ausdrücklichen Ausführungen darüber, worin sie einen wesentlichen Verfahrensmangel des FA sieht; ein solcher Verfahrensmangel ist auch nicht ersichtlich. Offensichtlich geht das FG davon aus, daß das FA gegen seine Ermittlungspflicht (§ 88 Abs. 1 AO 1977) verstoßen hat, indem es keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob und ggf. welche Mittel dem Kläger als Geschäftsführer der GmbH neben den ausgezahlten Löhnen im Haftungszeitraum und insbesondere zu den Lohnzahlungszeitpunkten noch zur Verfügung standen. Das FG verkennt aber, daß das FA auf der Grundlage der materiellen Rechtsauffassung, die seiner Entscheidung über die Haftung des Klägers zugrundeliegt, diese Ermittlungen nicht anzustellen brauchte. Das FA geht, wie aus dem Haftungsbescheid, der Einspruchsentscheidung und insbesondere aus der Revisionsbegründung ersichtlich ist, davon aus, daß der Geschäftsführer der GmbH, der die geschuldeten Nettolöhne ungekürzt ausgezahlt hat, auch dann für die auf die (Brutto-)Löhne entfallenden Lohnsteuern in voller Höhe nach §§ 69, 34 AO 1977 haftet, wenn er - außer den ausgezahlten Löhnen - über keine sonstigen Zahlungsmittel der GmbH mehr verfügen konnte. Nach der Rechtsauffassung des FA bedurfte es demnach keiner weiteren Feststellungen über die vorhandenen Zahlungsmittel der GmbH, um die Haftung des Klägers im Streitfall in vollem Umfang bejahen zu können. Der Verfahrensfehler der mangelnden Ermittlung des Sachverhalts kann dem FA somit nicht zum Vorwurf gemacht werden. Das FG hätte auf der Grundlage seiner von der Ansicht des FA abweichenden Rechtsauffassung, die ihm nach § 76 Abs. 1 FGO obliegende Sachverhaltsaufklärung über die vorhandenen Zahlungsmittel selbst vornehmen müssen. Es durfte mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht von der eigenen Sachaufklärung und Sachentscheidung absehen. Da die Vorentscheidung diesen Rechtsgrundsätzen nicht entspricht, war sie aufzuheben.

3. Das FG wird, wenn es nach der Zurückverweisung an seiner Rechtsansicht festhält, daß sich die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, dem lediglich die Mittel für die Zahlung der Nettolöhne zur Verfügung standen, auf die Steuerbeträge beschränkt, die von der verfügbaren Nettolohnsumme einzubehalten und abzuführen gewesen wären (vgl. FG Düsseldorf, EFG 1984, 378), selbst Feststellungen dazu treffen müssen, ob im Streitfall ein derartiger Sachverhalt gegeben war und ggf. wie hoch die auf die gekürzten Nettolöhne entfallende Lohnsteuer gewesen wäre. Der Senat kann zum gegenwärtigen Stand des Verfahrens von einer abschließenden Entscheidung über die von der Vorinstanz aufgeworfene Rechtsfrage absehen, da noch nicht feststeht, ob diese entscheidungserheblich sein wird. Er geht davon aus, daß der vom FG als möglich angenommene Sachverhalt, daß dem GmbH-Geschäftsführer gerade nur Zahlungsmittel in der genauen Höhe der an die Arbeitnehmer ausgezahlten Nettolöhne zur Verfügung standen, nur in seltenen Ausnahmefällen gegeben sein dürfte. Der Senat weist darauf hin, daß auch im Streitfall das Konkursverfahren über das Vermögen der KG erst einige Monate nach Ablauf der hier streitbefangenen Haftungszeiträume eröffnet worden ist, was darauf hindeutet, daß die GmbH zu den Lohnzahlungszeitpunkten noch nicht zahlungsunfähig war.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415775

BFH/NV 1989, 84

Dieser Inhalt ist unter anderem im Steuer Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge