Entscheidungsstichwort (Thema)
Vermutung der Bekanntgabe eines VA, Verlängerung der Dreitagesfrist auf den nächstfolgenden Werktag
Leitsatz (NV)
Die Dreitagesfrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermuteten Bekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977) verlängert sich, wenn das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag, oder Sonnabend fällt, bis zum nächstfolgenden Werktag (Anschluss an das BFH-Urteil vom 14. Oktober 2003 IX R 68/98, BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898).
Normenkette
AO 1977 § 108 Abs. 3, § 122 Abs. 2 Nr. 1; FGO § 47 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) mit Haftungsbescheid vom … für Steuerschulden und ausstehende steuerliche Nebenleistungen einer GmbH als alleiniger Geschäftsführer in Anspruch genommen. Den dagegen erhobenen Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 6. April 2000 zurück, die am gleichen Tag zur Post gegeben wurde.
Die vom Kläger erhobene Klage ging am 10. Mai 2000 beim Finanzgericht (FG) ein.
Während des finanzgerichtlichen Verfahrens wies das FG den Kläger darauf hin, dass die Klagefrist versäumt sei, jedoch die Möglichkeit eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bestünde.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab und begründete seine Entscheidung u.a. damit, dass der Kläger die Klagefrist gemäß § 47 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht gewahrt habe. Die Frist beginne mit Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gelte die Einspruchsentscheidung als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Die Klagefrist habe mithin am 10. April 2000 zu laufen begonnen und habe am 9. Mai 2000 geendet. Die Klageschrift sei jedoch erst am 10. Mai 2000 bei Gericht eingegangen.
Hiergegen richtet sich die ―vom FG im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. September 2002 IX R 68/98 (BFHE 199, 493, BStBl II 2003, 2) zugelassene― Revision des Klägers.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Das FG hat die am 10. Mai 2000 bei Gericht eingegangene Klage zu Unrecht als verspätet abgewiesen, weil es davon ausgegangen ist, dass die Einspruchsentscheidung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am Sonntag, dem 9. April 2000, als bekannt gegeben gilt.
a) Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde die Einspruchsentscheidung am Donnerstag, dem 6. April 2000 zur Post aufgegeben. Von einer Zustellung wurde seitens des FA abgesehen. Der Verwaltungsakt wäre daher nach dem Wortlaut des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am Sonntag, dem 9. April 2000 bekannt gegeben worden, mit der Folge, dass die Klagefrist vom 10. April 2000 bis zum 9. Mai 2000 gelaufen wäre. Der Eingang der Klageschrift bei Gericht am 10. Mai 2000 wäre danach verspätet.
b) Diese der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechende Auffassung zu § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 (vgl. BFH-Urteile vom 17. Juni 1997 IX R 79/95, BFH/NV 1997, 828; vom 5. März 1986 II R 5/84, BFHE 146, 27, BStBl II 1986, 462; vom 9. Dezember 1999 III R 37/97, BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175, und vom 26. Juni 1996 X R 97/95, BFH/NV 1997, 90; BFH-Beschlüsse vom 12. August 1998 IV B 145/97, BFH/NV 1999, 286, und vom 22. April 1996 XI B 2/96, BFH/NV 1996, 727) ist durch die Entscheidung des IX. Senats des BFH vom 14. Oktober 2003 IX R 68/98 (BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898) überholt. Der IX. Senat des BFH geht nunmehr unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung davon aus, dass sich die Dreitagesfrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermutlichen Bekanntgabe bis zum nächstfolgenden Werktag verlängert, wenn das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt (s. Vorlagebeschluss an den Großen Senat des BFH in BFHE 199, 493, BStBl II 2003, 2; Beschluss vom 23. September 2003 IX R 68/98, BFHE 202, 431, BStBl II 2003, 875 über die Aufhebung des Vorlagebeschlusses; sowie Urteil in BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898). Die insoweit von der Entscheidung des IX. Senats betroffenen Senate des BFH haben der Abweichung zugestimmt.
c) Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsprechung des IX. Senats in BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898 an. Fällt der dritte Tag des Dreitageszeitraums i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet dieser Zeitraum gemäß § 108 Abs. 3 AO 1977 mit Ablauf des nächstfolgenden Werktags mit der Folge, dass der Verwaltungsakt an diesem Werktag als bekannt gegeben gilt. Der Senat tritt damit der Auffassung des IX. Senats bei, dass es sich bei dem Dreitageszeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 um eine "Frist" i.S. von § 108 Abs. 3 AO 1977 handelt. Zur Vermeidung von Wiederholungen hinsichtlich der Begründung wird auf die Entscheidung des IX. Senats in BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898 verwiesen.
d) Im Streitfall hat das FA die Einspruchsentscheidung am Donnerstag, dem 6. April 2000 zur Post aufgegeben. Da der dritte Tag der Dreitagesfrist i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 auf einen Sonntag fällt, endet dieser Zeitraum nach § 108 Abs. 3 AO 1977 mit Ablauf des nächstfolgenden Werktags. Die Einspruchsentscheidung des FA gilt folglich erst am 10. April 2000 als bekannt gegeben. Die einmonatige Klagefrist beginnt mithin am 11. April 2000 (§§ 47 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 54 Abs. 2 FGO, 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung - ZPO - i.V.m. § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ―BGB―) und endet mit Ablauf des 10. Mai 2000 (§§ 54 Abs. 2 FGO, 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 188 Abs. 2 Alternative 1 BGB). Da die Klageschrift am 10. Mai 2000 beim FG eingegangen ist, ist die Klage fristgerecht erhoben worden.
Die Vorentscheidung beruht auf einer abweichenden Rechtsauffassung; sie ist deshalb aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat ―von seinem Standpunkt aus zu Recht und unter Befolgung der bis zu seiner Entscheidung gültigen Rechtsprechung des BFH zu § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977― keine Feststellungen zur formellen und materiellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids in Gestalt der Einspruchsentscheidung getroffen. Diese sind im zweiten Rechtszug nachzuholen.
Fundstellen
Haufe-Index 1160160 |
BFH/NV 2004, 1065 |