Leitsatz (amtlich)
Zieht das FA den Steuerpflichtigen nach Ablauf der normalen Verjährungsfrist durch "Haftungsbescheid" zur Zahlung einer von ihm selbst geschuldeten, durch einen Vertreter hinterzogenen Steuer mit der Begründung heran, daß er gemäß § 111 AO zehn Jahre lang für diese Steuer hafte, so wird er damit in Wirklichkeit als Steuerschuldner in Anspruch genommen. Die falsche rechtliche Bezeichnung des Anspruchsgrundes als "Haftung" schadet in diesem Falle nicht, wenn eindeutig erkennbar ist, daß der Steuerpflichtige eigene Steuerschulden entrichten und nicht lediglich für fremde Steuerschulden einstehen soll.
Normenkette
AO § 97 Abs. 1-2, § 111 Abs. 1, § 144 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Die Firma, deren Rechtsnachfolgerin die Klägerin ist, hatte im Februar 1958 drei Netzknüpfmaschinen und eine Spulmaschine aus Belgien eingeführt. Sie ließ diese Waren zur vorübergehenden Verwendung auf Einfuhr-Zollvormerkschein abfertigen. Als Preise, welche der Empfänger bei einem Kauf der Waren unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs aufwenden müßte, meldete ihr damaliger Geschäftsführer die Beträge von 5 208 DM, 6 006 DM, 5 838 DM und 420 DM an.
Nachdem die Wiedergestellungsfrist für die Waren abgelaufen war, ohne daß der Zollbeteiligte sie wiedergestellt hatte, erhob das Zollamt (ZA) dafür durch Bescheid vom 11. Dezember 1958 Zoll und Ausgleichsteuer in Höhe von insgesamt 1 608,30 DM. Der Berechnung dieser Abgaben legte es die bei der Abfertigung auf Einfuhr-Zollvormerkschein angemeldeten Zollwerte zugrunde.
Auf Grund von Ermittlungen, die in einem Steuerstrafverfahren vorgenommen worden waren, kam das beklagte Hauptzollamt (HZA) im Jahre 1964 zu dem Ergebnis, daß die Zollwerte seinerzeit zu niedrig angemeldet worden seien. Es forderte deshalb durch Abgabenbescheid vom 18. April 1964 von der Klägerin 4 700,70 DM Zoll und Ausgleichsteuer nach, wobei es von Zollwerten von insgesamt 68 500 DM ausging. Auf Einspruch der Klägerin nahm das HZA diesen Steuerbescheid durch Verfügung vom 22. Januar 1966 zurück und erließ gegen die Klägerin zugleich einen "Haftungsbescheid" über den gleichen Abgabenbetrag.
Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, daß die mit dem früheren Bescheid geltend gemachte, in der Person der ... entstandene und unbedingt gewordene Steuerschuld bereits verjährt sei. Unabhängig davon hafte die Klägerin jedoch aus anderen Gründen für diese Abgaben. Der frühere Geschäftsführer der ... habe nämlich durch eine bewußt falsche Anmeldung des Zollwerts eine Steuerhinterziehung begangen und damit Pflichten verletzt, die ihm bei der Vertretung dieser Firma oblegen hätten. Die ... habe infolgedessen gemäß § 111 Abs. 1 AO für die dadurch verkürzten Steuereinnahmen gehaftet. Deren Haftungsschuld sei auf die Klägerin als ihre Gesamtrechtsnachfolgerin übergegangen.
Auf die Klage der Steuerpflichtigen hob das FG den "Haftungsbescheid" des HZA auf.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision des HZA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Der von der Klägerin angefochtene "Haftungsbescheid" ist in tatsächlicher Hinsicht darauf gestützt, daß die von der ... im Februar 1958 eingeführten vier Textilmaschinen einen wirklichen Wert von 68 500 DM gehabt hätten. Er geht ferner davon aus, daß der damalige Geschäftsführer der genannten Gesellschaft bei der Abfertigung der Maschinen auf Einfuhr-Zollvormerkschein den. Zollwert bewußt falsch angemeldet habe.
Unterstellt man bei der rechtlichen Beurteilung des Streitfalles, daß es sich tatsächlich so verhalten hat - was das FG dahingestellt sein ließ -, so hatte die ... bzw. ihre Gesamtrechtsnachfolgerin im Januar 1966 noch für eine in ihrer Person begründete Zoll- und Ausgleichsteuerschuld von 4 700,70 DM einzustehen. Denn für diesen Fall war durch die Abfertigung der Maschinen zum Zollvormerkverkehr eine Abgabenschuld von 6 309 DM entstanden, während nach dem Ablauf der Wiedergestellungsfrist nur ein Betrag von 1 608,30 DM festgesetzt und erhoben wurde. Der Inanspruchnahme der Klägerin für den nicht entrichteten Teil dieser Eingangsabgabenschuld stand es dabei nicht entgegen, daß beim Erlaß des gegen sie gerichteten "Haftungsbescheides" die für Zölle geltende normale Verjährungsfrist von einem Jahr (§ 144 AO) bereits abgelaufen war. Denn wenn, wie das HZA annimmt, der Geschäftsführer der ... bei der Abgabe der Zollwertanmeldung für die eingeführten Maschinen eine Steuerhinterziehung begangen hatte, so griff die für die hinterzogenen Abgaben geltende zehnjährige Verjährungsfrist auch gegenüber der von ihm vertretenen Gesellschaft Platz. Die steuerrechtlichen Wirkungen einer Hinterziehungshandlung, die ein Vertreter bei Ausübung seiner Obliegenheiten vornimmt, treffen nämlich, wie der RFH in seinem Gutachten Gr. S. D 4/38 vom 28. Mai 1938 (RStBl 1938, 595) und der BFH in seinem Urteil II z 148/51 U vom 30. November 1951 (BFH 56, 39, BStBl III 1952, 16) entschieden haben, den Vertretenen wie diejenigen einer eigenen Handlung.
Von dieser Rechtsauffassung geht auch die Vorentscheidung aus. Das FG meint aber, daß der Bescheid des HZA, durch den die Klägerin zur Zahlung der verkürzten Eingangsabgaben herangezogen wurde, deshalb rechtswidrig sei, weil sie darin als Haftende gemäß § 111 AO in Anspruch genommen werde. Eine nach dieser Vorschrift begründete Haftung würde ins Leere fallen, da die Klägerin im Streitfall selbst Steuerschuldnerin sei. In diesem Falle müsse der Haftungsbescheid als subsidiäre Maßnahme gegenüber dem Steuerbescheid zurücktreten.
Diese Ausführungen sind nicht frei von Rechtsirrtum.
Der Vorinstanz ist allerdings zuzugeben, daß ein Steuerpflichtiger, der eine Abgabe als Steuerschuldner zu entrichten hat (§ 97 Abs. 1 AO), für diese selbe Abgabe nicht zugleich auf Grund des § 111 AO haften kann. Denn "haften" bedeutet in diesem Zusammenhang das Einstehenmüssen für eine fremde Schuld (§ 97 Abs. 2 AO). Deshalb ist es ausgeschlossen, daß jemand in dem genannten Sinne für die eigene Schuld haftet. Soweit in dieser Hinsicht dem oben genannten Urteil des BFH vom 30. November 1951 eine andere Auffassung zu entnehmen ist, wird sie von dem erkennenden Senat nicht geteilt. Für den Streitfall bedeutet dies, daß die Klägerin bezüglich der nach Ansicht des HZA hinterzogenen Eingangsabgaben nicht Haftende, sondern Steuerschuldnerin wäre und sie in dieser Eigenschaft die zehnjährige Verjährungsfrist gegen sich gelten lassen müßte. Dieser Umstand rechtfertigt es jedoch nicht, den angefochtenen "Haftungsbescheid" des HZA als rechtswidrig aufzuheben.
Der vorliegende Fall nötigt nicht zu einer Entscheidung der Frage, ob und in welchen Grenzen ein gegenüber einem Steuerschuldner zu Unrecht erlassener Haftungsbescheid in einen Steuerbescheid umgedeutet werden kann. Denn die Klägerin ist durch den von ihr angefochtenen Verwaltungsakt - was die Vorinstanz übersieht - in Wirklichkeit gar nicht als Haftende, sondern als Steuerschuldnerin in Anspruch genommen worden. Für den Inhalt der ihr darin auferlegten Leistung kommt es nämlich nicht auf seine unrichtige Bezeichnung als "Haftungsbescheid" und auch nicht darauf an, ob die Behörde diese Leistung rechtlich zutreffend als Schuld oder Haftung qualifiziert hat. Ausschlaggebend ist vielmehr, welche konkrete Leistung sie darin von der Klägerin verlangt.
Der Inhalt einer steuerlichen Leistungspflicht wird aber einerseits durch den sie individualisierenden Sachverhalt und andererseits durch die Art und den Umfang dessen bestimmt, was von der Steuerpflichtigen gefordert wird. Das bedeutet, daß der "Haftungsbescheid" des Beklagten rechtmäßig ist, wenn die in ihm nach diesen Merkmalen gekennzeichnete steuerliche Leistung von der Klägerin tatsächlich geschuldet wird.
In dieser Hinsicht ist dem angefochtenen Verwaltungsakt eindeutig zu entnehmen, daß das HZA die Klägerin als Schuldnerin der von ihr geforderten Eingangsabgaben ansieht. Sie soll demnach nicht für eine fremde Steuerschuld einstehen, sondern von ihr selbst geschuldete Abgaben bezahlen. Das heißt, daß sie nach dem Inhalt der ihr auferlegten Leistung als Steuerschuldnerin in Anspruch genommen wird. Ihre Heranziehung zu dieser Leistung entspricht aber, wie oben ausgeführt, auf der Grundlage des vom HZA angenommenen Sachverhalts dem Gesetz und daran ändert es nichts, daß diese steuerliche Leistungspflicht unzutreffend als Haftung anstatt als persönliche Steuerschuld bezeichnet wurde. Ebenso ist es unschädlich, wenn die Inanspruchnahme der Klägerin zur Zahlung der Eingangsabgaben fälschlich auf § 111 AO gestützt wurde, während sie diese Steuern in Wirklichkeit als Zollbeteiligte gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 des Zollgesetzes 1939 schuldet und die Erfüllung jenes Haftungstatbestandes lediglich dafür Bedeutung hat, ob die Klägerin die für den Steuerhinterzieher vorgesehene zehnjährige Verjährungsfrist gegen sich gelten lassen muß.
Da die Vorentscheidung dies verkannt hat, muß sie auf die Revision des HZA aufgehoben werden. Die Sache ist nicht spruchreif. Denn zufolge seiner irrigen Rechtsauffassung hat es das FG unterlassen, tatsächliche Feststellungen bezüglich des Normalpreises der von der ... eingeführten Textilmaschinen sowie darüber zu treffen, ob deren damaliger Geschäftsführer bei der Abgabe der Zollwertanmeldung eine Steuerhinterziehung begangen hat. Davon hängt es aber ab, ob und in welcher Höhe der durch den angefochtenen Bescheid geltend gemachte Abgabenanspruch berechtigt ist. Die Sache muß deshalb an die Vorinstanz zurückverwiesen werden, der auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen wird.
Fundstellen
Haufe-Index 69058 |
BStBl II 1970, 606 |
BFHE 1970, 178 |