Leitsatz (amtlich)
Ergibt sich nach Aufdeckung und Berücksichtigung von Tatsachen, die zu einem niedrigeren Gewinn aus Gewerbebetrieb führen, ein Mißverhältnis zwischen diesem und dem höheren Durchschnittsergebnis vergleichbarer Betriebe, dann ist dieses Mißverhältnis eine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob bei einer Betriebsprüfung festgestellte Buchführungsmängel eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigen.
Der Revisionskläger (Steuerpflichtiger) betrieb ein Elektrogeschäft und ermittelte seinen Gewinn für 1961 durch Gegenüberstellung der Einnahmen und Ausgaben unter Berücksichtigung der Veränderungen bei den Außenständen, den halbfertigen Arbeiten, den Waren und Warenschulden. Den erklärten gewerblichen Gewinn von 21 307 DM legte der Revisionsbeklagte (FA) der erstmaligen Veranlagung zugrunde.
Bei einer Betriebsprüfung wurde für 1961 u. a. festgestellt, daß Teilzahlungen an einen Lieferanten in Höhe von 2 500 DM nicht gebucht waren, die im Kassenbuch für einen Arbeitnehmer gebuchten Löhne nicht mit dem Lohnkonto übereinstimmten, die nicht abgerechneten Arbeiten ursprünglich um 2 000 DM zu hoch, der Warenbestand um 2 000 DM zu hoch angesetzt waren. Der sich hiernach sowie bei der vom Steuerpflichtigen angewandten Gewinnermittlungsmethode ergebende Gewinn für dieses Jahr betrug etwa 13 000 DM und war im Verhältnis zur amtlichen Richtsatzsammlung ungewöhnlich niedrig. Das FA kam danach zu der Auffassung, daß eine Berichtigung der in den Aufzeichnungen festgestellten Fehler nicht zu einer Erfassung aller Geschäftsvorfälle führen könne. Demgegenüber ergebe ein vollständiger, nach den Unterlagen des Steuerpflichtigen vorgenommener Bestandsvergleich unter Berücksichtigung der festgestellten oder geschätzten Entnahmen und Einlagen einen zusätzlichen Gewinn. Das FA errechnete einen Gewinn von 27 937 DM und erließ einen auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützten Berichtigungsbescheid.
Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das FG führte im wesentlichen aus, der Berichtigungsbescheid sei nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zulässig, weil neue Tatsachen, die eine höhere Steuer rechtfertigen, festgestellt worden seien. Ob eine Tatsache eine höhere oder eine niedrigere Veranlagung rechtfertige, hänge von der Rechtserheblichkeit dieser Tatsache ab. Liege die neue Tatsache im Bereich der Gewinnermittlung, dann könne die Rechtserheblichkeit dieser Tatsache gerade in der Erkenntnis bestehen, daß die bisherige Gewinnermittlungsmethode unrichtig und deshalb durch eine zutreffendere zu ersetzen sei. Dann ergebe sich erst nach Durchführung der ordnungsgemäßen Gewinnermittlung, ob die neue Tatsache zu einer höheren oder einer niedrigeren Veranlagung führe. Dies folge daraus, daß der Gewinn ein steuerlicher Tatbestand sei, der durch eine Mehrheit von Tatsachen, die zusammen gewürdigt werden müßten, verwirklicht werde.
Die rechtliche Bedeutung der im Streitfall festgestellten Tatsachen bestehe nicht in der Erkenntnis, daß der Steuerpflichtige einen zu hohen Gewinn ausgewiesen habe, sondern vielmehr darin, daß ein nach der Gewinnermittlungsmethode des Steuerpflichtigen errechneter und unter Berücksichtigung der Feststellungen bei der Betriebsprüfung berichtigter Gewinn zu einem offenbar unzutreffenden steuerlichen Ergebnis führen würde. Da auch die Abweichungen von den Erfahrungssätzen nicht zu erklären seien, habe das FA schätzen müssen. Dafür habe sich nach den Umständen eine Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich angeboten, deren Ergebnis der Steuerpflichtige im einzelnen auch nicht angegriffen habe.
Der danach zulässigen Berichtigungsveranlagung könne der Steuerpflichtige auch nicht entgegensetzen, das FA habe bereits bei der erstmaligen Veranlagung die Gewinnermittlungsmethode durch beschränkten Bestandsvergleich beanstanden müssen. Abgesehen davon, daß bei einer früheren Betriebsprüfung die Erstellung eines Bestandsvergleichs erst ab 1. Januar 1963 verlangt worden sei, hätten sich dem FA auch keine Zweifel an der Richtigkeit der dem beschränkten Bestandsvergleich zugrunde liegenden tatsächlichen Unterlagen aufdrängen müssen.
Mit der eine unrichtige Anwendung des § 222 Abs. 1 AO rügenden Revision wird geltend gemacht, die Frage, ob neue Tatsachen, die eine höhere oder eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen, vorliegen, sei nicht nach deren Rechtserheblichkeit, sondern allein nach der Gewinnauswirkung zu entscheiden. Dabei spiele die Art der Gewinnermittlung keine Rolle. Der Gewinn ergebe sich aus Tatsachen, sei aber selbst kein Sachverhalt oder Vorgang, der beurteilt werden könne. Deshalb sei auch die Annahme des FG, ein unter Berücksichtigung der Betriebsprüfungsfeststellungen berichtigter Gewinn führe zu einem offenbar unzutreffenden steuerlichen Ergebnis, keine Tatsache, sondern eine Schlußfolgerung. Wegen eines solchen Ergebnisses dürften aber Tatsachen, die sich nur gewinnmindernd auswirken, nicht als Tatsachen behandelt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen. Entgegen der Meinung des FA könne auch nicht die Feststellung eines Vermögenszuwachses als neue Tatsache angesehen werden. Hier sei lediglich auf Grund einer anderen Gewinnermittlungsmethode ein zusätzlicher Gewinn errechnet worden. Dies sei wiederum keine Tatsache, sondern das Ergebnis von Tatsachen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist unbegründet.
Zutreffend hat das FG angenommen, daß die angegriffene Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gerechtfertigt war.
Nach dieser Vorschrift findet eine Berichtigungsveranlagung statt, wenn - abgesehen von anderen, hier nicht streitigen Voraussetzungen - Tatsachen bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen. Es ist also einmal erforderlich, daß neue Tatsachen aufgedeckt werden. Zum anderen müssen diese Tatsachen in dem Sinne steuerlich rechtserheblich sein, daß sie zu einer Erhöhung des bisherigen Veranlagungsergebnisses führen (vgl. Urteil des RFH I A 228/35 vom 19. Dezember 1935, RStBl 1936, 3). Entscheidend hierfür ist, ob das FA im Falle der rechtzeitigen Kenntnis der Tatsachen und bei Anwendung des richtigen Rechtes (vgl. Urteil des BFH V 166/59 U vom 6. September 1962, BFH 75, 623, BStBl III 1962, 494) zu einem höheren als dem in dem zu berichtigenden Steuerbescheid festgesetzten Ergebnis gekommen wäre.
Werden neue Tatsachen im Bereich der betrieblichen Ergebnisrechnung festgestellt, dann hängt die höhere Veranlagung im allgemeinen davon ab, wie sie das Betriebsergebnis verändern. Erhöht sich das Betriebsergebnis, dann wird das auch in der Regel eine höhere Veranlagung nach sich ziehen (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO). Entsprechendes gilt für den entgegengesetzten Fall einer niedrigeren Veranlagung, in dem solche Tatsachen zu einer Minderung des Betriebsergebnisses führen (§ 222 Abs. 1 Nr. 2 AO).
Wenn der Steuerpflichtige jedoch meint, daß eine höhere Veranlagung immer unzulässig sei, wenn Tatsachen im Bereich der Ergebnisrechnung aufgedeckt werden, bei deren Berücksichtigung unter Beibehaltung der bisher angewandten Gewinnermittlungsart das Betriebsergebnis gemindert wird, so geht diese Auffassung fehl. Der Steuerpflichtige übersieht dabei, daß in einem solchen Fall noch eine weitere Tatsache hervortreten und für die Berichtigungsmöglichkeit bedeutsam werden kann. Es kann zu einem Betriebsergebnis kommen, das einem äußeren Betriebsvergleich nicht mehr standhält, weil es in einem auffallenden und nicht zu erklärenden Mißverhältnis zum Durchschnittsergebnis anderer, vergleichbarer Betriebe steht, wenn man die Gewinnermittlungsmethode des Steuerpflichtigen zugrunde legt. Dann liegt in der Feststellung dieses Mißverhältnisses die Aufdeckung einer weiteren neuen Tatsache. Denn Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 AO kann auch eine Beziehung (vgl. BFH-Urteil V 166/59 U, a. a. O.), also auch das Verhältnis sein, in dem das Betriebsergebnis zum Durchschnittsergebnis anderer Betriebe steht. Führt diese Tatsache zu der Erkenntnis, daß bei ihrem rechtzeitigen Bekanntsein der zu berichtigende Bescheid anders ausgefallen wäre, weil die ihm zugrunde gelegten Feststellungen so nicht getroffen worden wären, dann ist sie auch rechtserheblich. Sie macht den Weg für eine Wiederaufrollung des Steuerfalles frei und rechtfertigt eine höhere Veranlagung, wenn der nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes richtig ermittelte Gewinn geeignet ist, das in dem früheren Bescheid angesetzte Veranlagungsergebnis zu erhöhen.
Geht man hiervon aus, dann war im Streitfall das FA berechtigt und verpflichtet, eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durchzuführen. Die hierzu erforderliche Tatsache lag in der Feststellung des Mißverhältnisses zwischen dem sich bei Berücksichtigung der anderen Tatsachen ergebenden Betriebsergebnis und dem nach den amtlichen Richtsätzen gewöhnlich zu erzielenden Betriebsergebnis. Die Tatsache des Mißverhältnisses rechtfertigte die Annahme, daß der Steuerpflichtige den Gewinn nicht zutreffend ermittelt haben konnte, und gab damit dem FA die Möglichkeit, den Gewinn zu schätzen (§ 217 AO). Da sich bei dieser Schätzung auf der Grundlage eines Bestandsvergleichs unter weitgehender Verwendung der beim Steuerpflichtigen vorgefundenen Unterlagen ein höherer Gewinn ergab, ergab sich folgerichtig eine höhere Veranlagung.
Fundstellen
Haufe-Index 413008 |
BStBl II 1972, 201 |
BFHE 1972, 24 |