Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht, Abgabenordnung Berufsrecht Verfahrensrecht, Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Entscheidungen der Finanzgerichte im Kostenerlaßverfahren gemäß § 319 Abs. 1 AO können nicht mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden. Soweit den Urteilen des Bundesfinanzhofs VII 172/58 U vom 22. März 1961 (BStBl 1961 III S. 244, Slg. Bd. 72 S. 669) und I 385/60 vom 18. September 1963 ("Der Betrieb" 1963 S. 1562) eine andere Auffassung zugrunde liegt, tritt ihr der VI. Senat nicht bei.

 

Normenkette

AO § 319; FGO § 140; GKG § 7; GG Art. 19 Abs. 4; BFHG §§ 4-5

 

Tatbestand

Dem Bf. waren durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. August 1961 die Kosten des Rechtsmittelverfahrens auferlegt worden. Im Berufungsverfahren war streitig gewesen, ob Entschädigungen, die der Bf. von seinem Arbeitgeber erhalten hatte, nach § 3 Ziff. 8 EStG 1955 steuerfrei waren. Das Verwaltungsgericht hatte die Bezüge zur Einkommensteuer herangezogen und die Steuerfreiheit gemäß § 3 Ziff. 8 EStG 1955 verneint, weil keine sozial ungerechtfertigte Kündigung vorgelegen habe. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts legte der Bf. kein Rechtsmittel ein.

Er beantragte aber anschließend beim Finanzamt, ihm aus Billigkeitsgründen die Kosten des Berufungsverfahrens zu erlassen, weil das Verwaltungsgericht die Sache nach seiner Auffassung unrichtig entschieden habe. Es habe § 3 Ziff. 8 EStG 1955 entgegen dem Wortlaut ausgelegt und habe sich dadurch mit den Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs VI 58/57 S vom 21. November 1958 (BStBl 1959 III S. 69, Slg. Bd. 68 S. 176) in Widerspruch gesetzt, wonach dem Wortlaut einer Vorschrift wesentliche Bedeutung für ihre Auslegung zukomme.

Das Finanzamt legte den Antrag dem Verwaltungsgericht zur Entscheidung gemäß § 319 Abs. 2 Ziff. 1 AO vor. Die Kammer lehnte den Antrag durch Beschluß ab und führte aus, es sei nicht unbillig, vom Bf. die Kosten des Verfahrens zu verlangen, nachdem er in der Sache unterlegen sei. über den Antrag des Bf., gegen die Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme die Rb. wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, glaubte das Verwaltungsgericht nicht entscheiden zu brauchen, da der Rechtsmittelweg an den Bundesfinanzhof in Kostenerlaßsachen ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes offen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. war als unzulässig zu verwerfen.

Nach § 319 Abs. 1 AO können Rechtsmittelgebühren ganz oder teilweise erlassen werden, wenn die Einlegung eines Rechtsmittels auf entschuldbarer Unkenntnis der Verhältnisse oder auf Unwissenheit beruht, oder wenn es aus sonstigen Gründen unbillig erscheint, die Kosten nach den gesetzlichen Bestimmungen zu erheben. über den Antrag des Steuerpflichtigen, ihm die Kosten des Berufungsverfahrens zu erlassen, muß gemäß § 319 Abs. 2 Ziff. 1 AO das Finanzgericht (Verwaltungsgericht Berlin) entscheiden. Wird eine Berufung als unbegründet zurückgewiesen, so kann das Berufungsgericht auch die Kosten der Vorinstanz erlassen (Urteil des Reichsfinanzhofs V A 31/21 vom 15. Dezember 1921, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1922 Nr. 173; Riewald, Anm. 2 § 319 AO). Wenn aber der Bundesfinanzhof eine Rb. als unzulässig verwirft oder als unbegründet zurückweist, so kann er nur über die Kosten der Rb. befinden (Urteile des Reichsfinanzhofs V A 187/21 vom 11. Januar 1922, StuW 1922 Nr. 303; V A 139/21 vom 24. Januar 1922, StuW 1922 Nr. 426). Das wird aus dem Wesen der Rb. gefolgert.

Das Verwaltungsgericht nimmt an, Entscheidungen der Finanzgerichte im Verfahren nach § 319 Abs. 2 Ziff. 1 AO könnten mit der Rb. ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwerts angefochten werden. Dieser Ansicht tritt der Senat nicht bei. Der Bundesfinanzhof hat in den Urteilen VII 172/58 U vom 22. März 1961 (BStBl 1961 III S. 244, Slg. Bd. 72 S. 669) und I 385/60 vom 18. September 1963 ("Der Betrieb" 1963 S. 1562) entschieden, daß Kostenerlaßentscheidungen der Finanzgerichte nur bei Erreichen der Streitwertgrenze (ß 286 Abs. 1 AO) angefochten werden könnten, sofern nicht das Finanzgericht die Rb. wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen hat. Das Verwaltungsgericht hat über die besondere Zulassung der Rb. bewußt nicht entschieden.

Der Senat braucht indessen die Vorentscheidung deswegen nicht aufzuheben, weil er entgegen den Urteilen des Bundesfinanzhofs VII 172/58 U und I 385/60 a. a. O. der Auffassung ist, daß Billigkeitsmaßnahmen der Finanzgerichte im Rahmen von § 319 AO überhaupt nicht mit der Rb. anfechtbar sind.

Die Finanzgerichte können Entscheidungen in Kostenerlaßsachen entweder im Urteil selbst oder nachträglich durch einen besonderen Beschluß treffen, wie im Urteil des Bundesfinanzhofs VII 172/58 U, a. a. O. dargelegt ist. Eine gesonderte Entscheidung ist. z. B. erforderlich, wenn der Kostenschuldner erst, nachdem ihm die Entscheidung zur Hauptsache bekanntgeworden ist, einen entsprechenden Antrag stellt. Es kann indessen für die Anfechtbarkeit keinen Unterschied machen, ob das Finanzgericht seine Entscheidung im Urteil selbst oder nachträglich trifft. Der Erlaß von Rechtsmittelkosten durch das Finanzgericht oder die Ablehnung eines entsprechenden Antrags ist eine selbständige Entscheidung des Finanzgerichts. Ergeht sie im Urteil, so handelt es sich um die nur äußere Verbindung einer Sachentscheidung mit einer Billigkeitsmaßnahme (Tipke-Kruse, Anm. 8 zu § 319 AO; Berger, der Steuerprozeß, § 319 Anm. 4).

Der Kostenerlaß des Finanzgerichts ist eine richterliche Maßnahme, die gemäß § 319 Abs. 2 AO von der Kammer getroffen wird, auch wenn das Rechtsmittel seinem vollen Umfang nach zurückgenommen wurde. Gemäß § 319 Abs. 2 Ziff. 2 AO ist zwar zunächst der Vorsitzende der Behörde, gegen deren Entscheidung das Rechtsmittel gerichtet war, zur Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme befugt. Hat jedoch der Kammervorsitzende über einen Kostenerlaß entschieden, so kann innerhalb einer Frist von zwei Wochen die Entscheidung der Kammer angerufen werden (Urteil des Bundesfinanzhofs VII 172/58 U a. a. O.).

Die Entscheidung der Kammer kann aber nicht mit der Rb. an den Bundesfinanzhof angefochten werden, wie der Senat entgegen den Urteilen des Bundesfinanzhofs VII 172/58 U und I 385/60 a. a. O. annimmt, weil es an einer entsprechenden gesetzlichen Regelung fehlt. Die Zuständigkeit des Bundesfinanzhofs ist im Gesetz über der Bundesfinanzhof (BFHG) vom 29. Juni 1950 (BGBl 1950 I S 257) in der Fassung des Steueränderungsgesetzes - StändG - 1961 vom 13. Juli 1961 (BGBl 1961 I S. 981, BStBl 1961 I S. 444) geregelt. Das Gesetz enthält ausdrückliche Zuständigkeitsregelungen nur in den §§ 4 und 5 BFHG. Der Bundesfinanzhof entscheidet in den ihm in § 4 BFHG zugewiesenen Angelegenheiten. Klagen oder Rechtsmittel können gemäß § 5 BFHG, wenn ein Rechtsmittel an den Bundesfinanzhof gegeben ist, bei einem anderen Gericht nicht eingelegt werden. Ein Fall der §§ 4 oder 5 BFHG liegt im Streitfall nicht vor. Die Finanzgerichte werden bei Entscheidungen gemäß § 319 Abs. 1 AO insbesondere nicht im Beschwerdeverfahren tätig.

Auch aus der AO läßt sich die Zuständigkeit des Bundesfinanzhofs für Streitsachen der vorliegenden Art nicht herleiten. Der Reichsfinanzhof hat bereits in dem Urteil VI A 147/22 vom 5. Juli 1922 (StuW 1922 Nr. 927) entschieden, daß Kostenerlaßentscheidungen der Finanzgerichte der Nachprüfung durch den Reichsfinanzhof entzogen seien. Daran hat sich auch durch das StändG 1961, das die §§ 228 und 237 AO neu gefaßt hat, nichts geändert. Die Neufassung des Gesetzes stellt nur klar, daß der Rechtsweg in dem Umfang zulässig sei, wie der Bundesfinanzhof es bereits aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) abgeleitet hatte (vgl. den schriftlichen Bericht des Finanzausschusses des deutschen Bundestages zur Drucksache 2706 S. 11 Ziff. 69). Aus Art. 19 Abs. 4 GG kann indessen für Fälle der vorliegenden Art eine Anfechtungsmöglichkeit nicht hergeleitet werden. Eine Entscheidung über den Kostenerlaß gemäß § 319 Abs. 1 AO durch das Finanzgericht fällt unter den Begriff "Ausübung öffentlicher Gewalt" im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, sondern ist ein richterlicher Akt (vgl. auch Urteil des Senats VI 112/55 U vom 1. Februar 1957, BStBl 1957 III S. 90, Slg. Bd. 64 S. 237).

Der VII. Senat des Bundesfinanzhofs nimmt in seinem Urteil VII 172/58 U a. a. O. an, die Grundsätze der Entscheidung VI 112/55 U a. a. O. seien aufgegeben worden; der I. Senat des Bundesfinanzhofs habe in dem Urteil I 10/58 S vom 16. Februar 1960 (BStBl 1960 III S. 145, Slg. Bd. 70 S. 388) entschieden, daß Streitwertfeststellungen der Finanzgerichte mit der Rb. angefochten werden könnten. Der VII. Senat hält es aber offenbar für ungerechtfertigt, Entscheidungen über die Kosten und über den Streitwert hinsichtlich der Zulässigkeit der Rb. verschieden zu behandeln; entsprechendes gelte auch für Kostenerlaßentscheidungen. Der I. Senat hatte allerdings in seiner Grundsatzentscheidung ausdrücklich betont, daß er die selbständige Anfechtbarkeit von gerichtlichen Kostenentscheidungen nicht zulassen wolle. Der VII. Senat hielt sich durch die Grundsatzentscheidung des I. Senats offenbar für nicht gemäß § 66 Abs. 1 AO gebunden, weil er Kostenerlaßentscheidungen im Sinne von § 319 Abs. 1 AO nicht als Kostenentscheidungen im Sinne des Urteils des I. Senats ansah. Dieser Auffassung tritt der Senat nicht bei. Er hält diese Unterscheidung für nicht begründet und ist der Auffassung, daß auch Kostenerlaßentscheidungen Kostenentscheidungen im Sinne des Urteils I 10/58 S a. a. O. sind, wenngleich das aus dem Urteil nicht unmittelbar hervorgeht.

Es besteht auch keine innere Notwendigkeit, in Fällen der vorliegenden Art das Rechtsmittel der Rb. aus besonderen Gründen, vor allem zu einer wirksamen Verbesserung des Rechtsschutzes für die Steuerpflichtigen, zuzulassen. Die Lage ist hier anders als bei gerichtlichen Streitwertfeststellungen, bei denen man vor allem bestrebt war, das Steuerprozeßrecht anderen Verfahrensordnungen, besonders der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzugleichen. Gerichtliche Entscheidungen über die Kostentragung sind aber auch sonst nicht selbständig und unabhängig von der Entscheidung zur Hauptsache anfechtbar. Einen Kostenerlaß durch das erkennende Gericht nach Abschluß der Instanz kennen andere Verfahrensordnungen im allgemeinen nicht. Gerichtskosten können nur im Einzelfall durch Verwaltungsbehörden erlassen oder niedergeschlagen werden. Dieser Weg ist auch im Besteuerungsverfahren durch § 131 AO eröffnet. Die oberen Bundesgerichte haben vor allem die Rechtseinheit im Bundesgebiet zu sichern. Es ist nicht sinnvoll, sie allzu sehr mit Nebenentscheidungen zu befassen. Die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit garantieren einen richterlichen Schutz, nicht aber etwa auch ohne weiteres zusätzliche gerichtliche Instanzen (Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 9/51, 1 BvL 2/53 vom 21. Oktober 1954, Neue Juristische Wochenschrift 1955 S. 17 (18) unter Ziff. 4 a; Urteile des Bundesfinanzhofs V z 75/54 S vom 25. November 1954, BStBl 1955 III S. 66, Slg. Bd. 60 S. 173; VI 112/55 U, a. a. O.; Kommentar zum Bonner Grundgesetz. Anm. II 4 e. d zu Art. 19; Friesenhahn in "Deutsche Verwaltung" 1949 S. 481 Ziff. II 2 c).

Nach allem hält der Senat die Rb. für unzulässig. Da das Verwaltungsgericht allerdings irrtümlich dem Bf. eröffnet hat, gegen die Kostenerlaßentscheidung sei die Rb. an den Bundesfinanzhof unbeschränkt zulässig, hält der Senat es für geboten, die Rechtsmittelgebühr für die Rb. und die dem Bundesfinanzhof erwachsenen Auslagen gemäß § 319 Abs. 1 AO zu erlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411190

BStBl III 1964, 316

BFHE 1964, 233

BFHE 79, 233

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