Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer Ersatz-(Zustellung); zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Nichtvorfinden der Mitteilung über die Niederlegung
Leitsatz (NV)
1. Für die Wirksamkeit einer (Ersatz-)Zustellung kommt es nicht darauf an, ob der Kläger die Mitteilung über die Niederlegung seinem Briefkasten entnommen oder ob er sie tatsächlich vorgefunden hat.
2. Es ist grundsätzlich Sache des Empfängers, den in seinen Machtbereich gelangten Posteingang zu kontrollieren und ggf. die Empfangsvorrichtungen dem bei ihm anfallenden Postzugang anzupassen.
Normenkette
AO 1977 § 110 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist als Organisator von ... veranstaltungen und als Vermittler von ... tätig. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) schätzte wegen Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärung 1989 die Besteuerungsgrundlagen und setzte durch Bescheid vom 3. Juni 1992 die Umsatzsteuer für dieses Jahr auf ... DM fest. Die vom FA angeordnete Zustellung dieses Bescheids durch die Post erfolgte am 5. Juni 1992 durch Niederlegung bei der Postanstalt, da der Kläger in seiner Wohnung nicht angetroffen worden war. Ausweislich der Postzustellungsurkunde legte der Postbedienstete bei dem vergeblichen Zustellversuch am 4. Juni 1992 eine Benachrichtigung über die Niederlegung in den Hausbriefkasten des Klägers ein. Der niedergelegte Bescheid wurde bei der Postanstalt nicht abgeholt und deshalb am 7. September 1992 an das FA zurückgesandt.
Am 15. September 1992 reichte der Kläger die Umsatzsteuererklärung 1989 ein, in der er einen Überschuß in Höhe von ... DM errechnete. Das FA wertete dies als Einspruch gegen den Bescheid vom 3. Juni 1992 und teilte dem Kläger mit, der Einspruch sei nicht fristgemäß eingegangen. Daraufhin beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er brachte vor, er habe eine Benachrichtigung über die Niederlegung nicht erhalten. Wie es dazu habe kommen können, sei ihm nicht bekannt. Ein Grund könne darin liegen, daß er täglich mehrere Zeitungen erhalte und die Benachrichtigung in einer Zeitung "verschwunden" sei.
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, weil er verspätet eingelegt worden sei und Wiedereinsetzungsgründe nicht vor lägen.
Die vom Kläger hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob die Einspruchsentscheidung des FA mit der Begründung auf, dem Kläger sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne Verschulden verhindert gewesen sei, die Einspruchsfrist einzuhalten. Es müsse angenommen werden, daß die Benachrichtigung sich entweder in Wurfsendungen, Werbebeilagen oder Zeitungen verfangen habe und mit diesen später vom Kläger oder von seiner Lebensgefährtin weggeworfen worden sei. Sollte die Lebensgefährtin des Klägers, die die Post stets sortiert habe, die Mitteilung über die Niederlegung übersehen und zusammen mit ungelesenen Wurfsendungen vernichtet haben, wäre dies dem Kläger nicht zuzurechnen. Sollte sich die Benachrichtigung in einer Zeitung verfangen haben und vom Kläger selbst übersehen worden sein, würde dies kein Verschulden des Klägers begründen. Es übersteige das Maß der zumutbaren Sorgfalt zu verlangen, daß jede Zeitung Seite für Seite darauf durchgeblättert werde, ob nicht zufällig ein anderes Schriftstück hineingeraten sei.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts (§ 110 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Abgabenordnung -- AO 1977 --). Es ist der Ansicht, dem Kläger dürfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden. Zur Wahrung der Rechtssicherheit und des praktikablen Verwaltungshandelns müsse das Übersehen der Benachrichtigung oder deren versehentliche Vernichtung als schuldhaft angesehen werden. Dem Kläger sei auch das Verschulden seiner Lebensgefährtin zuzurechnen, wenn diese die Benachrichtigung versehentlich vernichtet habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das FG hat den Begriff des Verschuldens (§ 110 Abs. 1 AO 1977) verkannt. Die Vorentscheidung war deshalb aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
1. Der mit Einreichung der Umsatzsteuererklärung 1989 erhobene Einspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 3. Juni 1992 war -- wie im erstinstanzlichen Urteil zutreffend dargelegt -- verspätet. Für die Wirksamkeit der (Ersatz-)Zustellung kommt es nicht darauf an, ob der Kläger die Mitteilung über die Niederlegung seinem Briefkasten entnommen oder ob er sie tatsächlich vorgefunden hat (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 2. Juni 1987 VII R 36/84, BFH/NV 1988, 170 unter 1. m. w. N.).
2. Dem Kläger ist nach § 110 AO 1977 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er Tatsachen vorgetragen und glaubhaft gemacht hat, aus denen sich ergibt, daß er ohne Verschulden verhindert war, die Einspruchsfrist einzuhalten. Eine beachtliche Verhinderung läge vor, wenn er -- ohne eigenes Verschulden -- die Mitteilung über die Niederlegung des Umsatzsteuerbescheids bei der Postanstalt nicht erhalten oder von ihr keine Kenntnis erlangt hätte, so daß ihm die Zustellung und der Lauf der Einspruchsfrist nicht bekannt geworden wäre.
Die Wiedereinsetzung wird nicht nur durch grobes Verschulden, sondern bereits durch einfache Fahrlässigkeit ausgeschlossen (vgl. BFH-Beschluß vom 2. Mai 1973 VIII R 72/71, BFHE 109, 297, BStBl II 1973, 663). Eine Fristversäumung ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (vgl. BFH-Urteil vom 24. November 1977 IV R 113/75, BFHE 125, 107, BStBl II 1978, 467 unter I. 1. b). Ebenso wie das Verlegen oder Verlieren eines Schriftstücks grundsätzlich nicht entschuldbar ist (vgl. BFH-Beschluß vom 30. Januar 1990 VII B 165/89, BFH/NV 1990, 682), begründet ein Übersehen der Mitteilung und ihre versehentliche Vernichtung nach der Rechtsprechung des BFH keine schuldlose Unkenntnis von der Zustellung des Schriftstücks (vgl. BFH-Entscheidungen vom 21. Dezember 1967 VI R 210/67, BFHE 91, 218, BStBl II 1968, 295, und in BFH/NV 1988, 170 unter 2.).
3. Das FG hat die Grundsätze dieser Rechtsprechung zum Begriff des Verschuldens i. S. des § 110 Abs. 1 AO 1977 in der Vorentscheidung nicht angewandt, da sich nach seiner Auffassung hieraus eine einseitige Risikoverteilung zu Lasten des Klägers ergibt. Hiermit hat das FG den Begriff des Verschuldens verkannt. Entscheidend für das Vorliegen des Verschuldens i. S. des § 110 AO 1977 ist allein, ob der die Wiedereinsetzung begehrende Kläger bezüglich der in seinen Briefkasten eingelegten Benachrichtigung mit der den Umständen des Falles angemessenen und vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt gehandelt hat. Der Senat stimmt mit der unter 2. angeführten BFH-Rechtsprechung überein, daß allein der Vortrag, eine vom Postbediensteten eingelegte Benachrichtigung sei übersehen oder versehentlich vernichtet worden, nicht geeignet ist, glaubhaft zu machen, die fehlende Kenntnis von der Benachrichtigung sei schuldlos verursacht worden. Für die Annahme des FG einer nicht gerechtfertigten "einseitigen Risikoverteilung ... im Gewaltverhältnis zwischen Bürger und Staat" besteht kein Anhaltspunkt. Es ist grundsätzlich die Sache des Empfängers, den in seinen Machtbereich gelangten Posteingang zu kontrollieren und ggf. die Empfangsvorrichtungen dem bei ihm anfallenden Postzugang anzupassen. Gleichwohl kann er nach den Rechtsgrundsätzen der bezeichneten BFH-Rechtsprechung durch Vortrag von Tatsachen -- sofern diese vorliegen -- glaubhaft machen, daß er trotz der angemessenen und vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt die Mitteilung nicht im Briefkasten finden konnte. Angesichts dessen kommt es im vorliegenden Verfahren -- entgegen der Ansicht des FG -- nicht darauf an, ob das Benachrichtigungsverfahren dadurch verbessert werden sollte, daß die Post eine auffälligere Farbe, eine andere Papierart oder ein größeres Format für ihre Benachrichtigung wählt.
4. Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden. Er ist daran gehindert, eine Würdigung der vom FG festgestellten Tatsachen anhand der zutreffenden Grundsätze zum Verschulden des Klägers i. S. des § 110 Abs. 1 AO 1977 durchzuführen. Da es sich insoweit um eine tatsächliche Würdigung handelt, ist diese dem FG vorbehalten. Die Sache war daher zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, das die Frage des Verschuldens des Klägers an der von ihm behaupteten Nichtkenntnis von der Niederlegung unter Beachtung der Rechtsansicht des Senats erneut zu prüfen haben wird.
Fundstellen