Leitsatz (amtlich)
Der durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gesicherte Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das FG, einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf Antrag des Beteiligten aufzuheben oder zu verlegen, wenn dafür nach den Umständen des Falles, insbesondere nach der Art des Prozeßstoffs oder den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten erhebliche Gründe vorliegen. Bei der Prüfung der Gründe muß das FG zugunsten des Beteiligten berücksichtigen, daß es einzige Tatsacheninstanz ist und der Beteiligte ein Recht darauf hat, seine Sache in der mündlichen Verhandlung selbst zu vertreten.
Normenkette
FGO § 62 Abs. 1, § 155; ZPO § 227
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Steuerberater. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) schätzte die von ihm erzielten Umsätze und Gewinne, weil er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, und erließ entsprechende Veranlagungsbescheide für die Jahre 1962 bis 1968. Am 4. März 1970 ordnete es an, daß beim Kläger eine sich auf die Einkommen-, Umsatz- und Vermögensteuer sowie auf die Einheitsbewertung des Betriebsvermögens für die Jahre 1965 bis 1967 erstreckende Betriebsprüfung stattfinde. Das FG wies die hiergegen erhobene Klage nach der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 1971 durch Urteil vom 1. Februar 1971 ab.
Mit der Revision macht der Kläger geltend: Die mit der Sache befaßten Richter Dr. A, B und C hätten an der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 1971 nicht teilnehmen dürfen, weil er sie durch ein Schreiben vom 18. Januar 1971, das dem FG vor Beginn der Sitzung vorgelegen habe, als befangen abgelehnt habe. Das Ablehnungsgesuch sei zwar durch Beschluß des FG vom 22. Januar 1971 zurückgewiesen worden. Aber für die Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften, nämlich des § 116 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FGO, komme es darauf an, ob die Richter im Sinne des § 1 GVG unabhängig gewesen seien. Nachdem der Beschluß vom 22. Januar 1971 rechtskräftig geworden sei, habe er erfahren, daß das FA beim FG "die unverzügliche Durchführung der mündlichen Verhandlung bestellt" habe. Daraus erkläre sich, weshalb das FG mit unüblicher Hartnäckigkeit sich seinem begründeten Terminsverlegungsantrag widersetzt habe. Lasse sich ein Finanzrichter vom beklagten FA ohne Anhörung des Klägers dazu bestimmen, eine Streitsache vorrangig zu behandeln, so könne von richterlicher Unabhängigkeit keine Rede sein. Die Berufung auf die Geschäftslage habe die Ablehnung des Terminsverlegungsantrags nicht rechtfertigen können, da das FG ohnehin die am 19. Januar 1971 unterbrochene Beratung am 1. Februar 1971 fortgesetzt habe und es demnach möglich gewesen wäre, an diesem Tage auch die mündliche Verhandlung stattfinden zu lassen.
In der Sache selbst habe das FG nicht beachtet, daß sich die Verwaltung durch § 4 Abs. 2 der Betriebsprüfungsordnung(Steuer) vom 23. Dezember 1965 (BStBl I 1966, 46) verpflichtet habe, eine Betriebsprüfung nur für solche Veranlagungszeiträume vorzunehmen, für die Steuererklärungen abgegeben worden seien.
Der Kläger beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und seiner Klage stattzugeben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Es macht geltend: Die Anbringung des Ablehnungsgesuchs am 19. Januar 1971 habe nicht bewirkt, daß das Gericht vorschriftswidrig besetzt gewesen sei oder bei der Entscheidung vom 1. Februar 1971 ein mit Erfolg abgelehnter Richter mitgewirkt habe, zumal das Gesuch zurückgewiesen worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Für den gegenwärtigen Fall, daß die Revision auf Verfahrensmängel gestützt ist und nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO vorliegt, schreibt § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO vor, daß nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden ist. Dieser Grundsatz erleidet indessen insofern eine Ausnahme, als auch ein nicht ausdrücklich gerügter Verfahrensmangel zu berücksichtigen ist, wenn er mit einem gerügten Mangel zusammenhängt (vgl. Urteil des RG vom 14. November 1906 I 167/06, RGZ 64, 278, 280; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 FGO Rdnr. 37; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 118 FGO Rdnr. 8; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., § 137 Rdnr. 16; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 33. Aufl., § 559 Anm. 2 D). Als ein solcher nicht ausdrücklich gerügter Verfahrensmangel kommt hier die Versagung des rechtlichen Gehörs in Betracht (§ 119 Nr. 3 FGO). Er steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rüge, das Gericht sei nicht mit unabhängigen Richtern besetzt gewesen. Daß der Kläger diese Rüge auf § 116 Abs. 1 FGO gestützt hat, ist unerheblich, weil diese Vorschrift wie § 119 Nr. 1 FGO die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts zum Gegenstand hat. Aus dem Vorbringen des Klägers geht hinreichend klar hervor, daß der Kläger auch geltend machen will, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden. Der Kläger hat nämlich die angeblich fehlende Unabhängigkeit der Richter daraus hergeleitet, daß das FG seinen begründeten Terminsverlegungsantrag unter dem Einfluß des FA und in dessen Interesse mit einer unzutreffenden Begründung abgelehnt habe. Die diesbezüglichen Ausführungen des Klägers nehmen in der Revisionsbegründung einen breiten Raum ein und erklären auch das Ablehnungsgesuch.
Das FG hat dem Kläger durch die Ablehnung seines mit Schriftsatz vom 8. Januar 1971 gestellten Antrags, den auf den 19. Januar 1971 bestimmten Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben und neu anzuberaumen, das in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Recht auf Gehör versagt. Nach § 155 FGO in Verbindung mit § 227 Abs. 1 und 3 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen. Wenn erhebliche Gründe im Sinne des § 227 ZPO vorliegen, verdichtet sich die in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessensfreiheit zu einer Rechtspflicht, d. h. der Termin muß in diesen Fällen zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Es kann daher beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von einem "Recht auf Vertagung" gesprochen werden. Welche Gründe als erheblich im Sinne des § 227 ZPO anzusehen sind, richtet sich je nach Lage des Einzelfalles nach dem Prozeßtoff und den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers bzw. seines Prozeßbevollmächtigten (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 25. Januar 1974 10 RV 375/73, HFR 1974, 465, mit weiteren Nachweisen). Der durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gesicherte Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet also das FG, einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf Antrag des Beteiligten aufzuheben oder zu verlegen, wenn dafür nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Prozeßstoff oder den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten, erhebliche Gründe vorliegen. Bei der Prüfung der Gründe muß das FG zugunsten des Beteiligten berücksichtigen, daß es einzige Tatsacheninstanz ist und der Beteiligte ein Recht darauf hat, seine Sache in der mündlichen Verhandlung selbst zu vertreten (vgl. § 62 Abs. 1 FGO).
Der Kläger hatte zur Begründung seines Terminsverlegungsantrags vorgetragen: In der Woche vom 18. bis 22. Januar 1971 halte er sich in München auf, weil der BFH schon im Oktober 1970 in der Sache VI R ... mündliche Verhandlung auf den 22. Januar 1971 anberaumt habe und inzwischen auch in der Sache III R ... wegen seines - des Klägers - mehrtägigen, mit der Wahrnehmung anderer Mandate verbundenen Aufenthalts in München einen Verhandlungstermin in diese Woche verlegt habe. Außerdem sei in der Sache III (V) ... vor dem FG München mündliche Verhandlung auf den 22. Januar 1971 anberaumt. Der Senatsvorsitzende Dr. A lehnte den Antrag am 11. Januar 1971 mit der Begründung ab, die Geschäftslage lasse es nicht zu, den bereits Anfang Dezember 1970 auf den 19. Januar 1971 anberaumten Termin zu verlegen. Nach einer Gegenvorstellung des Klägers vom 12. Januar 1971 erklärte er diesem mit Schreiben vom 14. Januar 1971, der von ihm gewünschte Beschluß des Gerichts über die Frage der Terminsverlegung sei im Gesetz nicht vorgesehen und daher auch nicht möglich. Die dem Vorsitzenden obliegende Terminsbestimmung sei nach § 128 Abs. 2 FGO unanfechtbar. Der Senat habe in vollständiger Besetzung über den Antrag des Klägers mit diesem Ergebnis beraten, und zwar unter Mitwirkung der Finanzgerichtsräte B und C. Die Geschäftslage zwinge dazu, in entscheidungsreifen Sachen, in denen Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt sei, diese Verhandlung auch durchzuführen. Die vom Kläger behauptete Handhabung durch andere Vorsitzende gebe keinen Anlaß, von dieser Praxis abzugehen. Die Finanzgerichtsordnung erfordere eine Anwesenheit der Beteiligten bei der mündlichen Verhandlung nicht. Außerdem hätten die Beteiligten die Möglichkeit, sich im Verhandlungstermin vertreten zu lassen. Die persönliche Anwesenheit des Klägers sei von der Sache her nicht erforderlich, da nur über Rechtsfragen zu entscheiden sei, die bereits in den Schriftsätzen ausführlich erörtert seien.
Aus der Sachlage ergeben sich erhebliche Gründe im Sinne des § 227 ZPO und damit ein Recht des Klägers auf die Aufhebung des Termins vom 19. Januar 1971. Der Kläger konnte diesen Termin nicht wahrnehmen, wenn er sich in der Woche vom 18. bis 22. Januar 1971 in München aufhielt, um an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen, die der VI. Senat des BFH und das FG München in zwei Sachen auf den 22. Januar 1971 und der III. Senat des BFH in einer weiteren Sache auf einen anderen Tag dieser Zeitspanne anberaumt hatten. Der Vorsitzende hat dies in seinem Schreiben vom 14. Januar 1971 nicht angezweifelt. Er hat sich insofern nur darauf berufen, daß die bereits in den Schriftsätzen ausführlich erörterte Sache eine persönliche Anwesenheit des Klägers im Termin vom 19. Januar 1971 nicht erfordere und daß im übrigen der Kläger sich vertreten lassen könne. Diese Gesichtspunkte konnten die Ablehnung des Vertagungsantrages nicht rechtfertigen, da der Kläger auch dann ein Recht darauf hatte, seine Sache in der mündlichen Verhandlung selbst zu vertreten, wenn die Sache nach Ansicht des Vorsitzenden bereits in den Schriftsätzen ausführlich erörtert war. Gegenüber dem sich aus erheblichen Gründen im Sinne des § 227 ZPO ergebenden Vertagungsanspruch des Klägers konnte sich der Vorsitzende nicht auf die angeblich angespannte Geschäftslage und auf die Entscheidungsreife der Sache berufen (vgl. BSG-Urteil 10 RV 375/73).
Wenn, wie hier, einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war, ist gemäß § 119 Nr. 3 FGO das Urteil als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen. Das Urteil des FG war daher aufzuheben, und die Sache war nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, ohne daß es eines Eingehens auf die weiteren Rügen nach § 119 Nr. 1 und 2 FGO ankäme.
Fundstellen
Haufe-Index 71675 |
BStBl II 1976, 48 |
BFHE 1976, 19 |