Leitsatz (amtlich)
1. Keine steuerfreie Grundstücksvermietung, sondern eine steuerpflichtige Einlagerung liegt vor, wenn ein Unternehmer außer der Lagerung den Umschlag, die Bearbeitung und die Aufbewahrung des ihm übergebenen Gutes übernimmt.
2. Die Grundsätze von Treu und Glauben können aus verschiedenen Gründen (u. a. Zusage, widersprüchliches Verhalten des FA, Verwirkung) der Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles anläßlich einer Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO entgegenstehen.
Normenkette
UStG 1951 § 4 Nr. 10; AO § 94 Abs. 1 Nr. 2, § 100 Abs. 2, § 222 Abs. 1 Nr. 1; BGB §§ 535-536; HGB § 416 ff.
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Steuerpflichtiger) betreibt die Großlagerei. In einem seiner Lagerhäuser werden seit 1951 für X Getreide- und Futtermittelvorräte eingelagert. Der Steuerpflichtige übernimmt vertragsgemäß außer der Lagerung den Umschlag (Ein- und Auslagerung) sowie eine während der Lagerzeit etwa erforderlich werdende Bearbeitung des ihm übergebenen Gutes. Er hafter für Verluste und Beschädigungen des Lagergutes. Als Lagergeld wird ihm für jeden Kalendermonat ein bestimmter Tonnensatz vergütet. Außerdem erhält er Ein- und Auslagerungsgebühren, Sackbänder- und Aspirationskostenersatz, Sackungsgebühren und andere Bearbeitungsgebühren, die zusammen im Durchschnitt etwa 1/4 des Lagergeldes ausmachen.
Bei einer im April 1952 für die Jahre 1948 bis 1950 durchgeführten Betriebsprüfung entstand Streit darüber, ob das Lagergeld gemäß § 4 Nr. 10 UStG von der Umsatzsteuer befreit sei. Entgegen dem Standpunkt des Steuerpflichtigen unterwarf das FA, dem Vorschlag des Betriebsprüfers folgend, bei der Veranlagung für den Veranlagungszeitraum 1951 das Lagergeld der Umsatzsteuer. Im Verlauf des hiergegen eingeleiteten Einspruchsverfahrens statteten der damalige Umsatzsteuer-Hauptsachgebietsleiter und der zuständige Sachbearbeiter des FA dem Lagereibetrieb des Steuerpflichtigen am ... 1954 einen Besuch ab. Auf Grund der Besichtigung des Lagerhauses und der Angaben des Steuerpflichtigen kamen sie zu dem Ergebnis, daß der Umschlag und die Bearbeitung des Lagergutes Vorgänge seien, die umsatzsteuerlich von der eigentlichen Einlagerung getrennt beurteilt werden müßten; die Einlagerung sei als Vermietung eines Grundstückes im Sinne des § 4 Nr. 10 UStG 1951 anzusehen. Dementsprechend änderte das FA die Umsatzsteuerveranlagung für 1951 dahin ab, daß es das streitige Lagergeld steuerfrei ließ. Bei einer im März 1955 für die Veranlagungszeiträume 1951 bis 1953 durchgeführten Betriebsprüfung beanstandete der Prüfer unter Hinweis auf die Auffassung des FA die Nichtversteuerung des Lagergeldes nicht.
Im Juli und August 1959 fand beim Steuerpflichtigen wiederum eine Betriebsprüfung statt. Hierbei wurden auf einem anderen Gebiet neue Tatsachen festgestellt, die zur Berichtigung der rechtskräftigen Umsatzsteuerveranlagungen für 1952 bis 1955 und der vorläufigen Umsatzsteuerveranlagung für 1956 führten. Diese Gelegenheit nahm das FA zum Anlaß, die Umsatzsteuerveranlagungen für 1952 bis 1956 mit der Begründung, es lägen keine steuerfreien Grundstücksvermietungen, sondern steuerpflichtige Leistungen eines Lagerhalters vor, auch hinsichtlich des Lagergeldes zu ändern und dieses nachträglich zur Umsatzsteuer heranzuziehen. Gleichzeitig ergingen die erstmaligen Umsatzsteuerbescheide für 1957 und 1958, in denen das Lagergeld ebenfalls der Umsatzsteuer unterworfen wurde.
Im Berufungsverfahren beharrte der Steuerpflichtige auf seinem Standpunkt, das Lagergeld sei als Entgelt für eine Grundstücksvermietung gemäß § 4 Nr. 10 UStG 1951 von der Umsatzsteuer freizustellen. Bei der Beurteilung eines Vertragsverhältnisses, das Merkmale eines Mietvertrages und Merkmale anderer Vertragsarten aufweise, komme es darauf an, was nach dem Gesamtbild das Wesentliche sei; aus den erzielten, je für sich vereinbarten und berechneten Entgelten für die Raumüberlassung einerseits und die übrigen Leistungen anderseits, die im Verhältnis 4 : 1 stünden, ergebe sich, daß die Grundstücksvermietung im Vordergrund stehe. Es bestehe daher kein Grund, sie nicht nach § 4 Nr. 10 UStG 1951 steuerfrei zu lassen. Außerdem verstoße das Abweichen des FA von einer von ihm selbst jahrelang vertretenen und durch Änderung der Umsatzsteuerveranlagung 1951 gemäß § 94 AO im Einspruchsverfahren 1951 bekräftigten Rechtsauffassung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben; auch bedürfe die Rechtsprechung des RFH und des BFH, nach der bei einer Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Gesamtaufrollung des Steuerfalles stattzufinden habe, einer Überprüfung.
Im Verlaufe des Rechtsstreites ließ das FA die Steuernachforderung für den Veranlagungszeitraum 1954 mit der Begründung fallen, es lägen keine neuen Tatsachen von einigem Gewicht vor.
Die Berufung des Steuerpflichtigen betreffend die Jahre 1952, 1953, 1955 und 1958 blieb ohne Erfolg. Im Hinblick auf die vom Steuerpflichtigen nicht angegriffenen Ergebnisse einer zwischenzeitlich stattgefundenen Betriebsprüfung verböserte das FG die Umsatzsteuerveranlagungen für 1956 und 1957.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandelnde Rechtsbeschwerde des Steuerpflichtigen (vgl. § 184 Abs. 2, §§ 115 ff. FGO) führt hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1952, 1953 und 1955 zur Aufhebung der Vorentscheidung und Neufestsetzung der Umsatzsteuer. Hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1956 bis 1958 ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
I.
Hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung des Lagergeldes ist dem FG im Ergebnis beizupflichten.
1. Bei dem Vertrage zwischen dem Steuerpflichtigen und X handelt es sich weder ganz noch teilweise um einen Mietvertrag. Nach § 535 BGB wird durch den Mietvertrag der Vermieter verpflichtet, dem Mieter den Gebrauch der vermieteten Sache während der Mietzeit zu gewähren. Die Verpflichtung des Vermieters erschöpft sich darin, die vermietete Sache dem Mieter in einem zu dem vertragsmäßigen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und sie während der Mietzeit in diesem Zustand zu erhalten (§ 536 BGB). Auch wenn in dem "Lagerfragebogen" die Lagerräume nach Größe und Beschaffenheit bezeichnet waren, hatte der Steuerpflichtige dem X nicht Raum für Lagerzwecke zu überlassen, sondern ihm übergebene Wirtschaftsgüter sachgemäß zu lagern und aufzubewahren. Es oblag ihm, das Lagergut ein- und auszulagern, es zu beobachten, um Verluste und Beschädigungen abzuwenden und es zwecks Gesunderhaltung zu bearbeiten (umschaufeln zu lassen). Ein solcher Vertrag weist die typischen Merkmale des "Lagergeschäfts" (§§ 416 bis 424 HGB) auf. Die der Miete fremde, dem Lagergeschäft dagegen eigentümliche Pflicht zur Inobhutnahme des eingelagerten Gutes zeigt sich im Streitfalle besonders deutlich darin, daß der Steuerpflichtige für Verluste und Beschädigungen haftete. Eine Haftung des Vermieters für die Erhaltung der Menge und Beschaffenheit der vom Mieter in die vermieteten Räume eingebrachten Gegenstände widerspricht dem Wesen des Mietvertrages; Vertragsgegenstand ist bei der Raumvermietung der Raum und nicht das in ihm eingelagerte Gut (Urteil des RFH V 7/43 vom 7. Januar 1944, RStBl 1944, 493).
2. Der Senat hat es in einem ähnlich liegenden Fall für die Annahme eines Lagerungsvertrages sogar für steuerlich unschädlich gehalten, daß das Entgelt nicht - wie im Streitfall - nach dem Gewicht des Lagergutes, sondern nach der Fläche der für den Vertragspartner bereitgestellten, genau bezeichneten Lagerräume bemessen war (vgl. Urteil des BFH V 273/63 vom 5. Mai 1966, Umsatzsteuer-Rundschau 1967 S. 193 - UStR 1967, 193 -). Aus solchen Vereinbarungen ergebe sich - so wird in dem Urteil ausgeführt - nicht zwingend, daß die Vertragsräume dem Vertragspartner zum Gebrauch überlassen würden; solche Vereinbarungen könnten vielmehr auch dahin verstanden werden, daß der Eigentümer des Lagerhauses selbst entsprechend seiner Gewerbetätigkeit und der von ihm übernommenen Aufgaben als Lagerhalter (Aufbewahrung und Inobhutnahme des Lagergutes) die Vertragsräume für seine Lagerungsgeschäfte mit dem Vertragspartner zu gebrauchen habe. Im Streitfalle muß dies erst recht gelten, weil der Vertrag - anders als im Vergleichsfalle - im Lagergeschäft weniger übliche Sonderabmachungen nicht enthielt.
3. Da der Vertrag zwischen dem Steuerpflichtigen und X ein typisches "Lagergeschäft" im Sinne der §§ 416 ff. HGB ist, bedarf es einer weiteren Prüfung der Wesensart der vom Steuerpflichtigen X gegenüber erbrachten Einzelleistungen nicht. Nur wenn ein Vertragsverhältnis neben Merkmalen anderer Vertragsarten Merkmale eines Mietvertrages aufweist, was - wie dargelegt - für den Streitfall nicht zutrifft, kommt es darauf an, was nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse das Wesentliche darstellt. Aber selbst wenn sich in den Beziehungen des Steuerpflichtigen zu X Merkmale der Miete finden ließen, wäre der vom Steuerpflichtigen besonders herausgestellten Tatsache, daß für Teilleistungen Einzelentgelte vereinbart und berechnet wurden und daß das Lagergeld rd. das Vierfache der Vergütungen für die neben der Lagerung bewirkten Leistungen ausmachte, keine Bedeutung beizumessen. Es entscheidet - wie der Senat in dem vom Steuerpflichtigen angeführten Urteil V 4/51 U vom 19. Dezember 1952 (BFH 57, 249, BStBl III 1953, 98) betont hat - nicht die ziffernmäßige Aufteilung des Entgelts auf mehrere in einem gemischten Vertrag übernommene Leistungen, sondern allein das Wesen dieser Leistungen.
4. Schließlich wäre der Entscheidung des FG, daß der Steuerpflichtige dem X gegenüber ausschließlich ein Lagergeschäft bewirkt hat, selbst dann beizutreten, wenn festgestellt wäre, daß die Vertragsparteien neben der Vereinbarung über die Lagerungsleistungen ausdrücklich einen Mietvertrag über die Lagerräume abgeschlossen haben. Denn dieser Mietvertrag würde dann nach den Besonderheiten des Falles die Einschränkung enthalten, daß der Mieter die gemieteten Räume dem Vermieter zur Erbringung der vereinbarten Lagerungs- und Aufbewahrungstätigkeit sofort wieder zur Verfügung zu stellen hätte. Da es für die umsatzsteuerliche Beurteilung des Geschäfts nicht auf die getroffenen Vereinbarungen, sondern auf die tatsächlichen Leistungen ankommt, wäre eine solche "Vermietung" ohne wirkliche Gebrauchsüberlassung lediglich als Modifikation des Lagergeschäfts zu bewerten (Urteil des BFH V 273/63 vom 5. Mai 1966, a. a. O.).
Aus allen diesen Gründen hat das FG zu Recht das Vorliegen einer nach § 4 Nr. 10 UStG steuerfreien Grundstücksvermietung verneint.
II.
Was die Berichtigungsveranlagungen anbelangt, so kann der Auffassung des FG nur teilweise gefolgt werden.
1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß nach der ständigen Rechtsprechung des RFH und BFH bei einer Berichtigung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO der gesamte Steuerfall wieder aufgerollt wird, mit anderen Worten, daß die neue Steuerfestsetzung so zu treffen ist, als sei sie die erste. Eine Bindung an die der ursprünglichen Veranlagung zugrunde liegenden Beurteilungen tatsächlicher oder rechtlicher Art ist danach nicht geboten. Die Berichtigung erstreckt sich nach dieser Rechtsprechung außer auf die neuen Tatsachen und ihre Auswirkungen auch auf etwaige in der ursprünglichen Veranlagung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen enthaltene fehlerhafte rechtliche Schlüsse (vgl. z. B. Urteile des BFH I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BFH 76, 282, BStBl III 1963, 100). Die Auffassung des Steuerpflichtigen, eine Gesamtaufrollung des Steuerfalls laufe rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwider, trifft nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluß 2 BvR 91, 271/64 vom 4. November 1965 (BStBl I 1966, 412) entschieden, daß die diesbezügliche Rechtsprechung des BFH weder gegen ein Grundrecht noch sonst gegen das Grundgesetz verstößt, sich an die hergebrachten Methoden der Gesetzesauslegung hält und das Prinzip der Gewaltenteilung nicht verletzt.
2. Die Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und die Ausdehnung dieser Vorschrift auf falsche rechtliche Beurteilungen bei der ursprünglichen Veranlagung im Wege der Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalls können aber nach Treu und Glauben ausgeschlossen sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn das FA hinsichtlich eines rechtlich zweifelhaften Sachverhalts nach Verhandlungen mit dem Steuerpflichtigen eine Zusage für eine bestimmte Behandlung gegeben hat und die Zusage für den Steuerpflichtigen die Grundlage seiner wirtschaftlichen Dispositionen war (vgl. Urteile des BFH I 176/57 U vom 18. November 1958, BFH 68, 137, BStBl III 1959, 52; V 264/58 U vom 21. Juli 1960, BFH 71, 619, BStBl III 1960, 480; VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, BFH 80, 314, BStBl III 1964, 587). Es ist nicht zu beanstanden, daß das FG diesen Ausnahmefall nicht als gegeben angesehen hat. Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. z. B. das Urteil VI 96/60 vom 24. April 1961, HFR 1962, 133) steht die Tatsache, daß einer Veranlagung eine bestimmte Rechtsansicht zugrunde gelegt worden ist, einer Auskunft, die vom Steuerpflichtigen erkennbar im Hinblick auf von ihm zu treffende Dispositionen angefordert wurde, nicht ohne weiteres gleich. Dasselbe muß gelten, wenn die Rechtsansicht nicht die Grundlage einer Veranlagung, sondern einer Einspruchsentscheidung oder - wie im Streitfalle - eines im Einspruchsverfahren ergangenen Abhilfebescheides gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO war. Eine solche Entscheidung, die den Rechtsstreit für einen bestimmten Veranlagungszeitraum beendet, hindert zwar regelmäßig das FA daran, für diesen Veranlagungszeitraum bei einer späteren Wiederaufrollung des Steuerfalles nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten des Steuerpflichtigen von der im Rechtsmittelverfahren vertretenen Rechtsauffassung abzuweichen (Urteil des BFH I 54/64 S vom 16. März 1965, BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388). Hinsichtlich derjenigen Veranlagungszeiträume, auf die sich der Rechtsstreit nicht bezog, ist das FA an die in der Einspruchsentscheidung bzw. im Abhilfebescheid vertretene Rechtsauffassung im Rahmen einer Wiederaufrollung des Steuerfalls anläßlich einer Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO grundsätzlich aber nicht gebunden; denn bei den Veranlagungssteuern, zu denen die Umsatzsteuer gehört, sind die Grundlagen der Besteuerung für jeden Steuerabschnitt neu festzustellen, mithin Sachverhalt und Rechtslage neu zu prüfen (Urteil des BFH I 111/65 vom 22. Mai 1968, BFH 92, 433, BStBl II 1968, 547).
Die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalls anläßlich einer Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO hat der BFH weiterhin dann als mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht vereinbar angesehen, wenn das FA durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, daß der Steuerpflichtige eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr zu erwarten habe (vgl. die Urteile des BFH IV 40/51 U vom 3. Oktober 1951, BFH 55, 494, BStBl III 1951, 202; III 143/61 U vom 21. Februar 1964, BFH 79, 562, BStBl III 1964, 437; VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, BFH 80, 314, BStBl III 1964, 587). Einen solchen Fall hat der Senat (vgl. Urteil V 181/63 vom 15. Dezember 1966, BFH 87, 469, BStBl III 1967, 212) dann als vorliegend erachtet, wenn in einem dem Steuerpflichtigen bekanntgegebenen Betriebsprüfungsbericht ein zuvor mit ihm erörterter Vorgang als umsatzsteuerfrei angesehen wurde und das FA diesen Vorgang bei den Veranlagungen jahrelang als umsatzsteuerfrei behandelt hat. Es müsse in diesen Fällen zwischen erstmaligen Veranlagungen und Berichtigungs veranlagungen unterschieden werden. Bei der Frage der Wiederaufrollung handele es sich um den Bestand einer rechtskräftig abgeschlossenen Veranlagung. Hier sei die Handlungsfreiheit des FA durch den Grundsatz der Rechtssicherheit stärker eingeschränkt als bei der laufenden Veranlagung. Der Steuerpflichtige müsse darauf vertrauen können, daß das FA von einer klar geäußerten Rechtsauffassung, auf die er sich bei seinen wirtschaftlichen oder finanziellen Dispositionen verlassen habe, für die Vergangenheit nicht nachträglich abweiche (Urteile des BFH I 90/57 U vom 3. Dezember 1958, BFH 68, 140, BStBl III 1959, 53; V 264/58 U vom 21. Juli 1960, BFH 71, 619, BStBl III 1960, 480; VI 65/64 vom 12. März 1965, HFR 1965, 514).
Der Streitfall liegt, soweit er den Veranlagungszeitraum 1955 betrifft, ähnlich. Zwar hatte der Prüfer bei der Betriebsprüfung vom April 1952 die Streitfrage, ob die Leistungen des Steuerpflichtigen teilweise eine steuerfreie Grundstücksvermietung darstellen, verneint, und das FA war dieser Rechtsauffassung bei der Veranlagung für 1951 zunächst gefolgt. In dem sich anschließenden Einspruchsverfahren aber hatte das FA nach einer Betriebsbesichtigung und nochmaligen Erörterung der Streitfrage mit dem Steuerpflichtigen am 11. Mai 1954 dessen Rechtsansicht gebilligt und den Streit durch Abhilfebescheid gemäß § 94 AO vom 3. Juni 1954 zugunsten des Steuerpflichtigen erledigt. Bei der Betriebsprüfung vom März 1955 war der Prüfer nochmals auf die Rechtsfrage eingegangen, hatte aber keinen Anlaß gesehen, dem FA ein Abweichen von der bisherigen Rechtsansicht vorzuschlagen. Es ist anzunehmen, daß bei einer so intensiven Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse das Für und Wider der gegenseitigen Standpunkte sorgfältig abgewogen worden ist. Unter diesen besonderen Umständen konnte der Steuerpflichtige darauf vertrauen, daß die sich anschließende Veranlagung für 1955 nach Erlangung der Rechtskraft Bestand haben würde. Es wäre ein übertriebener Formalismus, wollte man verlangen, der Steuerpflichtige hätte sich dies vom FA zusätzlich schriftlich (oder mündlich) zusichern lassen müssen. Die Rechtskraft bildet für eine anderweitige rechtliche Beurteilung von Sachverhalten, die mit den bei einer Betriebsprüfung neu festgestellten Tatsachen nichts zu tun haben, zwar keine unüberwindliche Schranke, wohl aber eine Schwelle, die ohne Verletzung von Treu und Glauben dann nicht überschritten werden darf, wenn die vom FA dem Steuerpflichtigen gegenüber geäußerte Rechtsauffassung auf einer gründlichen Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse und einer eingehenden Erörterung der Streitfrage zwischen den Beteiligten beruht. Selbst wenn der streitige Lagerungsvertrag langfristig war, ist nicht auszuschließen, daß es dem Steuerpflichtigen gelungen wäre, im Falle einer endgültigen Versagung der Steuerfreiheit im Verhandlungswege eine die Umsatzsteuer-Differenz deckende Erhöhung des Lagerungspreises zu erzielen.
Diese Gesichtspunkte kommen für die Veranlagungen 1951 und 1953 deshalb nicht zum Tragen, weil zu der Zeit, zu der der Steuerpflichtige seine wirtschaftlichen und finanziellen Dispositionen für diese Jahre getroffen hatte, das FA von seiner ursprünglichen (zutreffenden) Rechtsauffassung, das Lagergeld sei zur Umsatzsteuer heranzuziehen, noch nicht abgewichen war. Dem entgegengesetzten Standpunkt des Steuerpflichtigen hatte sich das FA erst nach der Betriebsbesichtigung vom 11. Mai 1954 angeschlossen. Trotzdem ist die Einbeziehung der Streitfrage in die Berichtigungsveranlagungen für 1952 und 1953 zu Unrecht erfolgt. Die Geltendmachung der vom FA insoweit erhobenen Ansprüche war im Zeitpunkt der Berichtigungsveranlagungen (November 1959) verwirkt. Besondere Dispositionen, die in ursächlichem Zusammenhang mit dem Verhalten des FA stehen müssen, sind bei der Verwirkung nicht erforderlich (vgl. Urteil des Senats V 91/63 U vom 16. September 1965, BFH 83, 441, BStBl III 1965, 657). Es genügt vielmehr, wenn sich ein Steuerpflichtiger infolge eines positiven Verhaltens des FA darauf einrichten durfte, daß er mit einer Steuernachforderung nicht mehr zu rechnen brauchte, und wenn seitdem ein längerer Zeitraum verstrichen ist (vgl. Urteil des BFH II 137/60 U vom 7. Februar 1962, BFH 75, 628, BStBl III 1962, 496). Das positive Verhalten des FA bestand in seiner Erklärung, die streitige Tätigkeit des Steuerpflichtigen auf Grund der Betriebsbesichtigung vom 11. Mai 1954 nunmehr als steuerfrei zu beurteilen, und in der entsprechenden Änderung des Umsatzsteuerbescheides 1951 gemäß § 94 AO. Seit damals bis zur Betriebsprüfung 1959 waren mehr als fünf Jahre vergangen. Da sich in diesem Zeitraum die preislichen Verhältnisse im Lagergeschäft - ebenso wie in der übrigen Wirtschaft - geändert haben dürften, ist davon auszugehen, daß der Steuerpflichtige bei seinen Kalkulationen die vom FA zugebilligte Steuerfreiheit berücksichtigt hat. Wegen der Länge der verstrichenen Zeit erschien es dem Senat untunlich, hierüber noch Ermittlungen anstellen zu lassen.
Hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1956 bis 1958 ist die Rechtslage anders. An die Umsatzsteuerveranlagung für 1956 (Bescheid vom 22. Januar 1959) war das FA bei der Wiederaufrollung des Steuerfalles auf Grund der Betriebsprüfung vom Juli/August 1959 deshalb nicht gebunden, weil es die Umsatzsteuer für diesen Steuerabschnitt unbeschränkt vorläufig (§ 100 Abs. 2 AO) festgesetzt hatte. Für 1957 und 1958 stand bei der Betriebsprüfung 1959 die Umsatzsteuerveranlagung noch aus. Für diese Veranlagungszeiträume gilt in vollem Umfange der Grundsatz, daß die FÄ an falsche Rechtsauffassungen, die sie früheren Veranlagungen zugrunde gelegt haben, bei späteren Veranlagungen nicht gebunden sind, daß sie vielmehr eine falsche Rechtsansicht vom ehestmöglichen Zeitpunkt ab, also in der Regel bei der nächsten Veranlagung, aufgeben müssen (Urteil des BFH V 92/61 S vom 16. Juli 1964, BFH 80, 446, BStBl III 1964, 634). Hier tritt die Forderung nach Steuergerechtigkeit mit der Forderung nach Rechtssicherheit nicht in Widerstreit. Jeder Steuerpflichtige, bei dem regelmäßig Betriebsprüfungen stattfinden, weiß, daß die Grundlagen der Besteuerung bei jeder Veranlagung erneut zu prüfen sind. Von einer mißbräuchlichen verspäteten Rechtsausübung (Verwirkung) kann in diesen Fällen keine Rede sein.
Bezüglich der Veranlagungszeiträume 1952, 1953 und 1955 war daher die Vorentscheidung aufzuheben und die Umsatzsteuer um die auf die Lagergelder entfallende Umsatzsteuer zu kürzen. Im übrigen war die Revision des Steuerpflichtigen als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen