Entscheidungsstichwort (Thema)
Anpassung eines Folgebescheids bei Änderung des Grundlagenbescheids
Leitsatz (NV)
1. Der Bescheid über die gesonderte Feststellung des Wertes der nichtnotierten Anteile an einer Kapitalgesellschaft ist im Verhältnis zur Vermögensteuerfestsetzung ein Grundlagenbescheid im Sinne des § 171 Abs. 10 AO 1977.
2. Das für den Erlaß des Folgebescheids zuständige FA ist zur Anpassung des Folgebescheides an den Grundlagenbescheid auch dann verpflichtet, wenn es einen Grundlagenbescheid übersehen oder dessen Inhalt nicht oder nicht in der richtigen Weise in den Folgebescheid übernommen hat. Dies gilt auch dann, wenn ein zunächst nicht oder fehlerhaft ausgewerteter Grundlagenbescheid später geändert wird und das FA aus dem Änderungsbescheid die entsprechenden Folgerungen ziehen möchte.
3. Nach § 171 Abs. 10 AO 1977 ist der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Folgesteuer im Ausmaß der Bindungswirkung des Grundlagenbescheides gehemmt, soweit und solange in offener Feststellungsfrist ein Feststellungsbescheid, der für die Festsetzung einer Steuer bindend ist, noch zulässig ergehen kann. Die Hemmung knüpft an die bloße rechtliche Möglichkeit an, daß ein Grundlagenbescheid ergeht, aufgehoben oder geändert wird; sie setzt - anders als die anderen Hemmungsgründe in § 171 AO 1977 - kein reales Ereignis voraus.
Normenkette
AO 1977 § 169 Abs. 2 Nr. 2, § 170 Abs. 2 Nr. 1, § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Nr. 1, § 182 Abs. 1; BewG §§ 113a, 114 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ am 28. März 1979 gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung einen Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1977. Dabei ging er - wie vom Kläger in seiner Vermögensteuererklärung angegeben - von einem gemeinen Wert der Aktienbeteiligung des Klägers an der X-AG in Höhe von 371003 DM aus.
Auf Anfrage des FG teilte das für die gesonderte Wertfeststellung örtlich zuständige FA Y am 20. August 1979 mit, der gemeine Wert der Anteile des Klägers an der X-AG betrug nach unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehender Feststellung für je 100 DM des Nennbetrages der Aktien 171 DM. Dies ergebe bei einer Aktienbeteiligung des Klägers von 419100 DM einen Gesamtwert von 716661 DM. Diese Mitteilung hat nicht zu einer Änderung der Vermögensteuerfestsetzung durch das beklagte FA geführt.
Nach vorangegangener Außenprüfung erließ das FA am 12. Juni 1985 einen geänderten Feststellungsbescheid, mit dem der gemeine Wert der Aktien des Klägers für je 100 DM auf 146 DM (Vorzugsaktien) bzw. 128 DM für die Stammaktien festgestellt wurde. Hieraus ergab sich ein Gesamtwert der Aktien des Klägers von 552728 DM. Der Bescheid wurde am selben Tage zur Post gegeben. Aufgrund entsprechender Mitteilung des FA Y erließ das beklagte FA am 9. Juni 1986 einen geänderten Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1977.
Mit Einspruch und Klage, die beide erfolglos blieben, machte der Kläger geltend, wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung sowie wegen der unterlassenen Auswertung der Mitteilung des FA Y vom 20. August 1979 sei das FA an der Änderung der Vermögensteuerfestsetzung gehindert gewesen.
Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1991, 298 veröffentlicht.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt der Kläger sinngemäß unrichtige Anwendung des § 171 Abs. 10 der Abgabenordnung (AO 1977). Das FG habe nicht beachtet, daß die Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 durch die zeitliche Bindung des § 171 Abs. 1 Nr. 10 AO 1977 eingeschränkt sei. Da es das FA unterlassen habe, die ihm mitgeteilte frühere Feststellung innerhalb der Jahresfrist des § 171 Abs. 10 AO 1977 zum Gegenstand einer geänderten Vermögensteuerfestsetzung zu machen, sei auch bei einer späteren Änderung der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen - im Rahmen der unbeachtet gebliebenen Feststellung - eine Änderung des Folgebescheids nicht mehr möglich.
Das FA vertritt die Auffassung, § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 eröffne dem FA unabhängig von den allgemeinen Verjährungsvorschriften die Möglichkeit zur Änderung des Folgebescheids. Es gebe so lange keine Bestandsgarantie für einen Folgebescheid, solange die Festsetzungsfrist für den jeweiligen Grundlagenbescheid noch nicht abgelaufen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das FG ist ohne Rechtsverstoß zu dem Ergebnis gelangt, daß das FA den angefochtenen geänderten Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1977 erlassen durfte.
Gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid i.S. von § 171 Abs. 10 AO 1977, dem Bindungswirkung für diesen Bescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall vor.
1. Durch den Erlaß des geänderten Feststellungsbescheides vom 12. Juni 1985 betreffend den Wert der Aktienbeteiligung des Klägers an der X-AG auf den 31. Dezember 1976 wurde für die Vermögensteuerfestsetzung auf den 1. Januar 1977 verbindlich festgestellt, daß der Wert dieser Aktien 552728 DM betrug. Rechtsgrundlage für die gesonderte Feststellung der Anteilswerte ist § 113a des Bewertungsgesetzes (BewG). Danach ist der Wert nichtnotierter Anteile an Kapitalgesellschaften gesondert festzustellen. Diese gesondert festgestellten Werte sind bei der für die Veranlagung zur Vermögensteuer vorzunehmenden Ermittlung des Gesamtvermögens (§ 114 Abs. 1 BewG) anzusetzen und deshalb auch für die Festsetzung der Vermögensteuer bindend (§ 182 Abs. 1 AO 1977). Der Bescheid über die gesonderte Feststellung des Wertes der nichtnotierten Anteile an einer Kapitalgesellschaft (hier: Aktien) ist demnach im Verhältnis zur Vermögensteuerfestsetzung ein Grundlagenbescheid i.S. des § 171 Abs. 10 AO 1977.
2. Das FA durfte - entgegen der Auffassung des Klägers - den gesondert festgestellten Wert der Aktienbeteiligung des Klägers in Höhe von 419100 DM auch (noch) im angefochtenen Vermögensteueränderungsbescheid berücksichtigen, obwohl es eine frühere - unter dem Vorbehalt der Nachprüfung - ergangene Wertfeststellung (Wert: 716661 DM) nicht zum Anlaß genommen hatte, die Vermögensteuerfestsetzung entsprechend anzupassen.
Mit § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verfolgt der Gesetzgeber den Zweck, die Festsetzung der zutreffenden Steuer im Folgebescheid sicherzustellen, wobei der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids der Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits früher ergangenen Folgebescheides eingeräumt wird. Aus der Bindungswirkung des Grundlagenbescheides für den Folgebescheid ergibt sich, daß dieser die Aufgabe hat, dem Folgebescheid in verbindlicher Weise bestimmte Besteuerungsgrundlagen zuzuführen. Die Bindungswirkung beinhaltet deshalb auch, daß das für den Erlaß eines Folgebescheides zuständige FA verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711, 712 m.w.N.). Solange die im Grundlagenbescheid gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen vom FA im Folgebescheid nicht berücksichtigt sind, ist die dem Grundlagenbescheid zugedachte Aufgabe nicht erfüllt (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1985 III R 204/81, BFHE 145, 545, 547, BStBl II 1986, 245). Deshalb hat der BFH in zahlreichen Entscheidungen angenommen, daß die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheides nicht dadurch beseitigt wird, daß das für den Erlaß des Folgebescheides zuständige FA einen Grundlagenbescheid übersehen oder dessen Inhalt nicht oder nicht in der richtigen Weise in den Folgebescheid übernommen hat (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 14. Juni 1991 III R 64/89, BFHE 165, 438, BStBl II 1992, 52, 53 m.w.N.).
Diese Grundsätze gelten nicht nur, wenn aus dem zunächst nicht oder fehlerhaft ausgewerteten Grundlagenbescheid später noch die zutreffenden Folgerungen im Folgebescheid gezogen werden, sondern auch dann, wenn ein zunächst nicht oder fehlerhaft ausgewerteter Grundlagenbescheid später geändert wird und das FA aus dem Änderungsbescheid die entsprechenden Folgerungen ziehen möchte. Es ist kein Grund ersichtlich, in einem solchen Fall von einem Verbrauch der Änderungsmöglichkeit auszugehen. Aus dem Wortlaut des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 kann eine solche Einschränkung der Änderungsmöglichkeit nicht hergeleitet werden. Vielmehr ergibt sich aus dem oben dargelegten Sinn und Zweck der Vorschrift, daß eine Änderung des Folgebescheids zur Herbeiführung eines materiell richtigen Ergebnisses selbst dann geboten ist, wenn sie dazu dient, eine zuvor versäumte Anpassung des Folgebescheides nachzuholen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711, 712). Dies gilt auch, soweit Grundlage für die Anpassung des Folgebescheides der geänderte Grundlagenbescheid ist, denn dieser hat den ursprünglichen Bescheid in sich aufgenommen und insoweit dessen Suspendierung bewirkt (vgl. Beschluß des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231, 233). Die Pflicht des FA zur Änderung des Folgebescheides richtet sich deshalb in diesen Fällen nach dem geänderten Grundlagenbescheid. In diesem Rahmen bleibt es - unabhängig von früheren Auswertungsversäumnissen oder Anpassungsfehlern - bei der Verpflichtung des FA zur Änderung des Folgebescheides.
Von einem Verbrauch der Möglichkeit, den Folgebescheid an den geänderten Grundlagenbescheid anzupassen, kann auch dann nicht ausgegangen werden, wenn das FA eine Anpassung des Folgebescheides auf der Grundlage des früheren, durch die Änderungsfeststellung suspendierten Grundlagenbescheides bei bereits abgelaufener regulärer Festsetzungsfrist innerhalb der Jahresfrist des § 171 Abs. 10 AO 1977 nicht vorgenommen hat. Denn dies setzte voraus, daß beim Folgebescheid eine (Teil-)Bestandskraft im Umfang der Bindungswirkung des nicht oder nicht richtig ausgewerteten Grundlagenbescheides eintreten könnte. Das ist jedoch nicht der Fall. § 171 Abs. 10 AO 1977 bewirkt nämlich nicht, daß eine zunächst abgelaufene Festsetzungsfrist durch den Erlaß von Grundlagenbescheiden im Umfang der von diesen ausgehenden Bindungwirkung stets wieder erneut in Lauf gesetzt wird. Vielmehr ist nach § 171 Abs. 10 AO 1977 der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Folgesteuer im Ausmaß der Bindungswirkung des Grundlagenbescheides gehemmt, soweit und solange in offener Feststellungsfrist ein Feststellungsbescheid, der für die Festsetzung einer Steuer bindend ist, noch zulässig ergehen kann (vgl. BFH-Urteil vom 12. August 1987 II R 202/84, BFHE 150, 319, BStBl II 1988, 318, 319). Der Fristablauf wird deshalb unabhängig davon gehemmt, ob der Grundlagenbescheid bereits ergangen ist und ob das FA einen entsprechenden Folgebescheid erlassen hat. Denn die Hemmung knüpft an die bloße rechtliche Möglichkeit an, daß ein Grundlagenbescheid ergeht, aufgehoben oder geändert wird; sie setzt - anders als die anderen Hemmungsgründe in § 171 AO 1977 - kein reales Ereignis voraus (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 171 AO 1977 Tz. 29; a.A. Eisenach/Weiske, Deutsches Steuerrecht 1992, 1261ff.).
3. Festsetzungsverjährung, die dem Erlaß des angefochtenen Vermögensteuerbescheides entgegenstehen könnte, war am 9. Juni 1986 noch nicht eingetreten. Die Festsetzungsfrist von vier Jahren (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) begann mit Ablauf des Jahres 1978, da der Kläger seine Vermögensteuererklärung auf den 1. Januar 1977 am 15. Dezember 1978 abgegeben hat (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977). Die Frist endete demnach regulär mit Ablauf des Jahres 1982. Der Fristablauf war jedoch gemäß § 171 Abs. 10 AO 1977 bis zum Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe des geänderten Feststellungsbescheides vom 12. Juni 1985 (Grundlagenbescheid) gehemmt. Denn der Feststellungsbescheid war - wie oben dargelegt - für die Vermögensteuerfestsetzung auf den 1. Januar 1977 bindend. Im Zeitpunkt des Erlasses des geänderten Vermögensteuerbescheides am 9. Juni 1986 war die Jahresfrist des § 171 Abs. 10 AO 1977 noch nicht abgelaufen.
Fundstellen
Haufe-Index 419034 |
BFH/NV 1994, 1 |