Leitsatz (amtlich)
Für Streitigkeiten um die Festsetzung einer Frist zur Entrichtung verkürzter Steuern nach § 395 Abs. 3 AO (nunmehr: § 371 Abs. 3 AO 1977) ist der Finanzrechtsweg nicht gegeben.
Normenkette
FGO § 33; AO § 395 Abs. 3; AO 1977 § 371 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erstattete am 2. Januar 1974 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) Selbstanzeige wegen Steuerhinterziehung. Das FA erließ darauf mehrere Bescheide, mit denen es die verkürzten Steuerbeträge nachforderte. Mit Schreiben vom 13. Oktober 1976 setzte das FA dem Kläger unter Hinweis auf § 395 der Reichsabgabenordnung (AO) a. F. eine Frist zur Zahlung der noch offenen Steuerbeträge (481 918 DM) bis zum 15. November 1976. Den Antrag des Klägers, die Frist angemessen zu verlängern, lehnte das FA mit Schreiben vom 15. November 1976 ab.
Gegen die als Bescheide angesehenen Schreiben des FA vom 13. Oktober und 15. November 1976 erhob der Kläger Klage. Er ist der Auffassung, daß es sich bei dem Bescheid vom 13. Oktober 1976 um einen Verwaltungsakt handele, für dessen Anfechtung der Finanzrechtsweg gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegeben sei. Den Bescheid vom 15. November 1976 betrachtete er als eine vom FA als sachlich unzuständige Beschwerdebehörde erlassene Beschwerdeentscheidung. Er beantragte, die Bescheide vom 13. Oktober und 15. November 1976 aufzuheben, und für den Fall, daß das Gericht den Bescheid des FA vom 15. November 1976 nicht als Beschwerdeentscheidung einer unzuständigen Behörde ansehen sollte, das Verfahren auszusetzen; hilfsweise beantragte er, die Sache in erster Linie an das Amtsgericht München (Abteilung für Strafsachen), in zweiter Linie an das Landgericht (LG) München (Strafkammer) und in dritter Linie an das Verwaltungsgericht (VG) München zu verweisen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung seiner in Entscheidungen der Finanzgerichte 1977 S. 384 (EFG 1977, 384) veröffentlichten Entscheidung führte es aus, die Klage sei im Hauptantrag nicht zulässig, da der Streit um die Fristbestimmung nach § 395 Abs. 3 AO a. F. keine Streitigkeit über eine Abgabenangelegenheit (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO) darstelle. Die Fristbestimmung sei vielmehr eine Maßnahme im Rahmen des Bußgeld- und Steuerstrafverfahrens, für die der Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht gegeben sei. Auch dem Hilfsantrag auf Verweisung der Sache gemäß § 34 Abs. 3 FGO könne nicht entsprochen werden. Es sei schon zweifelhaft, ob die Fristsetzung nach § 395 Abs. 3 AO a. F. überhaupt gesondert anfechtbar sei. Es bestehe kein Anlaß, gerade für die Fristsetzung eine selbständige Anfechtungsmöglichkeit in entsprechender Anwendung des § 304 der Strafprozeßordnung (StPO) zu eröffnen. Selbst wenn jedoch eine selbständige Anfechtungsmöglichkeit im Rahmen des Strafverfahrens zu bejahen sein sollte, könnte die Sache aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht an ein anderes Gericht verwiesen werden. Eine Verweisung an das LG München (Strafkammer) scheitere schon daran, daß das Hauptverfahren derzeit noch nicht eröffnet sei. Eine Verweisung an das Amtsgericht München (Abteilung für Strafsachen) komme nicht in Betracht, weil sich in dem dortigen Verfahren Kläger und Beklagter nicht mehr als gleichberechtigte Beteiligte gegenüberstehen würden; beteiligt wäre dort nicht mehr das FA als beklagte Behörde, sondern die Staatsanwaltschaft. Auch für eine Verweisung an das VG München fehle es an den Voraussetzungen.
Gegen das Urteil des FG legte der Kläger Revision ein.
Er rügt die Verletzung des § 33 Abs. 1 FGO i. V. m. § 33 Abs. 2 FGO. Zur Begründung führt er aus, die Streitsache betreffe eine "Abgabenangelegenheit" i. S. des § 33 Abs. 2 Satz 1 FGO, für die der Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO gegeben sei. Die Fristsetzung nach § 395 Abs. 3 AO a. F. habe abgabenrechtlichen Charakter. Die Vorschrift verfolge den Zweck, Finanzmittel beizutreiben; sie sei nicht dem Straf- und Bußgeldverfahren zuzurechnen. Im übrigen seien auch die Voraussetzungen für den Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 FGO gegeben; denn es handle sich um eine "öffentlichrechtliche Streitigkeit über die Vollziehung von Verwaltungsakten"; § 395 Abs. 3 AO a. F. bezwecke, ausstehende Steuern in den Fällen beizutreiben, in denen normale Zwangsvollstrekkungsmaßnahmen nichts mehr fruchteten. - Bei Entscheidung der Frage, ob die Sache an ein anderes Gericht zu verweisen ist, habe das FG gegen Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verstoßen. Nach Art. 19 Abs. 4 GG müsse für jeden Eingriffsakt der öffentlichen Gewalt ein Rechtsweg eröffnet sein. Wenn das FG schon den Finanzrechtsweg nicht für gegeben erachtete, dann hätte es den Verwaltungsrechtgsweg (§ 40 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) oder die Rechtsschutzmöglichkeit nach § 23 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) bejahen müssen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG und die Bescheide des FA vom 13. Oktober und 15. November 1976 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist zulässig.
Gegen das Urteil eines FG steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof (BFH) u. a. dann zu, wenn der Wert des Streitgegenstands 10 000 DM übersteigt (§ 115 Abs. 1 FGO i. V. m. Art. 1 Nr. 5 Satz 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFH-EntlastG -). Diese Voraussetzung ist hier gegeben.
Der Streit geht um die Angemessenheit der Frist, die das FA nach § 395 Abs. 3 AO a. F. für die Zahlung der geschuldeten Steuern bestimmt hat. Das Prozeßbegehren des Steuerpflichtigen ist in einem solchen Fall auf die Hinausschiebung des Zahlungszeitpunkts gerichtet. Das verfahrensmäßige Interesse ist hier ähnlich zu beurteilen wie bei Streitigkeiten wegen Stundung oder Aussetzung der Vollziehung, bei denen nach ständiger Rechtsprechung ein Streitwert von 10 v. H. des Betrages, um dessen Stundung (Aussetzung) gestritten wird, für angemessen erachtet wird (BFH-Beschlüsse vom 17. Januar 1958 VI 163/55 S, BFHE 66, 314, BStBl II 1958, 121, und vom 16. März 1976 VII E 4/75, BFHE 118, 298, BStBl II 1976, 385).
Im Streitfall belief sich der Betrag, hinsichtlich dessen eine Zahlungsfrist festgesetzt wurde, auf 481 918 DM. Legt man der Bemessung des Streitwerts einen Betrag von 10 v. H. des angeforderten Steuerbetrags zugrunde, so beträgt der Wert des Streitgegenstands 10 v. H. von 481 918 DM = 48 191 DM.
2. Die Revision ist nicht begründet.
a) Das Rechtsschutzbegehren des Klägers kann nicht im Finanzrechtsweg verfolgt werden. Nach § 33 Abs. 1 FGO ist der Finanzrechtsweg u. a. gegeben für bestimmte - im Gesetz im einzelnen bezeichnete - "öffentlich-rechtliche Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten". Unter "Abgabenangelegenheiten" sind alle mit der Verwaltung der Abgaben oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörde zusammenhängenden Angelegenheiten zu verstehen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 FGO). Dagegen finden die Vorschriften über den Finanzrechtsweg keine Anwendung auf das Straf- und Bußgeldverfahren (§ 33 Abs. 2 Satz 2 FGO).
Das vom Kläger verfolgte Rechtsschutzziel (Verlängerung der vom FA gemäß § 395 Abs. 3 AO a. F. gesetzten Frist) ist keine "Abgabenangelegenheit" i. S. dieser Unterscheidung. Das FG hat zutreffend erkannt, daß die Fristsetzung nach § 395 Abs. 3 AO a. F. zu den Maßnahmen zählt, die dem Strafverfahren zuzurechnen sind.
§ 395 Abs. 3 AO a. F. (nunmehr: § 371 Abs. 3 der Abgabenordnung - AO 1977 -) schreibt vor, daß die für den Fall einer Selbstanzeige vorgesehene Straffreiheit bei bereits eingetretener Steuerverkürzung nur eintritt, "wenn der Täter die verkürzten Steuern, die er schuldet, nach ihrer Festsetzung innerhalb der ihm bestimmten Frist entrichtet". Die Bestimmung der Nachzahlungsfrist bezweckt, dem Steuerpflichtigen eine tatsächliche Möglichkeit zur Nachzahlung der geschuldeten Steuerbeträge bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu geben (Kohlmann, Steuerstrafrecht, 3. Aufl., Rdnr. 36 zu § 371 AO 1977; Franzen/Gast/Samson, Steuerstrafrecht, 2. Aufl., Anm. 131 ff. zu § 371 AO 1977; Pfaff, Kommentar zur steuerlichen Selbstanzeige, 1977, S. 166). Der Steuerpflichtige soll Gelegenheit erhalten, das begangene Steuerunrecht durch fristgemäße Nachzahlung der verkürzten Steuern wiedergutzumachen. Von der fristgemäßen Nachzahlung hängt die strafbefreiende Wirkung der Selbstanzeige ab.
Diesem strafrechtlichen Zweck einer möglichst zeitnahen Wiedergutmachung des Steuerunrechts entsprechend ist die Frist auch allein nach strafrechtlichen Gesichtspunkten festzusetzen; zu den steuerlichen Zahlungsfristen besteht keine notwendige Abhängigkeit (Urteil des Hessischen FG vom 8. Februar 1973 VI 137/71 - rechtskräftig -, EFG 1973, 389; Kohlmann, a. a. O., Rdnr. 96 zu § 371 AO 1977). Das zeigt sich insbesondere im Konkursverfahren des Steuerpflichtigen; als Gemeinschuldner könnten ihm steuerliche Fristen nicht mehr gesetzt werden; eine Fristbestimmung nach § 395 Abs. 3 AO a. F. (§ 371 Abs. 3 AO 1977) ist dagegen auch im Konkursfall zulässig und erforderlich (Leise, Steuerverfehlungen, Kommentar, Anm. 10 C I zu § 371 AO 1977; Kohlmann, a. a. O., Rdnr. 95 zu § 371 AO 1977; Pfaff, a. a. O., S. 181, mit weiteren Nachweisen).
Da die Frist gemäß § 395 Abs. 3 AO a. F. eine rein strafrechtliche Bedeutung hat, bestimmt sich auch die Zuständigkeit für die Fristsetzung nach steuerstrafverfahrensrechtlichen Regeln (herrschende Meinung; vgl. Franzen/Gast/Samson, a. a. O., Rdnr. 143 zu § 371 AO 1977, mit weiteren Nachweisen). Die Frist ist hiernach im allgemeinen von dem für die Steuerstrafsache sachlich zuständigen FA zu bestimmen.
b) Die Revision ist auch insoweit nicht begründet, als es um den Antrag auf Verweisung der Sache an ein anderes Gericht (§ 34 FGO) geht.
Zwar ist ein Gericht der Finanzgerichtsbarkeit auf Antrag des Klägers verpflichtet, einen bei ihm anhängigen Rechtsstreit an das zuständige Gericht des ersten Rechtszugs, zu dem es den Rechtsweg für gegeben hält, zu verweisen, wenn es den zu ihm beschrittenen Rechtsweg für nicht gegeben hält (§ 34 Abs. 3 Satz 1 FGO). Die Voraussetzungen einer Verweisung liegen indessen im Streitfall nicht vor.
Der Senat läßt dabei dahinstehen, ob überhaupt gegen die Fristsetzung gemäß § 395 Abs. 3 AO a. F. ein Rechtsweg beschritten werden kann. Es kann insbesondere offenbleiben, ob ein Rechtsweg gegeben ist, so lange ein strafrechtliches Hauptverfahren noch nicht eröffnet ist. Eine Verweisung auf einen anderen Rechtsweg kommt jedenfalls dann nicht (mehr) in Betracht, wenn in der Steuerstrafsache, deretwegen Selbstanzeige erstattet und eine Frist zur Zahlung gemäß § 395 Abs. 3 AO a. F. gesetzt worden ist, bereits die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen ist (§ 203 StPO).
In diesem Fall ist für die Entscheidung über die Fristsetzung ausschließlich das Strafgericht zuständig. Da die Wirksamkeit der Selbstanzeige und damit die Gewährung der Strafbefreiung davon abhängig ist, daß der Steuerpflichtige die von ihm geschuldete Steuer innerhalb der ihm gesetzten Frist entrichtet, hat das Strafgericht auch zu prüfen, ob die Bemessung der Frist angemessen war. Es kann für den Fall, daß es die Frist als zu kurz bemessen ansieht, noch während des Strafverfahrens - also auch im Verlauf der Hauptverhandlung - die Frist verlängern bzw. neu festsetzen (Amtsgericht Frankfurt/Main, Urteil vom 30. Mai 1974 933 Ds 55/74, Neue Wirtschafts-Briefe - NWB -, F 1 S. 278, 1974; Kohlmann, a. a. O., Rdnr. 107 zu § 371 AO 1977). Im Hinblick auf diese Prüfungs- und Entscheidungskompetenz des Strafgerichts würde es nach Eröffnung des Hauptverfahrens für eine förmliche Verweisung des wegen der Angemessenheit der Fristsetzung anhängigen Verfahrens an ein anderes Gericht an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlen. § 34 Abs. 3 FGO sieht eine Verweisung der Sache an ein anderes Gericht nur für den Fall vor, daß die den Gegenstand des Rechtsstreits bildende Sache bei einem anderen Gericht noch nicht anhängig ist.
Im Streitfall ist gegen den Kläger das Hauptverfahren wegen der Steuerstrafsache bereits seit längerem eröffnet. Ein in dieser Strafsache ergangenes Urteil des LG München II ist vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden; die Strafsache ist an das LG München II wieder zurückverwiesen worden. Eine Verweisung des die Fristsetzung betreffenden Rechtsstreits ist unter diesen Umständen nicht mehr zulässig.
Die Zulässigkeit einer Verweisung ist - ebenso wie die Zulässigkeit des Rechtswegs - in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen. Maßgebend sind dabei die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung. Ist in diesem Zeitpunkt das Hauptverfahren gegen den Steuerpflichtigen vor dem Strafgericht eröffnet worden, so kommt eine Verweisung selbst dann nicht in Betracht, wenn sie in einem vorausgegangenen Verfahrensstadium (nämlich vor Eröffnung des Hauptverfahrens) noch zulässig gewesen sein sollte.
Fundstellen
Haufe-Index 74237 |
BStBl II 1982, 352 |
BFHE 1982, 145 |