Leitsatz (amtlich)
Die Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG 1955 kann bei einem gemäß § 100 AO vorläufig durchgeführten Berichtigungsbescheid nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO äußerstenfalls zur Wiederherstellung der ursprünglichen Steuerfestsetzung führen.
Normenkette
AO §§ 100, 222 Abs. 1 Nr. 1, § 225; AO a.F. § 234; GewStG 1955 § 8 Nr. 6, § 35b; BVerfGG §§ 78, 79 Abs. 2
Tatbestand
Der Revisionsbeklagte (das FA) hat gegen die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) für 1956 und 1957 am 27. Februar 1958 und 30. November 1959 einheitliche Gewerbesteuermeßbeträge von 9 454 DM bzw. 21 825 DM festgesetzt, durch die den Gewerbeerträgen 112 792 DM bzw. 129 144 DM Vergütungen an wesentlich Beteiligte gem. § 8 Nr. 6 GewStG 1955 hinzugerechnet worden waren. Auf Grund einer Betriebsprüfung im Jahr 1960 wurden die Gewerbesteuermeßbescheide 1956 und 1957 wegen Feststellung neuer Tatsachen gem. § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO am 29. Januar 1961 auf 10 934 DM bzw. 23 360 DM heraufgesetzt. Auf den Hinweis des Beraters der Steuerpflichtigen in der Schlußbesprechung der Betriebsprüfung auf die beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden wegen § 8 Nr. 6 GewStG vermerkte das FA auf dem Berichtigungsbescheid: "Hinsichtlich der Zurechnung der Gehälter für wesentlich Beteiligte ist die Veranlagung vorläufig (§ 100 AO)". Nach Ergehen des BVerfG-Urteils 1 BvR - 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl I 1962, 500) nahm das FA die endgültige Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge für 1956 und 1957 vor. Es kürzte sie jedoch nicht um die vollen bisher hinzugerechneten Vergütungen nach § 8 Nr. 6 GewStG, was zu Meßbeträgen von 5 299 DM bzw. 16 905 DM geführt hätte, sondern stellte unter Bezugnahme auf § 234 AO a. F. die ursprünglichen Gewerbesteuermeßbeträge mit 9 454 DM bzw. 21 825 DM wieder her.
Einspruch und Klage der Steuerpflichtigen blieben erfolglos. Das FG begründete seine Entscheidung wie folgt: Die Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG rechtfertige es nicht, die Steuermeßbeträge nach den ursprünglichen, bereits rechtskräftig gewordenen Bescheiden zu unterschreiten. Die Betriebsprüfung habe nur Tatsachen erbracht, die eine Heraufsetzung des gewerblichen Gewinns begründeten (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO). Die teilweise vorläufige Festsetzung gem. § 100 AO habe nur so verstanden werden können, daß die infolge der Nichtigkeitserklärung des § 8 Nr. 6 GewStG mögliche endgültige Herabsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags gem. § 225 AO durch den rechtswirksamen ursprünglichen Bescheid nach § 234 AO a. F. begrenzt sein müsse. Nur insoweit habe gem. § 79 Abs. 2 BVerfGG der Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG Rechnung getragen werden können, als dem unanfechtbare Steuerbescheide nicht entgegenstanden. Diese Auslegung sei durch die Rechtsprechung des BFH und des BVerfG gedeckt. Auch aus § 36 GewStG 1962 ergebe sich nichts Abweichendes. Der ursprüngliche Bescheid hätte auch nicht nach § 36a Abs. 1 GewStG 1962 in vollem Umfang berichtigt werden können, da er bereits vor dem 24. Januar 1962 rechtskräftig geworden sei. Schließlich sei auch durch die Nichtigkeitserklärung des § 8 Nr. 6 GewStG kein Merkmal der Besteuerung im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG weggefallen.
Mit der Revision gegen die Entscheidung des FG beantragt die Steuerpflichtige, das Urteil des FG aufzuheben und die Gewerbesteuermeßbescheide 1956 und 1957 in vollem Umfang zu berichtigen, ersatzweise, das Verfahren an den Großen Senat des BFH zur Erörterung zu verweisen. Die Revision wird wie folgt begründet:
1. Wegen der ausdrücklich vereinbarten vorläufigen Festsetzung innerhalb der Betriebsprüfung hätten die Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG in vollem Umfang berücksichtigt werden müssen.
2. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes der Steuerpflichtigen sei dadurch verletzt worden, daß der ursprüngliche Gewerbesteuermeßbetrag unter Hinzurechnung eines Teils der Vergütungen erneut festgesetzt worden sei, obwohl die bei der Schlußbesprechung getroffene Vereinbarung die volle Berücksichtigung der Nichtigkeit eingeschlossen habe.
3. Gegen den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit sei dadurch verstoßen worden, daß unter Zugrundelegung des nichtigen § 8 Nr. 6 GewStG ein Teil der Beträge wieder dem Gewerbeertrag hinzugesetzt worden sei. Ein stets als Einheit anzusehender Steuerbescheid dürfe keine verfassungswidrigen Elemente mehr enthalten.
4. Die erheblich höhere Steuerermäßigung wegen der passivierten Gewerbesteuer berechtige zu einer Berichtigungsveranlagung gem. § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit der Gesamtaufrollung des Falles.
5. Die Regelung des § 35b GewStG gehe als spezielle Vorschrift dem § 222 AO vor, was hier nicht berücksichtigt worden sei.
6. Es sei auch nicht beachtet worden, daß § 35b GewStG dem § 234 AO a. F. vorgehe.
Für die ersatzweise angeregte Anrufung des Großen Senats des BFH faßt die Steuerpflichtige ihre Ausführungen aus der Revisionsbegründung zum Verhältnis der §§ 222 AO und 35b GewStG zusammen, ordnet sie in die allgemeine Steuerrechtsdogmatik ein und fordert, den Streitfall entsprechend den dabei entwickelten Auslegungsgrundsätzen zu entscheiden.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist nicht begründet.
Der erkennende Senat hat im Urteil I R 6/66 vom 13. Dezember 1966 (BFH 87, 465, BStBl III 1967, 216) ausgesprochen, die Begrenzung der Anfechtbarkeit von Berichtigungsbescheiden in § 234 AO a. F. sei mit ihrer Betonung des Gedankens der Rechtssicherheit nicht dadurch gegenstandslos geworden, daß mit § 35b GewStG dem Gedanken der materiellen Gerechtigkeit entsprochen werde. Beide Gedanken stehen (als Grundsätze von Verfassungsrang) gleichberechtigt nebeneinander; sie treten nur nach Maßgabe gesetzlicher Bestimmungen wechselseitig voreinander zurück. Das Gesetz erlaubt nicht die kumulative Begründung eines Berichtigungsbescheids aus § 222 AO und aus § 35b GewStG, da beide unterschiedliche Voraussetzungen für eine zulässige Berichtigung aufstellen. Nach der Rechtsprechung des BFH zu dem hier umstrittenen Problem enthält § 222 AO in Abs. 1 und 2 eine "besondere gesetzliche Regelung" im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG, die die Anfechtung eines bereits unanfechtbar gewordenen, auf einer für nichtig erklärten Rechtsnorm beruhenden Bescheides zuläßt, wenn auch in Ansehung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO eingeschränkt durch § 234 AO a. F. Weiter als damit kraft gesetzlicher Vorschrift die Anfechtbarkeit reicht, kann auch die Möglichkeit nicht reichen, den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zu verwirklichen.
Die Entscheidung des BVerfG über die Nichtigkeit einer Vorschrift wirkt ex tunc, d. h. das Gesetz ist als von Anfang an nichtig zu betrachten. Daraus ergibt sich das Problem, welche Folgen die Nichtigkeitserklärung für nicht mehr anfechtbare Hoheitsakte hat, die auf der nachträglich für nichtig erklärten Norm beruhen. In diesem Spannungsbereich handelt es sich um die beiden elementaren Rechtsgrundsätze der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber hat in § 79 Abs. 2 BVerfGG der Rechtssicherheit eindeutig den Vorzug gegeben, indem er vorbehaltlich des § 95 Abs. 2 BVerfGG (Erfolg einer Verfassungsbeschwerde), der hier nicht anzuwenden ist, die auf einer gem. § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhenden nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen unberührt gelassen hat.
Die Besonderheit des Streitfalls liegt darin, daß er in Verbindung mit der Nichtigkeitserklärung des § 8 Nr. 6 GewStG nicht wie in der Entscheidung I R 6/66 (a. a. O.) nur das Verhältnis des § 234 AO a. F. zu § 222 AO und § 35b GewStG, sondern auch zur vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 100 AO zum Gegenstand hat. Dadurch ergibt sich jedoch nur eine Variante im gesetzlichen Tatbestand, keine Abweichung von dem entscheidenden Rechtsgrundsatz des Urteils I R 6/66 (a. a. O.). Die Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG führt ebensowenig wie die gegenüber § 222 AO subsidiäre Vorschrift des § 35b GewStG (BFH-Urteil I 157/64 vom 9. Februar 1965, StRK, Gewerbesteuergesetz, § 35b, Rechtsspruch 13) dazu, daß eine ihrem sachlichen Umfang nach eingeschränkte vorläufige Festsetzung nach § 100 AO den übergeordneten allgemeinen Rechtsgedanken des § 234 AO a. F. außer Wirksamkeit setzt. Nur der über die ursprüngliche Gewerbesteuer-Festsetzung hinausgehende Teil der Berichtigungsfestsetzung war vorläufig. Nur soweit die im Rahmen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO festgestellten nicht abzugsfähigen Betriebsausgaben zu höheren Gewerbeerträgen geführt hatten, konnte sich die in dem gleichen Berichtigungsverfahren vorgenommene vorläufige Veranlagung nach § 100 AO noch bezüglich der Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG auswirken. Im äußersten Fall konnte sie demnach zur Wiederherstellung der ursprünglichen Steuerfestsetzung, nicht aber zu einem darunter liegenden Betrag führen. Dieser in ständiger Rechtsprechung des BFH aufgestellten Forderung entspricht die Vorentscheidung. Sie wird auch durch die rechtliche Würdigung des Gesamtproblems verfassungsrechtlich gedeckt. Die gegen das Urteil I R 6/66 (a. a. O.) eingelegte Verfassungsbeschwerde hat ein Dreierausschuß des I. Senats des BVerfG als offensichtlich unbegründet nicht zur Entscheidung angenommen und den dahin gehenden Beschluß vom 20. Juli 1967 - 1 BvR 167/67 (Der Betrieb 1967 S. 1394) wie folgt begründet: "Die richterliche Auslegung des § 234 AO a. F., insbesondere die Feststellung des Sinnzusammenhangs mit anderen Vorschriften der AO und des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG betrifft die Anwendung des einfachen Rechts, die vom BVerfG grundsätzlich nicht auf ihre sachliche Richtigkeit nachgeprüft werden kann. Diese Gesetzesanwendung verstößt nicht gegen das Grundgesetz, wie der zuständige Ausschuß des I. Senats bereits in einem Beschluß vom 8. April 1965 ausgesprochen hat (1 BvR 103/65). Insbesondere verletzt es nicht das Rechtsstaatsprinzip, wenn ein Gericht der Bestandskraft von Steuerbescheiden um der Rechtssicherheit willen den Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit einräumt."
Der erkennende Senat sieht auch keine Veranlassung, dem ersatzweise gestellten Antrag zu entsprechen, eine Entscheidung des Großen Senats des BFH herbeizuführen. Die rechtliche Würdigung des Streitfalles weicht weder von einer anderen Entscheidung des BFH ab (§ 11 Abs. 3 FGO) noch liegt eine bisher nicht erkannte grundsätzliche Rechtsfrage vor, die eine Fortentwicklung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung durch den Großen Senat erfordert (§ 11 Abs. 4 FGO).
Fundstellen
BStBl II 1969, 209 |
BFHE 1969, 480 |