Entscheidungsstichwort (Thema)
Die Wahrung der Klagefrist als Sachurteilsvoraussetzung; keine Behebung der Unzulässigkeit der Klage durch Antrag nach § 68 FGO; Verschulden bei Überprüfung der Frist
Leitsatz (NV)
1. Die Wahrung der Klagefrist ist eine in jeder Lage des Verfahrens ohne Beachtung der in § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO enthaltenen Einschränkungen zu überprüfende Sachurteilsvoraussetzung.
2. Eine auf einer Überschreitung der Klagefrist beruhende Unzulässigkeit der Klage kann nicht durch einen Antrag nach § 68 FGO behoben werden.
3. Ein Bevollmächtigter handelt schuldhaft, wenn er die Einhaltung der Klagefrist nur anhand seines eigenen Posteingangsstempels und nicht anhand des Zustellungsvermerks überprüft.
Normenkette
FGO § 47 Abs. 1, § 56 Abs. 1, §§ 68, 118 Abs. 3, § 155; ZPO § 51 Abs. 2, § 85 Abs. 2
Tatbestand
Den Antrag des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) in seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich, die Nachtschichtzuschläge steuerfrei zu belassen, lehnte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) ab. Das FA erließ während des Klageverfahrens einen geänderten Einkommensteuerbescheid, den der Kläger gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens machte.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.
Das FA macht mit seiner vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision einen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend. Es bemängelt, daß das FG durch Sachurteil entschieden habe, obwohl die Anfechtungsklage nicht innerhalb der Frist des § 47 Abs. 1 FGO erhoben worden sei. Die Einspruchsentscheidung vom 29. August 1991 sei ausweislich der Postzustellungsurkunde am 9. September 1991 zugestellt worden. Die Klageschrift trage den Eingangsstempel des FG vom 10. Oktober 1991.
Der Kläger trägt vor: Er sei im finanzgerichtlichen Verfahren von X vertreten worden. Diesem sei die Einspruchsentscheidung am 10. September 1991 zugestellt worden. Dies ergebe sich aus dem Eingangsstempel auf Seite 1 der Einspruchsentscheidung. X halte es für denkbar, daß die Post von einem Praktikanten erst einen Tag später geöffnet und mit dem übrigen Schriftverkehr mit dem aktuellen Datum abgestempelt worden sei. Dies sei jedoch nur eine Vermutung. Bei dieser Sachlage sei zugunsten des Betroffenen davon auszugehen, daß die Klagefrist gewahrt sei. Vorsorglich werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO beantragt und bezüglich des Ablaufs der Jahresfrist gemäß § 56 Abs. 3 FGO damit begründet, daß er, der Kläger, erst seit dem 8. Oktober 1992 wisse, daß ein Fehler bei der Anbringung des Eingangsstempels passiert sein könne.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Das FG hätte nicht durch Sachurteil entscheiden dürfen. Die Klage ist unzulässig, da sie nicht innerhalb der Frist von einem Monat (§ 47 Abs. 1 FGO) und damit verspätet beim FG eingegangen ist. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) liegen nicht vor.
1. Die Wahrung der Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO ist eine Sachurteilsvoraussetzung. Das Vorliegen jener Voraussetzungen, von denen die Zulässigkeit des auf eine sachliche Entscheidung gerichteten Verfahrens als solches und im ganzen abhängt, ist in jeder Lage des Verfahrens ohne Beachtung der in § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO enthaltenen Einschränkung zu überprüfen (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. September 1985 IX 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268; vom 10. März 1988 IV R 218/85, BFHE 153, 195, BStBl II 1988, 731; Beschluß vom 6. Juli 1988 II B 183/87, BFHE 153, 509, BStBl II 1988, 897). Dabei muß das Revisionsgericht die für die Entscheidung erforderlichen Tatsachen von Amts wegen selbst feststellen; es unterliegt insoweit auch keinen Beschränkungen, wenn Ergänzungen im Sachverhalt notwendig werden (BFH in BFHE 145, 299 BStBl II 1986, 268, 269; BFHE 153, 195, BStBl II 1988, 731).
An dem Erfordernis der Zulässigkeit der Klage gegen den ursprünglichen Bescheid ändert sich auch nichts dadurch, daß der Kläger den während des Klageverfahrens erlassenen Änderungsbescheid gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat. Denn nach der Rechtsprechung des BFH kann die Unzulässigkeit einer Klage nicht durch einen Antrag nach § 68 FGO behoben werden (vgl. Urteil vom 11. Dezember 1986 IV R 184/84, BFHE 148, 422, BStBl II 1987, 303; Beschluß vom 11. Februar 1991 X R 149/90, BFHE 163, 307, BStBl II 1991, 462; Urteil vom 17. April 1991 II R 142/87, BFHE 164, 11, BStBl II 1991, 527; vom 28. Februar 1990 I R 165/85, BFH/NV 1991, 75, 77, zu B 2b der Gründe). Der Senat schließt sich dieser Auffassung an.
2. Im Streitfall ist die Klagefrist von einem Monat nicht gewahrt, weil die Zustellung der Einspruchsentscheidung auf jeden Fall vor dem 10. September 1991 erfolgt ist und die Klageschrift ausweislich des Eingangsstempels des FG dort erst am 10. Oktober 1991 einem Donnerstag, eingegangen ist. Das auf der Zustellungsurkunde und dem eingereichten Briefumschlag vermerkte Datum der Zustellung ist zwar undeutlich geschrieben. Die Ziffer, die den Tag der Zustellung angibt, kann aber jeweils entweder nur als ,,5" oder als ,,9" gedeutet werden. Danach scheidet eine Zustellung am 10. September 1991 oder einem späteren Tag aus. Soweit der Kläger demgegenüber eine Zustellung am 12. September 1991 geltend macht, widerspricht dies seinem eigenen Vorbringen, wonach das zugestellte Schriftstück bereits am 10. September 1991 im Büro seines Bevollmächtigten abgestempelt worden ist.
3. Eine die Zulässigkeit der Klage herbeiführende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden. Der Kläger hat keine Tatsachen vorgetragen, die den Schluß auf ein schuldloses Verhalten seines damaligen Bevollmächtigten rechtfertigen (§ 56 Abs. 1 FGO). Sein Bevollmächtigter bzw. dessen gesetzlicher Vertreter hätte die Frist anhand des Zustellungsvermerks überprüfen müssen und nicht auf die Richtigkeit des Eingangsstempels vertrauen dürfen (vgl. Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 22. Mai 1984 VI ZR 49/84, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1985, 193). Das Verschulden seines Bevollmächtigten bzw. dessen gesetzlichen Vertreters muß sich der Kläger zurechnen lassen (§ 155 FGO i. V. m. § 51 Abs. 2, § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung). Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand außerdem auch deshalb zu versagen war, weil sie nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen (§ 56 Abs. 2 FGO) und darüber hinaus erst nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist beantragt worden ist (§ 56 Abs. 3 FGO).
4. Da die Vorentscheidung - stillschweigend - von einer fristgemäßen Erhebung der Klage ausgegangen ist, ist sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 419049 |
BFH/NV 1993, 552 |