Entscheidungsstichwort (Thema)
Entstehung der Zollschuld durch Entziehung einer Nichtgemeinschaftsware aus der zollamtlichen Überwachung ohne Möglichkeit der Heilung; umfassende Prüfung eines Erstattungsantrags auf alle in Betracht kommenden Erstattungsgründe hin
Leitsatz (amtlich)
1. In Fällen der Entziehung einer Nichtgemeinschaftsware aus der zollamtlichen Überwachung (hier: Entfernung aus dem Zolllager zur Wiederausfuhr ohne unmittelbare Überführung in das externe Versandverfahren) entsteht die Einfuhrzollschuld ohne die Möglichkeit einer Heilung (Anschluss an das EuGH-Urteil vom 12. Februar 2004 Rs. C-337/01).
2. Die zur Entscheidung über einen Erstattungsantrag berufenen Zollbehörden und Gerichte sind von Amts wegen verpflichtet, den Antrag unabhängig von dem geltend gemachten Rechtsgrund umfassend auf alle Erstattungsgründe hin zu überprüfen, die nach dem Vorbringen des Antragstellers einschlägig sein könnten, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmungen, insbesondere die Fristen für die Antragstellung, erfüllt sind.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 37, 91 Abs. 1 Buchst. a, Art. 203 Abs. 1, 3 Anstrich 4, Art. 204 Abs. 1, Art. 236 Abs. 1, Art. 239; EWGV 2454/93 Art. 859, 905 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Rechtsnachfolgerin der Firma R. Dieser wurde auf ihren Antrag vom 29. November 1993 ein Zolllager des Typs D bewilligt. Gemäß Schreiben des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt ―HZA―) vom 25. Oktober 1996 galt die Bewilligung auch für die Klägerin als übernehmende Rechtsträgerin der Firma R.
Mit der Begründung, es sei im Steueraufsichtsverfahren festgestellt worden, dass die Firma R bestimmte aus Kanada eingeführte und in das Zolllagerverfahren übergeführte Waren bei deren Entnahme aus dem Zolllager nicht angemeldet habe, setzte das HZA mit Steuerbescheid vom 5. März 1996, zur Post gegeben am 12. März 1996, gegen die Firma R u.a. für die hier in Rede stehenden zwei Partien mit selbstklebenden Bändern Einfuhrabgaben (Zoll und Einfuhrumsatzsteuer) fest. Mit Schreiben vom 7. März 1997 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf beigefügte beglaubigte Kopien polnischer Verzollungsunterlagen Erstattung der mit dem genannten Steuerbescheid u.a. festgesetzten Abgaben für die beiden Partien und reichte mit Schreiben vom 23. April 1997 weitere Unterlagen über den Verbleib der Waren nach; u.a. wies sie darauf hin, dass die Lagerabmeldung für die zweite Partie die Ware begleitet habe. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30. April 1997 lehnte das HZA die Erstattung mit der Begründung ab, dass die Ware der zollamtlichen Überwachung wenigstens vorübergehend entzogen worden sei, weil das zwingend vorgeschriebene externe Versandverfahren für die Beförderung zwischen der Ausfuhr- und der Ausgangszollstelle nicht durchgeführt worden sei. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg. Auch die Klage, mit der die Klägerin weiter vorgetragen hatte, dass die Lagerabmeldung für die erste Partie am 26. Oktober bzw. 30. Oktober 1995 erstellt und die zweite Partie am 27. November 1995 ausgelagert worden sei, dass die Klägerin die entsprechenden Ausfuhranmeldungen vorgelegt habe, dass als Versender die Firma B aufgetreten sei, die die Ware nach den ebenfalls vorgelegten Rechnungen an die Firma X in Warschau veräußert habe, sowie dass das externe Versandverfahren für die erste Partie in Padborg/Dänemark und für die zweite Partie an der deutsch-polnischen Grenze eröffnet worden sei, war ebenfalls erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Zollschuld sei nach Art. 203 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften ―Zollkodex (ZK)― (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― Nr. L 302/1) durch Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstanden, weil die Waren aus dem Zolllager entfernt worden seien, ohne dass für die fortlaufende Zollkontrolle durch Eröffnung eines externen Versandverfahrens Sorge getragen worden sei. Die Firma R sei gemäß Art. 203 Abs. 3 ZK Zollschuldnerin geworden, wobei im Ergebnis offen bleiben könne, ob sie Zollschuldnerin nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 1, 2 oder 4 ZK geworden sei. Indem sie es als Verfahrensinhaberin unterlassen habe, für die Aufrechterhaltung der zollamtlichen Überwachungsmöglichkeit Sorge zu tragen, habe sie jedenfalls den Zollschuldtatbestand gemäß Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK verwirklicht. Eine Heilungsmöglichkeit der festgestellten Pflichtverletzung nach Art. 204 ZK komme wegen des Vorrangs der nicht heilbaren Entziehungshandlung gemäß Art. 203 ZK nicht in Betracht. Hinsichtlich der Einfuhrumsatzsteuer seien die zollrechtlichen Vorschriften gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) sinngemäß anzuwenden. Die Abgabenschuld sei auf die Klägerin als Rechtsnachfolgerin übergegangen.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung revisiblen europäischen Gemeinschaftsrechts, weil das FG Art. 204 ZK unzutreffend ausgelegt habe. Das FG meine zu Unrecht, die Zollschuld sei aufgrund Entziehens der Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstanden, da eine Heilungsmöglichkeit gemäß Art. 204 ZK wegen des Vorrangs von Art. 203 ZK nicht in Betracht komme. Eine solche Vorrangstellung lasse sich jedoch aus dem Wortlaut der Vorschriften nicht eindeutig entnehmen. Im Streitfall seien die Voraussetzungen des Art. 204 Abs. 1 ZK i.V.m. Art. 859 Nr. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften ―Zollkodex-Durchführungsverordnung (ZKDVO)― (ABlEG Nr. L 253/1) erfüllt, wonach die Zollschuld nicht entstanden sei. Die Ausfuhr der Waren ohne Eröffnung eines externen Versandverfahrens sei kein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung und auch nicht der Versuch einer solchen Entziehung. Der Klägerin bzw. der Firma R könne auch nicht der Vorwurf grob fahrlässigen Verhaltens gemacht werden, ihr sei lediglich ein "Arbeitsfehler" unterlaufen. Die Verfehlung habe sich auch auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Zolllagerverfahrens nicht wirklich ausgewirkt.
Das HZA teilt im Ergebnis die Auffassung des FG und betont, schon aus dem Wortlaut des Art. 203 Abs. 1 ZK folge, dass die Zollschuldentstehung gemäß Art. 203 Abs. 1 ZK vorrangig vor der nach Art. 204 Abs. 1 ZK zu prüfen sei. Die Waren seien im Streitfall der zollamtlichen Überwachung dadurch entzogen worden, dass sie aus dem Zolllager ohne sich unmittelbar anschließende Überführung in das externe Versandverfahren entfernt worden seien. Damit sei die zollamtliche Überwachung der Waren zumindest vorübergehend nicht mehr gewährleistet gewesen.
Im Verlauf des Revisionsverfahrens holte der Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss vom 17. Juli 2001 VII R 99/00 (BFHE 195, 481), auf dessen Begründung verwiesen wird, beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234 Abs. 1, Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft eine Vorabentscheidung zu folgender Rechtsfrage ein:
"Ist ein Entziehen der aus dem Zolllager wiederausgeführten Drittlandswaren mit der Folge der Entstehung einer Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 [ZK] allein darin zu sehen, dass die zur Wiederausfuhr aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft bestimmten Waren nicht im unmittelbaren Anschluss an ihre Entfernung aus dem Zolllager zum externen Versandverfahren abgefertigt worden sind?"
Mit Urteil vom 12. Februar 2004 Rs. C-337/01 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 592), auf dessen Gründe ebenfalls verwiesen wird, hat der EuGH hierauf geantwortet:
"Artikel 203 Absatz 1 …[ZK] ist dahin auszulegen, dass in das Zolllager übergeführte und zur Wiederausfuhr aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft bestimmte Nichtgemeinschaftswaren der zollamtlichen Überwachung im Sinne der genannten Bestimmung entzogen worden sind, wenn sie vor dem Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom 4. Mai 2001 zur Änderung der Verordnung … [ZKDVO] ohne vorherige Abfertigung zum externen Versandverfahren aus dem Zolllager entfernt und von dort zur Ausgangszollstelle befördert worden sind und die Zollbehörden, sei es auch nur zeitweise, nicht imstande gewesen sind, die zollamtliche Überwachung dieser Waren sicherzustellen."
Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich zu diesem Urteil des EuGH zu äußern. Das HZA ist der Auffassung, eine Erstattung der Abgaben nach Art. 239 ZK scheitere im Streitfall zwingend am Vorliegen offensichtlicher Fahrlässigkeit bei der Klägerin.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen das HZA zu verpflichten, die festgesetzten Abgaben zu erstatten.
Das HZA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat zu Recht die Klage abgewiesen, weil die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzen (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Klägerin steht ein Erstattungsanspruch nicht zu.
1. Zutreffend hat das FG erkannt, dass der Klägerin ein Erstattungsanspruch gegen das HZA aus Rechtsgründen nicht zusteht. Die Klägerin kann nicht nachweisen, dass der begehrte Einfuhrabgabenbetrag im Zeitpunkt der Zahlung nicht gesetzlich geschuldet war (Art. 236 Abs. 1 erster Unterabs. ZK). Vielmehr steht nach der vom Senat eingeholten Vorabentscheidung des EuGH fest, dass der begehrte Betrag von der Klägerin als Zoll- und Einfuhrumsatzsteuerschuldnerin geschuldet war.
a) Nach Art. 203 Abs. 1 ZK entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird. Bei den streitgegenständlichen Zolllagerwaren handelte es sich um einfuhrabgabenpflichtige Nichtgemeinschaftswaren (Art. 4 Nr. 8 i.V.m. Nr. 7 ZK), die vom Zeitpunkt ihres Verbringens in das Zollgebiet der Gemeinschaft, bis zum Wechsel ihres zollrechtlichen Status bzw. bis zu ihrer Wiederausfuhr, also auch während der Dauer des vom HZA bewilligten Zolllagerverfahrens, der zollamtlichen Überwachung unterlagen (Art. 37 ZK).
b) Zwar war das Zolllager Typ D der Rechtsvorgängerin der Klägerin, der Firma R, noch nach dem Vorkodexrecht bewilligt worden, doch richteten sich ab 1. Januar 1994 die sich aus der Bewilligung ergebenden Rechte und Pflichten nach den nunmehr einschlägigen Vorschriften des ZK und der ZKDVO, die insoweit an die Stelle des bis dahin geltenden Zolllagerrechts der Verordnungen (EWG) Nr. 2503/88 des Rates vom 25. Juli 1988 über Zolllager (ABlEG Nr. L 225/1) und Nr. 2561/90 der Kommission vom 30. Juli 1990 zur Durchführung dieser Verordnung (ABlEG Nr. L 246/1) getreten sind (vgl. Art. 251 Abs. 1 Anstrich 18 ZK und Art. 913 Anstrich 49 ZKDVO). Solange sich hiernach die Nichtgemeinschaftswaren im Zolllagerverfahren befinden (vgl. Art. 98 Abs. 1 Buchst. a ZK), dürfen sie nur vorübergehend aus dem Lager entfernt werden und dies nur nach Bewilligung durch die Zollstelle (Art. 110 ZK). Sollen sie zwecks Wiederausfuhr (Art. 182 Abs. 1 Anstrich 1 ZK) auf Dauer aus dem Zolllager entfernt werden, sind sie zu der vorgesehenen neuen zollrechtlichen Bestimmung (Art. 4 Nr. 15 Buchst. c) anzumelden (Art. 182 Abs. 3 Satz 3 ZK); erst nachdem sie diese Bestimmung erhalten haben, endet das Zolllagerverfahren (Art. 89 Abs. 1 ZK).
Die Nichtgemeinschaftswaren mussten in einem solchen Fall im hier maßgebenden Zeitraum gemäß Art. 91 Abs. 1 Buchst. a ZK von der Ausfuhrzollstelle zur Ausgangszollstelle im externen Versandverfahren befördert werden, weil die Beförderung im Rahmen des Zolllagerverfahrens vor In-Kraft-Treten der ZKDVO-Änderungs-VO (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom 4. Mai 2001 (ABlEG Nr. L 141/1) zum 1. Juli 2001 weder rechtlich zulässig (Art. 91 Abs. 3 ZK) noch von den Zollbehörden im Vorgriff auf die zu erwartende Änderung des Gemeinschaftsrechts bewilligt war. Die im unmittelbaren Anschluss an die Entfernung aus dem Zolllager erforderliche Überführung der streitgegenständlichen Zolllagerwaren in das der Überwachung ihrer Beförderung dienende externe Versandverfahren hat die Klägerin indes versäumt; die Nichtgemeinschaftswaren sind vielmehr erst in Padborg/ Dänemark bzw. an der deutsch-polnischen Grenze dem externen Versandverfahren unterstellt worden. Dadurch sind sie nach der für den Senat verbindlichen Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Denn nach der verbindlichen Auslegung des Begriffs der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung durch den EuGH umfasst dieser jede Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (vgl. Rdnr. 31 der Vorabentscheidung; EuGH-Urteile vom 1. Februar 2001 Rs. C-66/99 ―Wandel―, EuGHE 2001, I-873, Rdnr. 47, und vom 11. Juli 2002 Rs. C-371/99 ―Liberexim―, EuGHE 2002, I-6277, Rdnr. 55). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Zollbehörde tatsächlich eine solche Prüfung durchzuführen beabsichtigt und ob der Bewilligungsinhaber ggf. dann der Zollbehörde die Waren zu einer solchen Prüfung zur Verfügung stellen könnte. Entscheidend ist allein, dass die Zollbehörde ―auch nur vorübergehend― objektiv nicht in der Lage ist, die zollamtliche Überwachung sicherzustellen. Im Streitfall war die zollamtliche Überwachung in dem Zeitraum zwischen der Entnahme der Waren aus dem Zolllager und ihrer Gestellung bei der Ausgangszollstelle sowie ihrer dortigen Unterstellung unter das externe Versandverfahren unterbrochen, so dass das HZA nicht in der Lage war, in diesem Zeitraum Prüfungen vorzunehmen. Dadurch ist der Tatbestand der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung i.S. von Art. 203 Abs. 1 ZK erfüllt worden (Rdnr. 32 der Vorabentscheidung) und folglich die Zollschuld sowie über § 21 Abs. 2 UStG auch die Einfuhrumsatzsteuerschuld entstanden. Zoll- und Steuerschuldnerin ist jedenfalls nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK i.V.m. § 21 Abs. 2 UStG die Klägerin als Inhaberin des Zolllagerverfahrens geworden, weil sie die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der Inanspruchnahme dieses Zollverfahrens ergaben (Art. 101 Buchst. a ZK).
c) Eine "Heilung" dieser Einfuhrabgabenschuld kommt nicht in Betracht. Nach der für den Senat ebenfalls verbindlichen Auslegung des EuGH, der dem Wortlaut des Art. 204 Abs. 1 ZK entnimmt, dass der Zollschuldentstehungstatbestand der Pflichtverletzung des Art. 204 ZK nur dann Anwendung finden kann, wenn der Zollschuldentstehungstatbestand des Art. 203 Abs. 1 ZK nicht greift (Rdnr. 29, 30 der Vorabentscheidung), ist im Streitfall ein Rückgriff auf Art. 204 Abs. 1 ZK und den aufgrund dieser Vorschrift erlassenen Katalog der entschuldbaren Verfehlungen des Art. 859 ZKDVO nicht möglich. Das Bemühen des Senats, jedenfalls in Fällen nachgewiesener Wiederausfuhr von Nichtgemeinschaftswaren dem im vormaligen nationalen Zollschuldrecht maßgeblichen Wirtschaftszollgedanken, wonach allein der Eingang von Einfuhrwaren in die heimische Wirtschaft den inneren Grund für die Zollerhebung abgab, im gemeinschaftlichen Zollschuldrecht Geltung zu verschaffen, ist beim EuGH gescheitert. Anders als von Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen vom 12. Juni 2003 vorgeschlagen, hat der EuGH im Streitfall, wie ausgeführt, sowohl an seiner anhand von Einfuhrfällen entwickelten strengen Auslegung des Begriffs der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung festgehalten, als auch den wirtschaftlichen Charakter der Einfuhrabgaben bei der Frage der Entstehung der Zollschuld für nicht maßgeblich erachtet. Er hat insoweit lediglich auf die Möglichkeit der Erstattung oder des Erlasses der gesetzlich geschuldeten Einfuhrabgaben bei Vorliegen eines besonderen Falles gemäß Art. 239 ZK verwiesen (Rdnr. 34 der Vorabentscheidung). Damit steht fest, dass nach dem gemeinschaftlichen Zollschuldrecht die Zollschuld auch in Fällen wie dem vorliegenden, in denen zwar eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung vorliegt, die Entziehungshandlung sich aber im Grunde lediglich als formaler Verstoß gegen zollrechtliche Pflichten darstellt, ohne die Möglichkeit einer Heilung entsteht.
2. Der Klägerin steht auch ein Erstattungsanspruch in einem besonderen Fall gemäß Art. 239 ZK nicht zu. Der bloße Umstand, dass eine Erstattung von Abgaben nach Art. 236 Abs. 1 ZK ausscheidet, weil eine gesetzliche Voraussetzung für diese Erstattung nicht erfüllt ist, steht einer Erstattung dieser Abgaben aufgrund von Art. 239 Abs. 1 ZK i.V.m. Art. 905 Abs. 1 ZKDVO nicht entgegen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmungen erfüllt sind (EuGH-Urteil vom 27. September 2001 Rs. C-253/99 ―Bacardi―, EuGHE 2001, I-6493).
a) Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin ihren Erstattungsantrag nicht ausdrücklich auch auf Art. 239 ZK gestützt hat. Zum einen war die Klägerin nicht verpflichtet, die konkrete Verordnungsbestimmung zu benennen, auf die sie ihren Erstattungsantrag stützte (vgl. EuGH-Urteil vom 11. November 1999 Rs. C-48/98 ―Söhl & Söhlke―, EuGHE 1999, I-7877 Rdnr. 89). Zum anderen hat der EuGH bereits zur Vorgängervorschrift des Art. 239 ZK entschieden, dass die Zollbehörde nicht gehindert ist, sich in allen Fällen zu vergewissern, ob die für den Erstattungsantrag geltend gemachten Umstände nicht unter irgendeinen der von der Erstattungsregelung erfassten Tatbestände fallen (EuGH-Urteil vom 18. Januar 1996 Rs. C-446/93 ―SEIM―, EuGHE 1996, I-73 Rdnr. 52 f.). Schließlich sieht der EuGH die verschiedenen Erstattungstatbestände wohl als einheitliche Regelung an, nämlich neben der Nacherhebung als einen der beiden besonderen Ausnahmetatbestände im Hinblick auf die Zahlung der Zollschuld (vgl. EuGH-Urteil vom 14. November 2002 Rs. C-251/00 ―Ilumitrónica―, EuGHE 2002, I-10433, Rdnr. 34 f.). Anders wäre auch nicht zu erklären, dass der EuGH im Streitfall das vorlegende Gericht für verpflichtet hält, die Voraussetzungen einer Erstattung der streitigen Abgaben gemäß Art. 239 ZK zu prüfen (Rdnr. 35 der Vorabentscheidung). Aus alldem schließt der Senat, dass die zur Entscheidung über einen Erstattungsantrag berufenen Zollbehörden und mithin auch die Gerichte nicht nur berechtigt, sondern sogar von Amts wegen verpflichtet sind (so ausdrücklich Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen vom 25. Januar 2001 in EuGHE 2001, I-6493, Rdnr. 96; FG Bremen, Urteil vom 16. Juli 1997 296079K 2, Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 771 = Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern 1998, 61), einen Erstattungsantrag umfassend auf alle Erstattungsgründe hin zu überprüfen, die nach dem Vorbringen des Antragstellers einschlägig sein könnten (so bereits auch EuGH, Urteil in EuGHE 1999, I-7877 für Art. 905 Abs. 1 ZKDVO im Verhältnis zu den in Art. 900 bis 904 geregelten Erstattungstatbeständen), sofern die jeweiligen Fristen für die Antragstellung beim betreffenden Erstattungstatbestand noch nicht abgelaufen sind. Sollte der Senat in seiner bisherigen Spruchpraxis hiervon abweichend entschieden haben, so hielte er hieran nicht mehr länger fest.
b) Im Streitfall hat die Klägerin ihren Erstattungsantrag am 7. März 1997 gestellt, mithin noch rechtzeitig innerhalb von zwölf Monaten nach der Mitteilung der Abgaben (vgl. Art. 239 Abs. 2 ZK) durch den am 12. März 1996 zur Post gegebenen Steuerbescheid. Damit stehen einer Überprüfung des Erstattungsantrags auch nach den Maßstäben des Art. 239 ZK keine formell-rechtlichen Hindernisse entgegen.
c) In der Sache ist der Senat der Auffassung, dass im Streitfall eine Erstattung nach Art. 239 ZK bereits deshalb ausscheidet, weil ein besonderer Fall i.S. des Art. 905 Abs. 1 ZKDVO nicht angenommen werden kann. Nach dem Verständnis des Senats reicht es für die Annahme eines besonderen Falles nicht etwa aus, dass es der vorliegenden Abgabenschuld an der inneren Rechtfertigung mangelt, weil sie nicht dem Wirtschaftszollgedanken entspricht. Es müssen vielmehr im Lichte des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks des Art. 239 ZK Umstände festgestellt werden, aufgrund deren sich die Klägerin bzw. ihre Rechtsvorgängerin in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist (EuGH-Urteile vom 25. Februar 1999 Rs. C-86/97 ―Trans-Ex-Import―, EuGHE 1999, I-1041, und in EuGHE 2001, I-6493). Solche Umstände konnte der Senat nicht feststellen. Auch die Klägerin hat nach Ergehen der Vorabentscheidung des EuGH im vorliegenden Revisionsverfahren keine Umstände vorgetragen, die den Senat hätten dazu veranlassen können, die Sache zur weiteren Tatsachenfeststellung an das FG zurückzuverweisen. Da schon kein besonderer Fall vorliegt, konnte dahinstehen, ob die Klägerin offensichtlich fahrlässig gehandelt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1240840 |
BFH/NV 2004, 1614 |
BFHE 2005, 495 |
BFHE 206, 495 |
BB 2004, 2342 |
DStRE 2004, 1438 |
HFR 2004, 1242 |