Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Erforderlichkeit von Ermessenserwägungen bei der Lohnsteuerhaftung des Arbeitgebers
Leitsatz (NV)
Hat ein Arbeitgeber Auslösungen an 33 Arbeitnehmer zu Unrecht lohnsteuerfrei ausgezahlt, und sind die Anschriften dieser Arbeitnehmer dem Finanzamt ganz überwiegend bekannt, so setzt die Inhaftungnahme des Arbeitgebers die Darlegung entsprechender Ermessenserwägungen, spätestens in der Einspruchsentscheidung, voraus.
Normenkette
EStG 1971 und 1974 § 38 Abs. 4; EStG 1975 und 1977 § 42d
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches FG |
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt auf einer Insel ein Unternehmen. Sie hatte in den Streitjahren 1972 bis 1978 eine Reihe von ledigen Arbeitnehmern beschäftigt, denen sie auch über die ersten zwei Wochen ihrer Beschäftigung hinaus steuerfreie Auslösungen gezahlt hat. Alle diese Arbeitnehmer hatten der Klägerin eine vorgefertigte Bescheinigung ausgestellt, in der sie bestätigten, daß sie auf der Insel einen zweiten Wohnsitz hätten und in ihrem Heimatort eine Wohnung unterhalten würden.
Nach Durchführung einer Lohnsteuer-Außenprüfung im Jahre 1975, deren Prüfungszeitraum sich vom 1. August 1972 bis zum 31. August 1975 erstreckt hat, wurde der Klägerin der Prüfungsbericht vom 19. September 1975 übersandt. Darin heißt es u.a.: ,,Die steuerfrei gezahlten Auslösungsbeträge an Ledige ohne eigenen Hausstand gehören nur für die ersten zwei Wochen der Beschäftigung zum steuerfreien Ersatz . . . Für Arbeitnehmer ohne eigenen Hausstand sind Ersatzleistungen wegen doppelter Haushaltsführung nur für die ersten zwei Wochen der Beschäftigung steuerfrei."
Die in dem genannten Prüfungsbericht errechneten Lohnsteuer- und Lohnkirchensteuer-Nachforderungsbeträge wurden vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) zunächst wegen der von der Klägerin geltend gemachten Einwendungen nicht erhoben. Die Klägerin erkannte die Lohnsteuer-Nachforderung nicht an, da alle betroffenen Arbeitnehmer einen Revers oder eine Bescheinigung unterschrieben hätten, daß sie einen eigenen Hausstand besäßen. Sie, die Klägerin, habe daher davon ausgehen dürfen, daß diese Beträge lohnsteuerfrei zu zahlen seien.
Hieraus stellte das FA erneut, und zwar auf der Grundlage einer von der Klägerin auf Anforderung vorgelegten namentlichen Aufstellung sämtlicher lediger Arbeitnehmer mit Heimatanschriften und der Aufschlüsselung der erhaltenen Zahlungen, Ermittlungen an. Diese erstreckten sich auch auf entsprechende Vorgänge bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) und dem Sozialgericht . . .
Eine weitere, im September 1977 begonnene Lohnsteuer-Außenprüfung bei der Klägerin hatte das FA abgebrochen und die Prüfung bis zum Abschluß eines beim Sozialgericht anhängigen Verfahrens zurückgestellt. Durch Schreiben vom 12. Mai 1978 teilte das FA der Klägerin mit: Nach den Feststellungen des Lohnsteuer-Außenprüfers habe sie - die Klägerin - auch in den Jahren 1976 und 1977 den ledigen Arbeitnehmern steuerfreie Auslösungen wegen doppelter Haushaltsführung gezahlt. Das FA bitte um eine weitere Liste sämtlicher lediger Arbeitnehmer mit ihren Heimatanschriften und der Höhe der empfangenen Zahlungen.
Diese Liste ging am 24. Juli 1978 ein.
Aufgrund einer weiteren Lohnsteuer-Außenprüfung erließ das FA unter dem 19. Oktober 1978 den hier die Grundlage des Verfahrens bildenden Haftungsbescheid.
Darin sind die betroffenen Arbeitnehmer (insgesamt 33) und die ihnen nach Ansicht des FA zu Unrecht steuerfrei gezahlten Auslösungen aufgeführt. Soweit Arbeitnehmer mehrjährig bei der Klägerin tätig gewesen sind, hat das FA die auf den einzelnen entfallenden Beträge für die betreffenden Jahre zusammengefaßt. Dabei wurde für die Jahre 1972 bis 1974 die Lohnsteuer pauschal mit 23,4 v. H. und für die restlichen Streitjahre - ebenfalls pauschal - mit 28,2 v. H. der beanstandeten Auslösungen angesetzt. Die Lohnkirchensteuer hat das FA einheitlich für alle Jahre mit 7,5 v. H. der - wie vorstehend geschildert - errechneten Lohnsteuerbeträge erhoben.
Mit ihrer Klage hatte sich nach erfolglosem Einspruch die Klägerin ausdrücklich nur gegen ihre Haftung wegen der vorgenannten an die Arbeitnehmer steuerfrei gezahlten Auslösungen gewandt. Diese Klage wurde, soweit sie sich gegen die Haftung für Lohnkirchensteuerbeträge richtet, als unzulässig und im übrigen als unbegründet abgewiesen. Das Finanzgericht (FG) führte hinsichtlich der Unzulässigkeit folgendes an: Nach § 10 Abs. 1, § 14 Abs. 1 des Gesetzes über die Erhebung von Kirchensteuer im Lande Schleswig-Holstein vom 15. März 1968 (Gesetz- und Verordnungsblatt Schleswig-Holstein - GVBl SH - 1968, 81) i.d.F. vom 18. August 1975 (GVBl SH 1975, 220) sei vom 1. Januar 1968 an in allen Kirchensteuersachen das Verwaltungsgericht anzurufen; der durch § 5 des Ersten Gesetzes zur Ausführung der Finanzgerichtsordnung vom 20. Dezember 1965 (GVBl SH 1965, 189) eröffnete Finanzrechtsweg in Lohnkirchensteuersachen sei daher nicht mehr gegeben. Das FG fährt sodann fort: Soweit die Klägerin sich darüber hinaus gegen die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides wende, sei ihre Klage unbegründet. Die Klägerin habe als Arbeitgeberin für die Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer zu haften (vgl. § 38 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes - EStG - 1971, § 42d EStG 1975 und 1977). Nach § 19 EStG gehörten zum Arbeitslohn außer dem Lohn selbst auch andere Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung gewährt worden seien, wobei es gleichgültig sei, ob es sich um laufende oder einmalige Bezüge handele und ob ein Rechtsanspruch auf sie bestände. Hiernach seien grundsätzlich auch Auslösungen lohnsteuerpflichtig, wenn sie keine Werbungskosten darstellten, sondern - wie hier - den Mehraufwand des Arbeitnehmers für Unterkunft, Verpflegung und Heimfahrten abgelten sollten, der dem Arbeitnehmer dadurch entstände, daß er außerhalb des Ortes beschäftigt sei, an dem er einen eigenen Hausstand und den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen habe. Zu den Werbungskosten gehörten nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG zwar auch die notwendigen Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer aus Anlaß einer doppelten Haushaltsführung entstünden. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien aber hier nicht gegeben . . .
Im übrigen habe das FA mit der Heranziehung der Klägerin nicht seine Pflicht zum ordnungsgemäßen Ermessensgebrauch verletzt. Abgesehen davon, daß der Aufenthalt einiger der betroffenen Arbeitnehmer nicht bekannt sei, die Lohnsteuer von ihnen also nicht eingezogen werden könne, erscheine das Unterlassen des Lohnsteuerabzugs im vorliegenden Fall unentschuldbar. Das gelte mindestens seit dem Zugang der Prüfungsergebnisse vom 19. September 1975 . . .
Mit der hiergegen erhobenen Revision rügt die Klägerin, daß das FG zu Unrecht das Vorliegen eines entschuldbaren Rechtsirrtums verneint habe. Die Entschuldbarkeit ihres Rechtsirrtums könne schon deshalb nicht in Frage gestellt werden, weil das FA selbst in dieser Sache zögerlich vorgegangen sei. Weder aufgrund der ersten Prüfung aus dem Jahre 1975 noch aufgrund der weiteren Prüfungen sei wegen des streitigen Sachverhalts ein Haftungsbescheid ergangen. Zu einem solchen habe vielmehr erst die im August/September 1978 durchgeführte Lohnsteuer-Außenprüfung geführt. Aufgrund der ihr vorgelegten und unterfertigten Bescheinigungen ihrer Arbeitnehmer habe sie nach Treu und Glauben davon ausgehen können, daß die an diese gezahlten Auslösungen lohnsteuerfrei seien.
Entscheidungsgründe
Die Revision kann mangels Zulässigkeit des Rechtsweges aus den zutreffenden Gründen des FG keinen Erfolg haben, soweit die Klägerin die Haftung wegen der Lohnkirchensteuer angreift.
Im übrigen ist die Revision begründet.
Die Revision erstreckt sich ausschließlich auf die Inanspruchnahme der Klägerin wegen der steuerfrei an ledige Arbeitnehmer gezahlten Auslösungen. Die Klägerin haftet als Arbeitgeberin dafür, daß die von ihren Arbeitnehmern geschuldete Lohnsteuer einbehalten und an das FA abgeführt wird (vgl. § 38 Abs. 4 EStG 1971 und 1974, § 42d EStG 1975 und 1977). Hat der Arbeitgeber den Arbeitslohn nicht vorschriftsmäßig gekürzt, kann das FA die Lohnsteuer bis zum Ablauf der Verjährungsfrist sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Arbeitnehmer nachfordern (§ 38 Abs. 4 Nr.1 EStG 1971/1974, § 46 Abs. 2 Nr. 1 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung - LStDV - in der für die einzelnen Jahre maßgebenden Fassung, § 42d Abs. 3 EStG 1975 und 1977). Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind danach Gesamtschuldner. Der Senat hat jedoch für das Verhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß das FA die Wahl, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will, nur nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Beachtung der durch Recht und Billigkeit gezogenen Grenzen treffen darf - Auswahlermessen - (vgl. z. B. Urteil vom 15. November 1974 VI R 167/73, BFHE 114, 342, BStBl II 1975, 297). Das setzt grundsätzlich voraus, daß das FA in eine entsprechende Prüfung eingetreten ist. Dies ist nur dann nicht erforderlich, wenn das FA im Lohnsteuerhaftungsverfahren die Pauschalbesteuerung unter Übernahme der Steuer durch den Arbeitgeber zugelassen hat. Dieser Ausnahmefall liegt hier jedoch nicht vor.
Nach § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dürfen die FG eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörden nur auf Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch überprüfen. Eine solche von Amts wegen durchzuführende Überprüfung setzt indessen voraus, daß die Ermessensentscheidung des FA erkennbar durchgeführt worden ist. Das FA muß folglich seine Ermessenserwägungen spätestens in der Einspruchsentscheidung kundtun, damit sie von den FG überprüft werden können (vgl. dazu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. September 1981 VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801). Das ist hier nicht geschehen, obwohl nach den ins einzelne gehenden Ermittlungen des FA diesem die betroffenen Arbeitnehmer nicht nur dem Namen nach, sondern auch - von wenigen Ausnahmen abgesehen - mit ihrer Anschrift bekannt gewesen sind, so daß ihrer - der Arbeitnehmer - Inanspruchnahme in der Mehrzahl nichts im Wege gestanden hätte. Warum unter diesen Umständen das FA nicht die ihm bekannten einzelnen Arbeitnehmer, die Klägerin als Arbeitgeberin dagegen nur hinsichtlich der Arbeitnehmer in Anspruch genommen hat, deren Anschrift nicht zu ermitteln gewesen ist, läßt sich weder dem Haftungs- noch dem Einspruchsbescheid entnehmen. Beide waren daher aufzuheben, soweit sie angefochten worden sind.
Für den Fall, daß das FA gleichwohl insoweit einen erneuten Haftungsbescheid gegen die Klägerin unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen sollte erlassen wollen, wird es möglicherweise zu beachten haben, daß der Senat nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG auch alleinstehenden Arbeitnehmern in gewissem Umfang Werbungskosten mit Rücksicht auf ihre auswärtige Beschäftigung zugebilligt hat, wenn diese Arbeitnehmer nur vorübergehend einer auswärtigen Beschäftigung von verhältnismäßig kurzer Dauer nachgehen, aber den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen am bisherigen Wohnort beibehalten, nach Beendigung der auswärtigen Tätigkeit voraussichtlich wieder an diesen Wohnort zurückkehren und ihnen deshalb die Aufgabe ihrer Wohnung nicht zuzumuten ist (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 3. Dezember 1974 VI R 159/74, BFHE 114, 428, BStBl II 1975, 356; vom 10. November 1978 VI R 13-14/76, BFHE 126, 420, BStBl II 1979, 157; ebenfalls vom 10. November 1978 VI R 21/76, BFHE 126, 511, BStBl II 1979, 219, sowie ferner vom selben Tage VI R 240/74, BFHE 126, 522, BStBl II 1979; 224; VI R 118/74, BFHE 126, 525, BStBl II 1979, 226; VI R 127/76, BFHE 127, 6, BStBl II 1979, 335, und vom 20. Dezember 1982 VI R 64/81, BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306).
Fundstellen
Haufe-Index 414152 |
BFH/NV 1986, 240 |