Entscheidungsstichwort (Thema)
(Erhöhter Freibetrag wegen dauernder Berufsunfähigkeit bei Praxisverkauf durch Freiberufler, wenn Praxis erst nach dessen Tod übertragen wird)
Leitsatz (amtlich)
1. Hat noch der Praxisinhaber seine freiberufliche Praxis wegen dauernder Berufsunfähigkeit verkauft, wird die Praxis aber erst nach seinem Tode übertragen, so können die Erben den erhöhten Freibetrag nach § 18 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG beanspruchen.
2. Über die Höhe des Freibetrages ist bei der Einkommensteuerveranlagung der Erben zu entscheiden.
Normenkette
EStG 1987 § 18 Abs. 3 S. 2, § 16 Abs. 4 S. 3; AO 1977 § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte zu 1 (Klägerin zu 1) ist die Witwe des am 25. Dezember 1987 verstorbenen praktischen Arztes B, die Kläger und Revisionsbeklagten zu 2 und 3 (Kläger zu 2 und 3) sind die gemeinsamen minderjährigen Kinder.
Mit schriftlichem Vertrag vom 21. Dezember 1987 hatte B mit dem Arzt A vereinbart, daß dieser die Praxis übernehmen solle, und zwar mit Wirkung vom 1. April 1988. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte A als Vertreter für B in der Praxis tätig sein. Im übrigen waren im Vertrag alle Einzelheiten der Praxisübernahme, wie Kaufpreis, Übernahme des Mietverhältnisses und des Inventars, geregelt. B veräußerte die Praxis, weil er dauernd berufsunfähig war. Aufgrund des Todes von B übernahm A die Praxis bereits am 4. Januar 1988. Ansonsten blieb es bei den im Vertrag vom 21. Dezember 1987 vereinbarten Bedingungen.
B wurde von der Klägerin zu 1 zu 1/2 und den Klägern zu 2 und 3 zu je 1/4 beerbt. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) stellte die Einkünfte der Erbengemeinschaft einheitlich und gesondert fest. Den laufenden Gewinn aus der Praxis setzte das FA zunächst mit Bescheid vom 18. Oktober 1991 auf 26 622 DM und den Veräußerungsgewinn auf 88 159 DM an und teilte sie entsprechend den Erbanteilen der Kläger im Verhältnis von 2:1:1 auf. Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer berücksichtigte das FA bei der Klägerin zu 1 einen Freibetrag von 15 000 DM und bei den Klägern zu 2 und 3 von jeweils 7 500 DM. Daran hielt es in dem aus hier nicht interessierenden Gründen ändernden Bescheid vom 25. November 1991 fest. Zu diesem Zeitpunkt hatten sämtliche Kläger bereits die entsprechend den zum Feststellungsbescheid vom 18. Oktober 1991 und den gefertigten ESt 4-Mitteilungen erlassenen Einkommensteuerbescheide 1988 mit der Begründung angefochten, ihnen stehe entsprechend ihrer Erbquote ein Anteil an dem erhöhten Freibetrag zu. Die Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide hatten keinen Erfolg.
Mit den zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen machten die Kläger geltend, der Freibetrag betrage insgesamt 120 000 DM, weil der Erblasser die Praxis wegen dauernder Berufsunfähigkeit veräußert habe. Die während des Klageverfahrens aus anderen Gründen geänderten Einkommensteuerbescheide haben die Kläger zum Gegenstand des Verfahrens erklärt.
Dem Begehren der Kläger hielt das FA entgegen, der erhöhte Freibetrag könne nicht gewährt werden, weil Betriebsveräußerer die Kläger seien. Es komme nicht auf den von B abgeschlossenen Praxisveräußerungsvertrag vom 21. Dezember 1987, sondern dessen Erfüllung an.
Die Klage hatte Erfolg.
Mit der vom Finanzgericht (FG) --wegen grundsätzlicher Bedeutung-- zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung von § 180 Abs. 1 Nr. 2 a der Abgabenordnung (AO 1977) sowie von § 18 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 16 Abs. 4 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist unbegründet. Zu Recht hat das FA entschieden, daß den Klägern entsprechend ihrer Erbquote der erhöhte Freibetrag nach § 18 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG zusteht. Das FG konnte das auch noch bei der Überprüfung der Einkommensteuerbescheide der Kläger berücksichtigen, obwohl das FA den erhöhten Freibetrag nicht im Rahmen der gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte aus der Praxis gewährt hatte.
1. Zu Recht sind die Kläger und das FG der Auffassung, ihnen sei entsprechend dem noch durch den Erblasser vereinbarten Vertrag vom 21. Dezember 1987 der erhöhte Freibetrag zu gewähren, weil die --unstreitige-- dauernde Berufsunfähigkeit des Erblassers der Grund war, warum dieser seine Praxis mit Wirkung zum 1. April 1988 verkauft hat. Allerdings lebte zu dem vorgesehenen Zeitpunkt des Übergangs der Praxis der Erblasser bereits nicht mehr, so daß der Veräußerungsgewinn in seiner Person nicht mehr verwirklicht worden ist (vgl. Senatsurteil vom 26. Juli 1984 IV R 137/82, BFHE 141, 525, BStBl II 1984, 829; Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 22. September 1992 VIII R 7/90, BFHE 170, 29, BStBl II 1993, 228, sowie Beschluß des Großen Senats vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 unter C. II. 2. b).
Ist demnach unter "Veräußerung" i.S. des § 16 EStG der Übergang des (mindestens) wirtschaftlichen Eigentums an den wesentlichen Betriebsgrundlagen, also das dingliche Rechtsgeschäft, zu verstehen, so hindert das doch nicht, für die Frage, ob eine Veräußerung i.S. des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG "wegen" dauernder Berufsunfähigkeit erfolgt ist, auf das Rechtsgeschäft abzustellen, mit dem die Veranlassungskette rechtlich bindend in Gang gesetzt wurde, also auf das Kausalgeschäft, das seinerseits den Rechtsgrund für das nachfolgende Verfügungsgeschäft bildet. Daher kommt es im Fall, daß der Praxisinhaber die Praxis wegen dauernder Berufsunfähigkeit veräußert und stirbt, bevor diese auf den Erwerber übergegangen war, für die Gewährung des erhöhten Freibetrages (§ 18 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG) auf die persönlichen Verhältnisse des Erblassers an. Denn der Eintritt des Erbfalls konnte nichts mehr an der Tatsache ändern, daß noch der Erblasser seinen Entschluß, seine Praxis wegen seiner dauernden Berufsunfähigkeit zu veräußern, bereits verwirklicht hatte und die Praxis auch ohne seinen Tod am 1. April 1988 auf den Erwerber übergegangen wäre. Für den Senat war entscheidend, daß die Kläger durch den noch vom Erblasser abgeschlossenen Vertrag als dessen Rechtsnachfolger gebunden waren. Den Klägern kommt folgerichtig auch der erhöhte Freibetrag des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG zugute. § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG greift nach seiner Zielsetzung, eine durch dauernde Berufsunfähigkeit veranlaßte Betriebsveräußerung zu begünstigen (BFH-Urteil vom 18. August 1981 VIII R 25/79, BFHE 134, 548, BStBl II 1982, 293), im Streitfall ein. Da auch der Gewinn aus der Veräußerung der Praxis (§ 18 Abs. 3 EStG) bei den Klägern anfällt bzw. bei ihnen als den Rechtsnachfolgern auch nachträgliche Einkünfte aus der Praxis anfallen (vgl. Senatsurteil vom 29. April 1993 IV R 16/92, BFHE 171, 385, BStBl II 1993, 716), ist es nur folgerichtig, ihnen den Freibetrag wegen der dauernden Berufsunfähigkeit des Erblassers zu gewähren. Im übrigen haben die Kläger --wie das FG zu Recht ausgeführt hat-- den im übrigen unverändert gebliebenen Vertrag nur dadurch an die durch den Tod des Erblassers veränderten Verhältnisse angepaßt, daß sie mit dem Erwerber die Übernahme der Praxis bereits mit Wirkung vom 4. Januar 1988 vereinbart haben.
2. a) Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 1986 IV R 12/81, BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811; s. weiter BFH-Urteil vom 1. Dezember 1992 VIII R 57/90, BFHE 170, 320, BStBl II 1994, 607 unter IV. 2.) wird bei der Veräußerung eines Betriebs durch die Mitunternehmerschaft über die Höhe des Freibetrages bei der Einkommensteuerveranlagung der Mitunternehmer entsprechend ihren persönlichen Verhältnissen (vgl. BFH-Urteil vom 17. April 1980 IV R 58/78, BFHE 131, 34, BStBl II 1980, 721) entschieden; lediglich der Umfang der Beteiligung des einzelnen Gesellschafters ist im Gewinnfeststellungsverfahren festzustellen (BFH-Urteil in BFHE 170, 320, BStBl II 1994, 607).
Dementsprechend hat der BFH (Senatsurteil vom 29. April 1982 IV R 116/79, BFHE 142, 429, BStBl II 1985, 204, und Urteil des X.Senats in dem vom FA angeführten Urteil vom 3. Juli 1991 X R 26/90, BFH/NV 1991, 813) erst im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung geprüft, ob im Fall der Veräußerung einer Praxis durch die alleinerbende Witwe des Praxisinhabers die Voraussetzungen für den erhöhten Freibetrag (§ 16 Abs. 4 EStG) in der Person der Witwe vorgelegen haben und dies jeweils verneint.
b) Wenn, wie im Streitfall, ausnahmsweise den Erben der erhöhte Freibetrag zu gewähren ist, weil die Veräußerung des Betriebs noch durch die dauernde Berufsunfähigkeit des Erblassers veranlaßt ist und dieser ihn noch verkauft hat, kann über diese Frage ebenso wie bei dem Verkauf durch eine Erbengemeinschaft abschließend erst bei der Einkommensteuerveranlagung der Erben entschieden werden. Denn der zu versteuernde Veräußerungsgewinn fällt erst bei den Erben an (vgl. Senatsurteil in BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811).
Letztlich geht es um eine Zweckmäßigkeitsfrage. Davon ist der erkennende Senat auch in dem Fall ausgegangen, daß eine Mitunternehmerschaft ihren Betrieb veräußert hat (Senatsurteil in BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811). Das Risiko voneinander abweichender Entscheidungen der Wohnsitz-FÄ der einzelnen Mitunternehmer ist auch kaum zu befürchten, wenn der Anteil der einzelnen Miterben --wie im Streitfall-- festgelegt und sowohl für die Gewinnfeststellung als auch für die Einkommensteuerveranlagung der Erben dasselbe FA zuständig ist.
c) Das FA hat im Streitfall den Anteil der Erben an den laufenden Einkünften, dem Veräußerungsgewinn (insgesamt 88 159 DM) und dem Freibetrag (§ 16 Abs. 4 i.V.m. § 18 Abs. 3 EStG) entsprechend der Erbquote festgestellt. Dagegen hat es keine Entscheidung über die Höhe des Freibetrages getroffen; das sieht das Formular der Anlage 1, 2, 3 B zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für 1988 in Übereinstimmung mit der Senatsentscheidung in BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811 auch nicht vor. Gemäß § 182 Abs. 1 AO 1977 hat daher der Feststellungsbescheid hinsichtlich der Höhe des Freibetrages keine bindende Wirkung entfalten können (vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 28. März 1974 IV B 58/73, BFHE 112, 171, BStBl II 1974, 459; s. auch Urteil des erkennenden Senats vom 22. September 1977 IV R 120/73, BFHE 123, 467, BStBl II 1978, 152).
Unter diesen Umständen ist es nicht zu beanstanden, daß das FG aufgrund der miteinander verbundenen Klagen der Kläger gegen ihre jeweiligen Einkommensteuerbescheide den Veräußerungsgewinn steuerfrei gestellt hat. Das beklagte FA war außerdem auch für die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte der Kläger als Erbengemeinschaft zuständig, somit ggf. gemäß § 179 Abs. 3 AO 1977 auch für die Ergänzung des gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheides.
Fundstellen
Haufe-Index 65609 |
BFH/NV 1996, 3 |
BStBl II 1995, 893 |
BFHE 178, 444 |
BFHE 1996, 444 |
BB 1996, 140 |
BB 1996, 140-141 (LT) |
DB 1995, 2401-2402 (LT) |
DStR 1995, 1828-1829 (KT) |
DStZ 1996, 89-90 (KT) |
HFR 1996, 74-75 (L) |
StE 1995, 740 (K) |