Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug bei einer durch Option steuerpflichtigen Grundstücklieferung eines insolventen Veräußerers; Gestaltungsmißbrauch
Leitsatz (NV)
Der Vorsteuerabzug durch den Grundstückserwerber ist rechtsmißbräuchlich, wenn der insolvente Grundstücksveräußerer eine Grundstückslieferung als steuerpflichtig behandelt und der Erwerber den vereinbarten Kaufpreis (einschließlich Umsatzsteuer) dem Verkäufer gar nicht auszahlt, sondern mit eigenen - infolge der wirtschaftlichen Situation des Veräußerers notleidenden - Gegenforderungen verrechnet.
Normenkette
AO 1977 § 42; UStG 1980 § 4 Nr. 9 Buchst. a, §§ 9, 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Bank, erwarb mit notariellem Vertrag vom 13. November 1985 von ihrer Kreditnehmerin Frau S., die seinerzeit überschuldet war, ein Hotelgrundstück. Der Kaufpreis betrug ... DM zuzüglich ... DM gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer. Er wurde in voller Höhe mit Darlehensforderungen der Klägerin verrechnet. Hätte S das Grundstück steuerfrei (§ 4 Nr. 9 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes - UStG - 1980) verkauft, wäre ein Vorsteuerbetrag nach § 15a UStG 1980 in Höhe von ca. ... DM entstanden.
S behandelte den Umsatz in ihrer Steuererklärung als steuerpflichtig, entrichtete die entsprechende Umsatzsteuer jedoch nicht.
Die Klägerin machte die auf den unternehmerisch genutzten Grundstücksteil entfallenden Vorsteuern in Höhe von ... DM als abziehbar geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) verweigerte im Umsatzsteuerbescheid 1985 den Vorsteuerabzug mit der Begründung, die Option der zahlungsunfähigen S zur Steuerpflicht des Grundstücksumsatzes (§ 9 UStG 1980) sei nicht wirksam, weil die Option lediglich darauf abziele, die Klägerin zu Lasten des Fiskus vorrangig zu befriedigen.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage mit seinem - in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 268 abgedruckten - Urteil statt. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG 1980 seien erfüllt. Der Vorsteuerabzug sei nicht wegen Mißbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts (§ 42 der Abgabenordnung - AO 1977 -) ausgeschlossen. Für S seien der gesonderte Ausweis der Umsatzsteuer und die Option zur Steuerpflicht wirtschaftlich sinnvoll gewesen. Folglich liege bei der Klägerin als Leistungsempfängerin ebenfalls kein Gestaltungsmißbrauch vor. Dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6. Juni 1991 V R 70/89 (BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866) sei nicht uneingeschränkt zu folgen.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung von § 9 Abs. 1 und § 15 UStG 1980 sowie von § 42 AO 1977. Zur Begründung macht es im wesentlichen geltend, nach den Grundsätzen des Urteils in BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866 müsse der Vorsteuerabzug wegen Gestaltungsmißbrauchs verweigert werden.
Die Klägerin tritt dem Revisionsvorbringen entgegen. Sie ist der Auffassung, nach den gesetzgeberischen Wertungen sei ein Vorsteuerabzug auch dann zu gewähren, wenn der Leistungsempfänger wisse, daß der Leistende im Zeitpunkt des Verkaufs die - durch Rechnungserteilung bzw. Option entstehende - Umsatzsteuer nicht abführen könne. Der Gesetzgeber habe die häufig auftretende Gestaltung, daß ein Kreditgeber ein Grundstück des Kreditnehmers bei drohender Zwangsversteigerung zur Rettung seines Grundpfandrechts erwerbe (Rettungskauf), gekannt und habe dem Erwerber gleichwohl den Vorsteuerabzug zugebilligt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Der Klägerin steht der geltend gemachte Vortsteuerabzug nicht zu.
a) Das FG hat zwar zutreffend ausgeführt, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG 1980 seien im Streitfall gegeben. Seiner Auffassung, § 42 AO 1977 hindere den Vorsteuerabzug nicht, vermag der Senat aber nicht zu folgen.
b) Nach der zuletzt genannten Vorschrift kann durch Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz nicht umgangen werden. Liegt ein Mißbrauch vor, so entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht.
Der Vorsteuerabzug durch den Grundstückserwerber ist grundsätzlich nicht rechtsmißbräuchlich, wenn der Grundstücksveräußerer eine Grundstückslieferung als steuerpflichtig behandelt; vielmehr soll der Verzicht auf die Steuerbefreiung dem Erwerber den Vorsteuerabzug regelmäßig gerade ermöglichen (vgl. Senatsurteile in BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866 unter 4.; vom 16. März 1993 V R 54/92, BFHE 171, 7, BStBl II 1993, 736, und vom 29. April 1993 V R 93/89, BFH/NV 1994, 510). Der Senat hat im Urteil in BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866 einen Mißbrauch beim Erwerber allerdings für den Fall bejaht, daß dieser den vereinbarten Kaufpreis (einschließlich Umsatzsteuer) dem Verkäufer gar nicht auszahlt, sondern mit eigenen - infolge der wirtschaftlichen Situation des Veräußerers notleidenden - Gegenforderungen verrechnet. So liegen die Dinge im Streitfall, wie das FG festgestellt hat und was unter den Beteiligten nicht streitig ist. Dementsprechend muß der Klägerin der Vorsteuerabzug verweigert werden.
c) Der Senat bleibt bei der in BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866 vertretenen Rechtsauffassung (vgl. hierzu z.B. Reiß, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1992, 42; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 42 AO 1977, Tz. 36; Weiß, UR 1991, 317).
Für die Frage, ob der Klägerin eine mißbräuchliche Gestaltung mit der sich aus § 42 Satz 2 AO 1977 ergebenden Rechtsfolge entgegengehalten werden kann, ist auf die Verhältnisse in der Person der Klägerin abzustellen, denn § 42 AO 1977 betrifft nach Wortlaut und systematischer Stellung (im Abschnitt Steuerschuldverhältnis, §§ 37 bis 50 AO 1977) den Steueranspruch aus dem konkreten Steuerschuldverhältnis des einzelnen Steuerpflichtigen. Der Senat bejaht weiterhin einen Mißbrauch i.S. von § 42 AO 1977 in der Person eines Grundstückserwerbers, der mit einem überschuldeten Veräußerer - wie im Streitfall - einen Kaufpreis zuzüglich Umsatzsteuer vereinbart, sich dadurch den Vorsteuerabzug eröffnet (vgl. dazu Senatsurteil in BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866 unter 4.) und den Kaufpreis (einschließlich Umsatzsteuer) nicht durch Zahlung, sondern durch Verrechnung mit (eigenen) Gegenforderungen tilgt.
Bei einer derartigen Gestaltung wird der Fiskus in Höhe des geltend gemachten Vorsteueranspruchs im wirtschaftlichen Ergebnis vom Erwerber zur Erfüllung seiner wertlosen oder jedenfalls gegenwärtig nicht vollwertigen Forderung gegen den überschuldeten Veräußerer herangezogen. Der Grundstückserwerber will wirtschaftlich gesehen insoweit seine notleidende Forderung gegenüber dem Veräußerer gegen einen sicher realisierbaren Vorsteuerabzugsanspruch austauschen. Dies geschieht auf Kosten des Fiskus, der von einer Erhebung der entsprechenden Umsatzsteuer bei dem überschuldeten Leistungsempfänger infolge der Verrechnung des Kaufpreisanspruches seitens des Erwerbers praktisch ausgeschlossen ist. Eine derartige Ausnutzung der Regelung des UStG 1980 dahin, den Vorsteuerabzug - entgegen dem Regelungsplan des Gesetzes - nicht davon abhängig zu machen, daß der Leistende die dem Leistungsempfänger in Rechnung gestellte Umsatzsteuer auch tatsächlich an das FA entrichtet (vgl. Senatsurteil in BFHE 165, 1, BStBl II 1991, 866 unter 3. a), ist angesichts der objektiven Umstände nach Auffassung des Senats ein Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts i.S. des § 42 AO 1977.
d) Der Meinung der Klägerin, § 42 AO 1977 sei unanwendbar, weil der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik des Rettungskaufs dem Grundstückserwerber den Vorsteuerabzug zugebilligt habe, folgt der Senat nicht. Vielmehr kann daraus, daß der Gesetzgeber den Vorsteuerabzug in Fällen der vorliegenden Art nicht ausdrücklich untersagt hat, nicht geschlossen werden, er habe ihn damit hinnehmen wollen. Derartiges läßt sich entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht daraus folgen, daß ausschließlich für andere Fallgruppen bestimmt worden ist (vgl. § 18 Abs. 8 Satz 1 UStG 1993 i.V.m. § 51 Abs. 1 Satz 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung - UStDV 1993 -), der Leistungsempfänger habe die Steuer von der Gegenleistung einzubehalten und an das FA abzuführen sowie gemäß § 55 UStDV 1993 für die Steuer zu haften (vgl. auch Senatsurteil vom 17. Mai 1984 V R 118/82, BFHE 141, 339, BStBl II 1984, 678, unter II. 4.; Senatsbeschluß vom 4. August 1987 V B 16/87, BFHE 150, 478, BStBl II 1987, 756, unter II. 2.; jeweils zur Frage der Billigung von Zwischenmietverhältnissen durch Einfügung des Satzes 2 in § 9 UStG 1980 a.F.).
Fundstellen
Haufe-Index 419487 |
BFH/NV 1994, 745 |