Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlass bestandskräftig festgesetzter Umsatzsteuer nur unter bestimmten, eng begrenzten Voraussetzungen
Leitsatz (NV)
1. Ein von einem Steuerberater gestellter Erlassantrag kann grundsätzlich nicht in einen Einspruch umgedeutet werden.
2. Ein Billigkeitserlass bestandskräftig festgesetzter Umsatzsteuer aus sachlichen Gründen scheidet jedenfalls dann aus, wenn der Eintritt der Bestandskraft auf der schuldhaften Versäumung eines Rechtsbehelfs beruht.
3. Hat im Festsetzungsverfahren die Möglichkeit bestanden, die sachlich richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts geltend zu machen und ist diese aus vom Steuerpflichtigen zu vertretenden Gründen nicht wahrgenommen worden, so gibt es keine gemeinschaftsrechtliche Grundlage, die den Mitgliedstaat dazu verpflichtet, die versäumte Rechtsverfolgung in einem Erlassverfahren erneut zu eröffnen.
Normenkette
AO 1977 § 227; UStG § 15 Abs. 1 Nr. 2; EWGRL 388/77 Art. 17
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betrieb ein Unternehmen, das den An- und Verkauf sowie die Vermittlung von Immobilien zum Gegenstand hatte. Im Jahr 1996 errichtete sie ein Ferienhaus, wobei sie nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) das polnische Bauunternehmen X mit der Durchführung dieser Baumaßnahme beauftragte.
Nach den Feststellungen des FG entrichtete die Klägerin für Materialeinfuhrgeschäfte des mit der Durchführung des Bauvorhabens beauftragten polnischen Bauunternehmens an das Hauptzollamt (HZA) Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von 26 865,94 DM. Diesen Betrag zog sie in ihrer Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 1996 als Vorsteuer ab.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) stimmte der Umsatzsteuererklärung der Klägerin zunächst zu. Im Anschluss an eine steuerliche Außenprüfung bei der Klägerin erkannte das FA den Abzug der entrichteten Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuerbeträge nicht an und änderte die Umsatzsteuerfestsetzung 1996 mit Bescheid vom 12. Juli 2001.
Einen als Einspruch bezeichneten Rechtsbehelf legte die Klägerin hiergegen nicht ein. Allerdings beantragte ihr damaliger steuerlicher Berater mit einem am 19. Juli 2001 beim FA eingegangenen Schreiben den Erlass der Umsatzsteuer in Höhe des versagten Vorsteuerabzugs sowie der darauf entfallenden Zinsen. Zugleich beantragte er die Aussetzung der Vollziehung.
Das FA lehnte den Erlass sowohl von Umsatzsteuer als auch von Zinsen ab. Mit einem am 1. Oktober 2001 beim FA eingegangenen Schreiben machte die Klägerin geltend, das Schreiben vom 19. Juli 2001 sei als Einspruch anzusehen. Andernfalls mache der zeitgleich gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung keinen Sinn. Hilfsweise legte sie Einspruch gegen die Ablehnung des Erlassantrages ein. In seiner Einspruchsentscheidung wies das FA den Einspruch gegen die Ablehnung des Erlasses von Umsatzsteuern und Zinsen zur Umsatzsteuer als unbegründet zurück. Die Klage richtete sich gegen die durch die Einspruchsentscheidung bestätigte Versagung des Erlasses von Umsatzsteuer und hierzu festgesetzter Zinsen.
Das FG wies die Klage ab und ließ die Revision gegen seine Entscheidung gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu, ohne den Zulassungsgrund näher zu präzisieren. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das FG aus, ein Erlass scheide aus, weil es an den allein in Erwägung zu ziehenden sachlichen Billigkeitsgründen fehle.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts. Zur Begründung der Revision trägt sie vor, das Urteil des FG verstoße gegen den gemeinschaftsrechtlich gesicherten Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer. Das nationale Recht müsse soweit möglich im Lichte des Wortlautes und des Zwecks einer Richtlinie, hier der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG), ausgelegt werden. Diese Auslegung ergebe, dass die in Rechnungen ausgewiesene und abgeführte Umsatzsteuer im unternehmerischen Bereich als Vorsteuer abziehbar sein müsse. Habe ein Unternehmer eine Werklieferung erhalten und scheide ein Steuermissbrauch aus, weil kein anderer den Vorsteueranspruch geltend gemacht habe, so gebiete es der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer, dem Unternehmer die Vorsteuer zu erstatten. Die Revision stützt sich insoweit auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in den Rechtssachen Schmeinck & Cofreth und Manfred Strobel (Urteil vom 19. September 2000 Rs. C-454/98, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2000, 470) und Genius Holding B.V. (Urteil vom 13. Dezember 1989 Rs. C-342/87, UR 1991, 83) sowie auf mehrere Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Urteile vom 22. Februar 2001 V R 5/99, BFH/NV 2001, 997; vom 22. März 2001 V R 11/98, BFH/NV 2001, 1088; vom 24. November 1988 V R 186/83, BFH/NV 1989, 419). Diese von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Berichtigung eines unberechtigten Steuerausweises müssten erst recht gelten, wenn eine Rechnungskorrektur nicht in Betracht komme.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung, des ablehnenden Bescheids vom 30. August 2001 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Februar 2002 das FA zu verpflichten, Umsatzsteuer 1996 in Höhe von 12 537,87 € und Zinsen zur Umsatzsteuer in Höhe von 3 150,58 € zu erlassen.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 FGO).
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Erlass der festgesetzten Umsatzsteuer noch auf Erlass der festgesetzten Zinsen.
1. Gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet werden. Die von der Klägerin geltend gemachte und hier allein in Erwägung zu ziehende sachliche Unbilligkeit kommt in Betracht, wenn die Besteuerung --unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen-- im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 9. September 1993 V R 45/91, BFHE 172, 237, BStBl II 1994, 131, und vom 15. März 1995 I R 61/94, BFH/NV 1995, 1036). Dabei ist der Erlass eine Ermessensentscheidung der Verwaltung, die von den Gerichten gemäß § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden darf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind (Ermessensmissbrauch) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (Ermessensfehlgebrauch).
2. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen scheidet aus, weil der Umsatzsteuerbescheid 1996 vom 12. Juli 2001 in Bestandskraft erwachsen ist und die besonderen Voraussetzungen, unter denen die Erhebung einer bestandskräftig festgesetzten Steuer im Billigkeitswege erlassen werden könnte, nicht vorliegen.
a) Der Umsatzsteuerbescheid vom 12. Juli 2001 ist mit Ablauf der Einspruchsfrist bestandskräftig geworden, weil die Klägerin keinen Einspruch eingelegt hat. Insbesondere stellt das --als "Erlaßantrag" bezeichnete-- Schreiben ihres damaligen Steuerberaters vom 19. Juli 2001 keinen Einspruch dar; ein von einem Vertreter der steuerberatenden Berufe gestellter Erlassantrag ist grundsätzlich nicht als Einspruch anzusehen (BFH-Urteil vom 27. November 1959 VI 211/58, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1961, 39).
b) Zwar steht die mit Ablauf der Einspruchsfrist eingetretene Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung einem Billigkeitserlass nicht grundsätzlich entgegen. Mit dem Billigkeitserlass können aber die Ergebnisse der Bestandskraft jedenfalls dann nicht beseitigt werden, wenn deren Eintritt auf der schuldhaften Versäumung eines Rechtsbehelfs beruht. Nach Eintritt der Bestandskraft eines Steuerbescheides kann sachliche Unbilligkeit grundsätzlich nur angenommen werden, wenn
die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und
es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren (BFH-Entscheidungen vom 21. Oktober 1999 V R 94/98, BFH/NV 2000, 610; vom 29. März 2000 XI B 147/99, BFH/NV 2000, 952; vom 17. Dezember 1997 III R 8/94, BFH/NV 1998, 935; vom 9. Januar 1997 IV R 5/96, BFHE 182, 520, und vom 9. Juli 2003 V R 57/02, BFH/NV 2003, 1620).
Beide Voraussetzungen liegen nicht vor. Zum einen ist kein Grund ersichtlich, weshalb die Klägerin an einer rechtzeitigen Einlegung eines Einspruchs gegen den Umsatzsteuerbescheid 1996 hätte gehindert gewesen sein sollen. Derartige Gründe sind weder vom FG festgestellt noch von der Klägerin vorgetragen worden. Bereits aus diesem Grund scheidet ein Erlass aus.
Die Umsatzsteuerfestsetzung ist darüber hinaus auch nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der im Streitjahr geltenden Fassung kann der Unternehmer als Vorsteuerbeträge u.a. abziehen die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände, die für sein Unternehmen in das Inland eingeführt worden sind. Eine Einfuhr "für sein Unternehmen" i.S. von § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG liegt vor, wenn der Unternehmer den eingeführten Gegenstand seinem im Inland belegenen Unternehmen zuordnet, um ihn zur Ausführung von Umsätzen einzusetzen. Das setzt nach bisheriger ständiger Rechtsprechung voraus, dass der Unternehmer im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über den eingeführten Gegenstand innehat (BFH-Urteile vom 24. April 1980 V R 52/73, BFHE 130, 564, BStBl II 1980, 615; vom 12. September 1991 V R 118/87, BFHE 165, 312, BStBl II 1991, 937, und vom 16. März 1993 V R 65/89, BFHE 170, 481, BStBl II 1993, 473). Diese Voraussetzung war nach den Feststellungen des FG nicht erfüllt. Danach hatte nicht die Klägerin, sondern das polnische Bauunternehmen im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über das Baumaterial.
Im Urteil in BFHE 170, 481, BStBl II 1993, 473 hat der BFH keinen Widerspruch dieser Auslegung zu Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG gesehen. Ob das Abstellen auf die Verfügungsmacht tatsächlich im Einklang mit Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG steht, ist allerdings zweifelhaft. Nach dieser Richtlinienbestimmung wird dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug eingeräumt "für die Mehrwertsteuer, die für eingeführte Gegenstände im Inland geschuldet wird oder entrichtet worden ist". Daraus könnte zu folgern sein, dass für die Berechtigung zum Abzug der Einfuhrumsatzsteuer nur darauf abzustellen ist, ob diese geschuldet oder entrichtet worden ist, nicht aber darauf, wer im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über den eingeführten Gegenstand innehatte. Diese Zweifel können aber nicht dazu führen, die in der deutschen Umsatzsteuerpraxis herrschende Meinung als eindeutig und offensichtlich unrichtig zu beurteilen.
Auch aus den Urteilen des EuGH in den Rechtssachen Schmeinck & Cofreth und Manfred Strobel (Urteil in UR 2000, 470) und Genius Holding B.V. (Urteil in UR 1991, 83), auf die sich die Klägerin bezieht, ergibt sich nichts anderes. In der Rechtssache Genius Holding besteht die Kernaussage des EuGH darin, dass die Berechtigung zum Vorsteuerabzug nur für Steuern besteht, die geschuldet werden, weil sie mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen (EuGH in UR 1991, 83 Rz. 13). Gleichsam in einem obiter dictum weist der EuGH in diesem Urteil darauf hin, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, im Falle eines unberechtigten Steuerausweises dem gutgläubigen Rechnungsaussteller eine Berichtigungsmöglichkeit einzuräumen, um einen etwaigen Widerspruch zum Neutralitätsgrundsatz zu vermeiden. Zu der Frage, ob ein im Rahmen des Abzugs der Einfuhrumsatzsteuer nicht gewährter Vorsteuerabzug im Ergebnis im Erlasswege gewährleistet werden muss, trifft das Urteil in der Rechtssache Genius Holding nicht einmal mittelbar eine Aussage.
Auch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Schmeinck & Cofreth und Manfred Strobel stützt die Rechtsauffassung der Klägerin nicht. Zwar hat der EuGH darin entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, ob über die Berichtigungsmöglichkeiten hinsichtlich einer unberechtigt ausgestellten Rechnung im Steuerfestsetzungsverfahren oder in einem sich anschließenden (Billigkeits-)Verfahren entschieden wird (EuGH in UR 2000, 470 Rz. 66). Das heißt aber nur, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, dem Steuerpflichtigen eine Berichtigungsmöglichkeit einzuräumen, in welchem Verfahren auch immer. Die Rechtsprechung des EuGH kann dagegen nicht dahin gehend verstanden werden, dass die sachlich richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch dann in einem Erlassverfahren geltend gemacht werden kann, wenn hierzu zuvor im Festsetzungsverfahren die Möglichkeit bestanden hat, diese vom Steuerpflichtigen aber aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht wahrgenommen worden ist.
Fundstellen