Leitsatz (amtlich)
Die Aufforderung zur Abgabe einer Erklärung zur einheitlichen und gesonderten Feststellung von Einkünften (§ 215 AO) stellt ein Aufgreifen des Steuerfalles dar, das das FA zur Durchführung der Einzelveranlagung verpflichtet, ohne daß es der Einhaltung der Antragsfrist nach § 71 Abs. 2 EStDV durch den Steuerpflichtigen bedarf.
Normenkette
AO § 215; EStDV § 71 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob der Revisonsbeklagte (Steuerpflichtiger) für die Jahre 1963 bis 1965 zur Einkommensteuer zu veranlagen ist.
Der Steuerpflichtige und seine gleichfalls klagende Schwester sind Miteigentümer eines Mietgrundstücks. Nach dem notariellen Vertrag vom 16. September 1954 erwarben sie das Grundstück als Schenkung ihrer Großmutter. Die Miteigentümergemeinschaft hat erstmals am 14. August 1967 eine Erklärung zur einheitlichen Feststellung der Einkünfte aus diesem Grundstück für das Kalenderjahr 1966 abgegeben. Daraufhin hat das FA zur Abgabe entsprechender Erklärungen für die Kalenderjahre 1963 mit 1965 aufgefordert. Die Erklärungen gingen beim FA am 24. November 1967 ein. Mit Bescheiden vom 18. Januar 1968 über die einheitliche Feststellung von Einkünften hat das FA die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (Verluste) 1963 bis 1965 festgestellt und den Miteigentümern je zur Hälfte zugerechnet. Die Bescheide waren an den Zustellungsvertreter der Gemeinschaft gerichtet, sie erwuchsen in Rechtskraft. Mit den Erklärungen zur einheitlichen Feststellung der Einkünfte 1963 bis 1965 gingen am 24. November 1967 unaufgefordert auch Einkommensteuererklärungen für die Kalenderjahre 1963 mit 1965 beim FA ein. Dabei wurde beantragt, gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 5b bzw. 6b EStG in der jeweils gültigen Fassung die Veranlagung zur Einkommensteuer unter Berücksichtigung der festgestellten Verluste aus Vermietung und Verpachtung durchzuführen.
Das FA lehnte die Durchführung der Veranlagungen für die Jahre 1963 bis 1965 wegen Fristüberschreitung ab. Die Einsprüche hiergegen blieben erfolglos.
Auf Klage hin verpflichtete das FG das FA zur Durchführung der begehrten Einkommensteuerveranlagungen 1963 bis 1965. Das FG ging hierbei davon aus, daß die in § 71 EStDV vorgesehene Frist für die Stellung eines Antrags auf Veranlagung wegen berechtigten Interesses dann nicht gelte, wenn das FA selbst den Steuerfall aufgegriffen habe. Dies sei der Fall, wenn das FA zur Abgabe von Erklärungen auffordere und dadurch den Steuerfall von sich aus aufnehme. In diesem Zusammenhang sei es ohne Bedeutung, daß das FA den Steuerfall nicht durch Anforderung einer Einkommensteuererklärung, sondern lediglich durch Anforderung einer Erklärung zur Feststellung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aufgegriffen habe. Die nach § 215 AO vorgeschriebene einheitliche Feststellung von Einkünften sei ein zwar selbständiger, aber gleichwohl notwendiger Bestandteil eines Veranlagungsverfahrens mit Einkünften, an denen mehrere Personen beteiligt seien. Das verselbständigte Verfahren über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften sei mithin ein wesentlicher unverzichtbarer Teil des Veranlagungsverfahrens, ohne den die an den Einkünften beteiligten Personen überhaupt nicht zur Einkommensteuer veranlagt werden könnten. Das FA könne daher einen Steuerfall sowohl wie im Streitfall durch Anforderung einer Erklärung über die einheitliche Feststellung von Einkünften als auch durch Anforderung einer Einkommensteuererklärung aufgreifen. Die Interessenlage sei in beiden Fällen die gleiche. Hieraus ergebe sich, daß die von dem Steuerpflichtigen begehrte Veranlagung zum Ausgleich von Verlusten aus anderen Einkunftsarten mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach der Aufnahme des Steuerfalls durch das FA nicht mehr an die nach § 71 EStDV genannte Frist gebunden sei. Das FA sei daher zur Durchführung der Veranlagung verpflichtet.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die vom FA-Vorsteher eingelegte Revision ist unbegründet.
Mit Recht hat das FG das FA dazu verpflichtet, für den Steuerpflichtigen eine Veranlagung zur Einkommensteuer durchzuführen. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 5b bzw. 6b EStG in der jeweils gültigen Fassung ist für die Veranlagung zur Berücksichtigung von Verlusten aus einer anderen Einkommensart als derjenigen aus nichtselbständiger Arbeit ein Antrag erforderlich. Dieser braucht jedoch nicht ausdrücklich gestellt zu werden. Es genügt, daß in der Steuererklärung oder in Rechtsbehelfsanträgen das Begehren des Steuerpflichtigen auf Berücksichtigung von Verlusten zum Ausdruck kommt (vgl. Urteil des BFH IV 337/61 vom 19. Dezember 1962, HFR 1963, 248). Zwar kann nach § 71 Abs. 2 EStDV der Antrag auf Veranlagung nur bis zum Ablauf der Steuererklärungsfrist gestellt werden. Diese Fristbestimmung gilt jedoch nicht, wenn das FA eine Einkommensteuersache von sich aus aufgreift. In diesen Fällen kann der Antrag auf Veranlagung gestellt werden, solange die Prüfung und Bearbeitung noch nicht abgeschlossen ist.
Wie der erkennende Senat in seinem Urteil VIII R 158/71 vom 9. Mai 1972 (BFH 106, 67, BStBl II 1972, 672) ausgeführt hat, ist ein Aufgreifen des Steuerfalles schon darin zu sehen, daß das FA den Steuerpflichtigen zur Abgabe einer Steuererklärung auffordert. Wird das Zusenden der Steuererklärung mit der Aufforderung verbunden, eine Steuererklärung abzugeben, dann gibt das FA damit zu erkennen, daß es den konkreten Steuerfall prüfen und entscheiden will. Denn es kann nicht angenommen werden, daß das FA im Einzelfall einen Steuerpflichtigen grundlos und in der Absicht, nicht weiter tätig zu werden, zur Abgabe einer Steuererklärung auffordert.
Diese Grundsätze gelten auch für den Streitfall, und zwar dergestalt abgewandelt, daß auch die Aufforderung zur Abgabe einer Erklärung zur einheitlichen und gesonderten Feststellung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ein Aufgreifen des Steuerfalls durch das FA im oben genannten Sinne darstellt. Wie das FG hierzu zutreffend ausführt, ist die gemäß § 215 AO vorgeschriebene einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften ein selbständiger, aber gleichwohl notwendiger Bestandteil eines Veranlagungsverfahrens mit Einkünften, an denen mehrere Personen beteiligt sind. Das verselbständigte Verfahren über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften ist ein wesentlicher unverzichtbarer Teil des Veranlagungsverfahrens, ohne den die an den Einkünften beteiligten Personen nicht zur Einkommensteuer veranlagt werden könnten. Da in einem derartigen Fall die Einzelveranlagung eines Steuerpflichtigen ohne vorherige Durchführung des Verfahrens über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften nicht durchführbar ist, beginnt das Einzelveranlagungsverfahren der Natur der Sache nach notwendig bereits mit dem Verfahren nach § 215 AO. Hieraus aber folgt, daß das FA einen Steuerfall bereits durch Anforderung einer Erklärung über die einheitliche Feststellung von Einkünften aufgreift, und die Einleitung des Verfahrens nach § 215 AO zwangsläufig in der Einzelveranlagung mündet (vgl. auch BFH-Urteil VI 227/61 vom 13. April 1962, StRK, Einkommensteuergesetz, § 46 Abs. 1 Nr. 4, Rechtsspruch 10).
Die von dem Steuerpflichtigen begehrte Veranlagung zum Ausgleich von Verlusten aus anderen Einkunftsarten mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit ist daher nach der Aufnahme des Steuerfalls durch das FA nicht mehr an die nach § 71 Abs. 2 EStDV genannte Frist gebunden. Das FA ist zur Durchführung der Veranlagung verpflichtet, so daß die Revision des FA-Vorstehers als unbegründet zurückzuweisen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 70259 |
BStBl II 1973, 113 |
BFHE 1973, 369 |