Leitsatz (amtlich)
Wird die Abfindung für einen Erbverzicht nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG 1959 nicht von dem künftigen Erblasser, sondern von einem Dritten gewährt, so bestimmt sich die Steuerklasse gleichwohl nach dem Verhältnis des Verzichtenden zum künftigen Erblasser (Abweichung von BFH-Urteil vom 16. Januar 1953 III 192/52 U, BFHE 57, 150, BStBl III 1953, 59).
Normenkette
ErbStG 1959 § 3 Abs. 1 Nr. 5, §§ 10-11
Tatbestand
Der im Jahre 1930 verstorbene Kaufmann S hatte seine Ehefrau (M) als Vorerbin und seine beiden Kinder (Sohn H - im folgenden Bruder -; Tochter G - Klägerin und Revisionsklägerin -) zu Nacherben eingesetzt.
Am 18. Oktober 1954 erklärten Mutter, Bruder und Klägerin zu notariellem Protokoll: Die Klägerin verzichtet zugunsten ihres Bruders auf ihr gesetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht an dem Nachlaß ihrer Mutter. Die Mutter erklärt sich mit dem Erbverzicht der Klägerin einverstanden und setzt den Bruder der Klägerin zu ihrem alleinigen Erben ein. Der Bruder verpflichtet sich, an die Klägerin als Gegenleistung für den Erbverzicht 15 000 DM zu zahlen. Diese Abfindungssumme wird in ein mit jährlich 5 v. H. verzinsliches und in jährlichen Raten von 2 000 DM zu tilgendes Darlehen umgewandelt und an Stelle des Bruders wird Schuldnerin der Klägerin die von Mutter und Bruder betriebene Offene Handelsgesellschaft.
Das FA (Beklagter und Revisionsbeklagter) behandelte die Gegenleistung für den Erbverzicht der Klägerin mit der Umwandlung in das Darlehen als in voller Höhe zugeflossen. Er setzte gem. § 3 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG Schenkungsteuer fest und wendete den Steuersatz der Steuerklasse III 3. für Geschwister an (§§ 10 Abs. 1, 11 Abs. 1 ErbStG).
Der Behandlung des Rechtsbehelfs als Sprungklage wurde zugestimmt. Die Sprungklage blieb ohne Erfolg.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Der Erbschaftsteuer unterliegen die Schenkungen unter Lebenden (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG 1951). Als Schenkung unter Lebenden i. S. des Gesetzes gilt u. a. auch, was als Abfindung für einen Erbverzicht gewährt wird (§ 3 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG 1951; die Vorschrift des § 3 Abs. 1 Nr. 5 stimmt in den ErbStG 1951 und 1959 überein).
Der Tatbestand des entgeltlichen Erbverzichts wird bereits seit dem Reichserbschaftsteuergesetz 1906 besteuert und war lediglich im ErbStG 1919 nicht der Steuer unterworfen. Gesetzgeberischer Grund für die Aufnahme des Tatbestandes eines entgeltlichen Erbverzichts in das Gesetz war, es sollte der Anfall von Vermögenswerten, der Erbschaftsteuer oder Schenkungsteuer auslösen sollte, nicht durch vertragliche Gestaltung der Besteuerung entzogen werden können. Der Verzicht ist zwar weder ein Vermögensanfall anläßlich eines Erbfalles noch eine Schenkung. Letzteres ist er auch dann nicht, wenn er unentgeltlich ausgesprochen wird. Weder wird der künftige Erblasser bereichert noch die dritte Person, der nach dem Tode des Erblassers das Vermögen anfällt. Wird ein Entgelt gewährt, so wird jedoch der Verzichtende so gestellt, wie wenn ihm das, worauf er verzichtet, angefallen und dieser Vermögenswert von ihm veräußert worden wäre. Der Verzichtende wird somit durch das Entgelt bereichert, wie wenn er Erbe oder Beschenkter geworden wäre. § 3 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG 1959 ergänzt § 2 Abs. 2 Nr. 4 und 5 ErbStG 1959.
Legt man der Besteuerung einen fiktiven Erbanfall zugrunde, liegt der entscheidende Vorgang in der Vorwegnahme des Erbanfalls, der durch den Verzicht sozusagen gekauft bzw. verkauft wird. Die Verhältnisse zwischen dem fiktiven Erblasser und dem fiktiven Erben wären danach der für die Wahl der Steuerklasse sachgerechte Anknüpfungspunkt.
Legt man der Besteuerung eine fiktive Schenkung zugrunde, wäre es sachgerecht, das persönliche Verhältnis zwischen dem fiktiven Zuwendungsempfänger und dem fiktiven Zuwendenden zugrunde zu legen. Denn zwischen ihnen vollzieht sich in diesem Zeitpunkt der Vorgang der Bereicherung und Entreicherung.
Es scheint naheliegend, die gesetzgeberische Grundentscheidung der Tatbestandsgestaltung bei der Auslegung, welche Steuerklasse anzuwenden ist, für maßgebend zu erachten und aus der Aufnahme des entgeltlichen Erbverzichts unter die Tatbestände des § 3 ErbStG 1959 - also unter die Schenkungsteuertatbestände - zu schließen, aus dieser Einordnung folge auch, es müsse von einer fiktiven Schenkung zwischen demjenigen der die Abfindung im Zeitpunkt des Erbverzichts aus seinem Vermögen leistet, und dem Empfänger der Abfindung ausgegangen werden, wie dies im Urteil des BFH vom 16. Januar 1953 III 192/52 U (BFHE 57, 150, BStBl III 1953, 59) geschehen ist (ebenso schon Kipp, Kommentar zum Erbschaftsteuergesetz, Berlin 1927, § 4 Anm. 22 S. 264; anderer Ansicht Stölzle, Erbschaftsteuergesetz 1925/1931, 2. Aufl., Leipzig 1932, § 3 Rdnr. 163 S. 165). Ein solcher Schluß ist indes nicht zwingend.
Die unterschiedliche Einordnung der Abfindung für einen Verzicht auf den entstandenen Pflichtteilsanspruch sowie des Entgelts für die Übertragung der Anwartschaft eines Nacherben unter die Tatbestände des § 2 ErbStG 1959 (Erwerbe von Todes wegen) einerseits und der Abfindung für einen Erbverzicht unter § 3 ErbStG 1959 (Schenkung unter Lebenden) andererseits ist auch dadurch erklärbar, daß bei den erstgenannten Tatbeständen (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 und 5 ErbStG 1959) ein Erbfall bereits eingetreten ist, während bei dem Tatbestand der Abfindung für einen Erbverzicht der Erblasser lebt und die Abfindung im Hinblick auf den künftigen Erbfall gewährt wird, so daß im Zeitpunkt der Gewährung der Abfindung gedanklich eine fiktive Schenkung vorliegt.
Ausgangspunkt der gesetzgeberischen Regelung in § 3 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG 1959 ist jedenfalls der Erbverzicht. Der Erbverzicht ist ein Vertrag zwischen dem (künftigen) Erblasser und dem Verzichtenden (§§ 2346, 2352 BGB). Der Verzicht bewirkt den Wegfall des gesetzlichen Erbrechts dessen, der den Verzicht erklärt, und gibt dem künftigen Erblasser die entsprechende Testierund Schenkungsfreiheit. Vertragsgegner des Erbverzichts sind insoweit nur der künftige Erblasser und der Verzichtende. Im Verhältnis zwischen dem künftigen Erblasser und dem Verzichtenden wird die "Abfindung für den Erbverzicht" stets von dem künftigen Erblasser "gewährt", unabhängig davon, ob sie von dem künftigen Erblasser selbst oder von demjenigen geleistet wird, der durch den Verzicht begünstigt wird. Ob der künftige Erblasser dem Verzichtenden die Abfindung aus seinem Vermögen gewährt, sich den Abfindungsbetrag von dem durch den Verzicht im Ergebnis später Begünstigten geben läßt und an den Verzichtenden weiterleitet oder letzterer unmittelbar dem Verzichtenden die Abfindung gewährt, ist letztlich aus der Sicht des Empfängers wie für den gesetzgeberischen Rechtsgrund, die Abfindung für den Erbverzicht steuerlich zu erfassen, gleichgültig. Es ist kein Grund ersichtlich, Abfindungen vor und nach Eintritt des Erbfalles unterschiedlich zu behandeln. Unter diesen Umständen erweist sich das Verhältnis des künftigen Erblassers zum Verzichtenden als der sachgerechte Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der Steuerklasse. Das Gesetz enthält keine ausdrückliche Vorschrift, die dieser Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift entgegenstünde.
Anstelle der Steuerklasse III (3.) war daher die Steuer nach der Steuerklasse I (2.) zu bemessen. Der für Personen der Steuerklasse I maßgebende Freibetrag übersteigt den Wert des Erwerbes (§ 17 b Abs. 1 Nr. 1 ErbStG 1951). Erbschaftsteuer fällt mithin nicht an. Der Steuerbescheid vom 12. Dezember 1969 war infolgedessen aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 72434 |
BStBl II 1977, 733 |
BFHE 1978, 543 |
NJW 1977, 2232 |