Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung von Treu und Glauben bei der Festsetzung von Nachforderungszinsen
Leitsatz (NV)
Der Grundsatz von Treu und Glauben steht der Festsetzung von Nachforderungszinsen gemäß § 233 a Abs. 1 AO 1977 dann nicht entgegen, wenn das Entstehen des Zinsanspruchs neben Versäumnissen des FA maßgebend auch auf einer Verletzung der Steuererklärungspflicht des Stpfl. beruht.
Normenkette
AO 1977 §§ 150, 233a; BGB § 242
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und ihr verstorbener Ehemann, dessen Rechtsnachfolgerin die Klägerin ist, reichten ihre Einkommensteuererklärung für das Jahr 1989 (Streitjahr) im September 1990 bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) ein; in der Anlage V hatten sie angegeben, die anteiligen Einkünfte aus der Beteiligung der Klägerin an einer -- unter Angabe der Steuernummer bezeichneten -- Grundstücksgemeinschaft seien noch nicht festgestellt. Nachdem der Bearbeiter bei dem FA im November 1990 den Eingabewertbogen unterzeichnet hatte, erging der unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellte Einkommensteuerbescheid 1989 am 23. Januar 1991; hierin wurden keine Einkünfte der Klägerin aus der ebenfalls bei dem FA steuerlich geführten, aus zwei Personen bestehenden Grundstücksgemeinschaft berücksichtigt.
Am 5. Dezember 1990 erließ das FA einen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte der Grundstücksgemeinschaft für das Streitjahr, in dem anteilige Einkünfte der Klägerin in Höhe von 4 544 DM festgestellt wurden. Am 17. Januar 1991 vermerkte der für die Einkommensteuerveranlagung zuständige Sachbearbeiter auf der Mitteilung über diese Feststellung: "Auswertung nach Absendung ESt-Bescheid, da hohe Nachzahlung." Aufgrund einer sodann im September 1991 vorgenommenen Auswertung der Mitteilung erging im Oktober 1991 ein gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderter Einkommensteuerbescheid, mit dem für den Zeitraum vom 1. April bis 11. November 1991 auf den Nachforderungsbetrag von 1 700 DM Zinsen gemäß § 233 a AO 1977 in Höhe von 59 DM festgesetzt wurden.
Nach erfolglosem Einspruch hat die Klägerin gegen die Festsetzung der Nachforderungszinsen Klage erhoben. Während des Klageverfahrens hat das FA aufgrund der Ergebnisse einer zwischenzeitlich durchgeführten Außenprüfung am 5. August 1992 einen gemäß § 164 Abs. 2 AO 1977 geänderten Steuerbescheid für das Streitjahr erlassen, mit dem zusätzlich Nachforderungszinsen in Höhe von 306 DM festgesetzt wurden. Der Änderungsbescheid wurde auf Antrag der Klägerin gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen: Die allgemeine Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen solle einen Ausgleich dafür schaffen, daß die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig würden; hierbei komme es nicht darauf an, aus welchen Gründen die Steuer im Einzelfall erst nach Ablauf der Karenzfrist des § 233 a Abs. 2 Satz 1 AO 1977 festgesetzt werde.
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, die Festsetzung der Zinsen sei unrechtmäßig, da sie allein darauf beruhe, daß das FA die Mitteilung über die Feststellung der Einkünfte aus der Grundstücksgemeinschaft aufgrund einer unvertretbar langen Bearbeitungszeit erst nach Ablauf der Karenzfrist ausgewertet habe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung die im Einkommensteuerbescheid 1989 vom 5. August 1992 festgesetzten Nachforderungszinsen um 59 DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat zu Recht die Festsetzung der strittigen Nachforderungszinsen als rechtmäßig beurteilt.
1. Führt eine Festsetzung u. a. der Einkommensteuer zu einer Steuernachforderung, so ist diese gemäß § 233 a Abs. 1 AO 1977 zu verzinsen. Der Zinslauf beginnt grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Da im Streitfall die Einkommensteuer 1989 mit Ablauf des Kalenderjahres 1989 entstand (§ 36 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes -- EStG --), begann der Zinslauf am 1. April 1991. Der Zinslauf endete bei der -- hier strittigen -- Festsetzung der Zinsen vor dem 1. Januar 1994 mit der Fälligkeit der Steuernachforderung (§ 233 a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 in der Fassung des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I 1988, 1093, BStBl I 1988, 224, 258; vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 9. Mai 1994 VI B 97/93, BFHE 174, 214, BStBl II 1994, 556), mithin am 11. November 1991.
Die Klägerin hat gegen die Höhe der nach Maßgabe der §§ 233 a, 238 AO 1977 festgesetzten Zinsen keine Einwendungen erhoben; ein Rechtsfehler ist insoweit auch nicht ersichtlich.
2. Das FA war auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches -- BGB --) nicht an der Festsetzung der Nachforderungszinsen gehindert.
a) Die Finanzbehörde ist grundsätzlich verpflichtet, die nach dem Gesetz entstandenen Steuer- und Zinsansprüche geltend zu machen. Nur ausnahmsweise kann es im Hinblick auf den allgemeinen, auch im Steuerrecht zu beachtenden Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben geboten sein, von der Geltendmachung und Durchsetzung entstandener Ansprüche abzusehen (BFH-Urteil vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81, m. w. N.).
b) Nach der Rechtsprechung des BFH steht der Grundsatz von Treu und Glauben einer Festsetzung von Nachforderungszinsen gemäß § 233 a AO 1977 grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn der Veranlagungsbeamte die Bearbeitung der Steuererklärung schuldhaft verzögert (BFH in BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81). Diese Beurteilung beruht auf der Erwägung, daß dem Steuerpflichtigen durch den verspäteten Erlaß eines zu einer Steuernachforderung führenden Steuerbescheides Liquiditätsvorteile entstehen, die nach dem Willen des Gesetzgebers (s. BTDrucks 11/2157, S. 194 f.; vgl. auch BTDrucks 8/1410, S. 4) aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeschöpft werden sollen. Allerdings hat der I. Senat des BFH es dahingestellt sein lassen, ob der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von Nachforderungszinsen entgegensteht oder ob diese Zinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn der Steuerpflichtige entgegen der § 233 a AO 1977 zugrunde liegenden Annahme die für die Nachzahlung benötigten Geldbeträge im Hinblick auf bevorstehende Steuernachzahlungen unverzinslich oder mit einem Zinssatz von unter 6 % anlegt und ein schuldhaftes Verhalten eines FA-Bediensteten zu einer übermäßigen Bearbeitungszeit und damit zur Entstehung von Nachforderungszinsen führt. Nach dem Urteil des X. Senats des BFH vom 20. September 1995 X R 86/94 (BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53) ist in diesem Zusammenhang auch darauf abzustellen, inwieweit das Verhalten des Steuerpflichtigen für das Überschreiten der in § 233 a Abs. 2 Satz 1 AO 1977 vorgesehenen Karenzfrist von 15 Monaten ursächlich ist.
c) Nach diesen Grundsätzen bedarf es im Streitfall keiner Erörterung, ob der Klägerin ein Liquiditätsvorteil erwachsen ist. Der Grundsatz von Treu und Glauben steht der Festsetzung der strittigen Nachforderungszinsen bereits deshalb nicht entgegen, weil das Überschreiten der Karenzfrist des § 233 a Abs. 2 Satz 1 AO 1977 jedenfalls auch auf das Verhalten der Klägerin zurückzuführen ist.
Die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann haben ihrer Verpflichtung zur Abgabe einer vollständigen Steuererklärung (§ 25 Abs. 3 EStG, § 56 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung i. V. m. § 150 AO 1977) insoweit nicht entsprochen, als sie in der Anlage V die Einkünfte der Klägerin aus der Beteiligung an der -- lediglich aus zwei Personen bestehenden -- Grundstücksgemeinschaft nicht angegeben haben. Da keine Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, daß der Klägerin zum Zeitpunkt der Abgabe der Einkommensteuererklärung im September 1990 eine -- ggf. auch nur überschlägige -- Ermittlung dieser Einkünfte nicht möglich war, ist davon auszugehen, daß die zu den Nachforderungszinsen führende nachträgliche steuerliche Erfassung der Einkünfte der Klägerin aus der Grundstücksgemeinschaft auch auf einer Verletzung der Steuererklärungspflicht der Klägerin beruht; denn bei einer Angabe der betreffenden Einkünfte in der Steuererklärung hätte das FA sie bereits im Rahmen der innerhalb der Karenzfrist vorgenommenen Steuerfestsetzung berücksichtigen können.
Daß das Entstehen des Zinsanspruchs möglicherweise in nicht nur unerheblichem Umfang auch auf Versäumnisse des FA zurückzuführen ist, rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, das FA sei deshalb an der Festsetzung der Nachforderungszinsen gehindert gewesen; denn der Grundsatz von Treu und Glauben steht nach ständiger Rechtsprechung des BFH der Geltendmachung gesetzlich entstandener Steuer- oder Zinsansprüche nur dann entgegen, wenn der Steuerpflichtige seinerseits die ihn treffende Mitwirkungspflicht (§ 90 AO 1977), insbesondere seine Steuererklärungspflicht (§ 150 AO 1977) erfüllt hat (BFH-Urteil vom 11. November 1987 I R 108/85, BFHE 151, 333, BStBl II 1988, 115, m. w. N.). Liegt eine Verletzung sowohl der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen als auch der Ermittlungspflicht des FA vor, so sind die beiderseitigen Pflichtverletzungen grundsätzlich gegeneinander abzuwägen (BFH in BFHE 151, 333, BStBl II 1988, 115); in der Regel aber trifft die Verantwortlichkeit dafür, daß ein steuerlich relevanter Sachverhalt nicht rechtzeitig berücksichtigt wird, den Steuerpflichtigen, der eine unvollständige Steuererklärung abgegeben hat (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1971 VIII R 27/66, BFHE 103, 404, BStBl II 1972, 106).
Fundstellen
Haufe-Index 421389 |
BFH/NV 1996, 797 |