Leitsatz (amtlich)
Das Drängen des Steuerpflichtigen, die Veranlagung alsbald nach Maßgabe der Einkommensteuererklärung vorzunehmen, stellte eine Anerkennung des Steueranspruchs im Sinne des § 147 AO a. F. dar. Es unterbrach die Verjährung Jedoch nur hinsichtlich des Steuerbetrags, der sich nach dem Inhalt der Steuererklärung ergab.
Normenkette
AO a.F. § 147
Tatbestand
Streitig ist im Einkommensteuerverfahren 1957, ob der Steueranspruch verwirkt oder verjährt ist.
Der Revisionskläger – Steuerpflichtiger – betrieb einen Groß- und Einzelhandel. Er reichte beim Finanzamt – FA – die Einkommensteuererklärung 1957 am 2. April 1959 ein. Das FA erließ am 23. Dezember 1965 einen vorläufigen Einkommensteuerbescheid. Der Steuerpflichtige machte mit dem Einspruch geltend, daß der Steueranspruch verwirkt, zumindest verjährt sei. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Mit seiner Klage beantragte der Steuerpflichtige die Aufhebung der Vorentscheidung und des vorläufigen Steuerbescheids. Er führte aus, daß der Bescheid nicht hätte für vorläufig erklärt werden dürfen. Der Steueranspruch sei verjährt, da nach dem 31. Dezember 1959 keine Unterbrechungshandlungen stattgefunden hätten. Im übrigen liege bereits Verwirkung vor, da das FA ohne ersichtlichen Grund mehr als sechs Jahre lang untätig geblieben sei.
Während des Klageverfahrens erließ das FA (am 14. Oktober 1968) auf Grund des Ergebnisses einer inzwischen durchgeführten Betriebsprüfung einen auf die Vorschrift des § 225 AO gestützten endgültigen berichtigenden Einkommensteuerbescheid. Der Steuerpflichtige beantragte mit Schriftsatz vom 23. Oktober 1968, den endgültigen Bescheid gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es ging davon aus, daß das FA berechtigt gewesen sei, einen vorläufigen Steuerbescheid nach § 100 Abs. 2 AO zu erlassen. Die gegen die Vorläufigkeit des ursprünglichen Bescheids gerichteten Einwendungen könnten schon deshalb nicht mehr erhoben werden, weil nicht mehr der vorläufige, sondern nur noch der endgültige Steuerbescheid Gegenstand des Verfahrens sei. Bei der endgültigen Festsetzung der Einkommensteuer sei der Steueranspruch für das Jahr 1957 weder verwirkt noch verjährt gewesen. Durch die Zusendung der Erklärungsvordrucke im Jahre 1958 und die Abgabe der Steuererklärung im Jahre 1959 sei die Verjährung unterbrochen worden. Die Verjährungsfrist habe daher erneut am 1. Januar 1960 zu laufen begonnen (§ 147 Abs. 3 AO a. F.) und hätte, wenn keine Unterbrechungshandlung stattgefunden hätte, am 31. Dezember 1964 geendet (§ 144 AO a. F.). Eine solche Unterbrechungshandlung liege indessen darin, daß der Steuerpflichtige den Steueranspruch anerkannt habe (§ 147 Abs. 1 AO a. F.). Er habe nämlich in den Jahren von 1961 bis 1963 wiederholt mündlich. auch in telefonischen Anrufen, auf Durchführung der Veranlagung 1957 gedrängt. Das ergebe sich aus den Aussagen des Steueramtsmanns S. vor dem FG. Wenn jemand, der eine Steuererklärung abgegeben habe, aus der sich eine Steuerzahlung ergebe, beim FA nachfrage, wann die Veranlagung durchgeführt werde, so erkenne er das Bestehen des in Betracht kommenden Steueranspruchs an. Eine Verwirkung komme nicht in Betracht. Der Steuerpflichtige habe aus dem Verhalten des FA nicht den Schluß ziehen können, daß das FA den Steueranspruch nicht geltend machen werde (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – IV 220/59 U vom 9. Dezember 1960, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 72 S. 288 – BFH 72, 288 –, BStBl III 1961, 108), Bei den erwähnten Rücksprachen des Steuerpflichtigen sei kein Verzicht auf die Geltendmachung der Steuerforderung ausgesprochen worden.
Mit der Revision beantragt der Steuerpflichtige die Aufhebung der Vorentscheidung und die ersatzlose Aufhebung des vorläufigen Einkommensteuerbescheids 1957 vom 23. Dezember 1965 sowie des endgültigen Einkommensteuerbescheids 1957 vom 14. Oktober 1968.
Es sei unzulässig gewesen, den ursprünglichen Bescheid nach § 225 AO zu berichtigen, da schon dieser Bescheid nicht hätte erlassen werden dürfen. § 225 AO setze bedingte befristete oder sonst ungewisse Verhältnisse als Gründe der Vorläufigkeit voraus. Im Streitfall sei der Bescheid indessen nicht aus einem dieser Gründe, sondern nach § 100 Abs. 2 AO für vorläufig erklärt worden. Für diesen Fall gelte indessen § 225 AO nicht (Hinweis auf BFH-Urteil II R 5/66 vom 25. März 1969, BFH 95, 422, BStBl II 1969, 445). Der Erlaß eines vorläufigen Bescheids sei ermessensmißbräuchlich gewesen. Das FA habe auch den Zweck des § 100 AO verkannt, weil es nicht eine alsbaldige Veranlagung beabsichtigt habe (Hinweis auf BFH-Urteil V 81/63 vom 21. Dezember 1965, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1966 S. 139 – HFR 1966, 139 –). Die Auffassung des FA, daß der Bescheid zur Sicherung des Steueranspruchs und zur Verhinderung einer etwa eintretenden Verjährung habe erlassen werden können, sei durch die Vorschrift des § 100 Abs. 2 AO nicht gedeckt. Außerdem sei der Steueranspruch verwirkt oder verjährt. Für Verwirkung spreche, daß auch in einem bloßen Unterlassen des FA ein positives Verhalten liegen könne. Da das FA bis in das Jahr 1963 hinein in keiner der in Betracht kommenden Steuersachen tätig geworden sei, habe kein Zweifel daran bestanden, daß der gesamte Steuerkomplex vom FA nicht mehr habe behandelt werden sollen. Spätestens am 31. Dezember 1964 sei der Steueranspruch für 1957 verjährt gewesen. Spätestens ab 1. Januar 1965 habe mit einer Steuerforderung für das Streitjahr nicht mehr gerechnet zu werden brauchen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, ist davon auszugehen, daß der endgültige Bescheid vom 14. Oktober 1968 infolge des vom Steuerpflichtigen gemäß § 68 FGO gestellten Antrages Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Dagegen ist der vorläufige Steuerbescheid vom 23. Dezember 1965 als Verfahrensgegenstand ausgeschieden, da er durch den Bescheid vom 14. Oktober 1968 ersetzt wurde.
a) Der Antrag nach § 68 FGO war zulässig. Der Senat braucht nicht auf die Frage einzugehen, ob er innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen war (vgl. BFH-Urteil IV R 110/67 vom 28. Mai 1968, BFH 92, 322, BStBl II 1968, 541) oder ob keine Frist eingehalten werden mußte (vgl. BFH-Urteile II 113/65 vom 30. Januar 1968, BFH 91, 27, BStBl II 1968, 210). Denn der Antrag war unter jedem Gesichtspunkt rechtzeitig gestellt.
b) Verfahrensgerecht mußte das FA dem für vorläufig erklärten Bescheid vom 23. Dezember 1965 irgendwann einen endgültigen Bescheid folgen lassen. Da es sich im Streitfall um einen vorläufigen Bescheid handelte, der auf Grund der Vorschrift des § 100 Abs. 2 AO erlassen worden war, konnte der endgültige Bescheid zwar nicht unmittelbar nach § 225 AO a. F. (= in der Fassung vor dem Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze – AOÄG – vom 15. September 1965, BStBl I 1965, 643) ergehen; denn diese Vorschrift gilt ihrem Wortlaut nach nur für Fälle konkreter Ungewißheit (vgl. BFH-Urteil II R 5/66, a.a.O.). Das schloß indes die Möglichkeit einer endgültigen Veranlagung nicht aus. Ist dieser Fall auch im Gesetz nicht geregelt, so ergibt sich doch aus der Natur der Sache, daß auf einen vorläufigen Bescheid ein endgültiger Bescheid folgen muß (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Anm. 2 zu § 225 AO). Der vorläufige Bescheid ist im Streitfall durch den endgültigen Bescheid vom 14. Oktober 1968 ersetzt worden. Dieser wurde auch in einem unzulässigerweise über den vorläufigen Bescheid hinausgehenden Umfang nach § 68 FGO Gegenstand des Verfahrens (vgl. Tipke-Kruse, a. a. O., Anm. 4 zu § 68 FGO).
2. Als das FA den endgültigen Bescheid erließ, war der Steueranspruch noch nicht verwirkt. Denn bloße Untätigkeit des FA reicht nicht aus, um eine Verwirkung annehmen zu können. Sie könnte nur zur Verjährung des Steueranspruchs führen. Eine Verwirkung setzt voraus, daß besondere Umstände hinzugetreten sind, die die verspätete Geltendmachung des Steueranspruchs als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (vgl. BFH-Urteile IV 220/59 U, a.a.O.; V 91/63 U vom 16. September 1965, BFH 83, 441, BStBl III 1965, 657; II 143/62 vom 4. April 1967, BFH 88, 562, BStBl III 1967, 490, mit weiterer Rechtsprechung), Solche Umstände lagen nicht vor. Zu berücksichtigen ist dabei, daß sich die Untätigkeit des FA nicht nur auf den Streitfall, sondern auf alle Einkommensteuer-Veranlagungen und Gewerbesteuermeßbetragsverfahren der Jahre 1957 bis 1964 bezogen hatte. Der Steuerpflichtige konnte nicht damit rechnen, daß das FA die sich aus diesem Gesamtkomplex ergebenden – offensichtlich hohen Steueransprüche nicht mehr geltend machen wolle. Schon die Tatsache, daß das FA die Veranlagung vorläufig vorgenommen hatte, ließ erkennen, daß der Erlaß eines endgültigen Bescheids beabsichtigt war und daß dabei eine Änderung der Steuerfestsetzung in Betracht kommen würde (vgl. BFH-Urteil I 26/64 vom 25. Oktober 1966, BFH 87, 243, BStBl III 1967, 92).
3. Dagegen hat der vom Steuerpflichtigen erhobene Einwand der Verjährung zum Teil Erfolg.
a) Maßgebend sind die Vorschriften der §§ 143 ff. AO in der bis zum 31. Dezember 1965 gültigen Fassung (Art. 5 Abs. 1 AOÄG). Nach § 145 Abs. 1 in Verbindung mit § 144 Satz 1 AO a. F. begann die fünfjährige Verjährung mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden war. Der Anspruch auf die Einkommensteuer 1957 entstand mit Ablauf des Jahres 1957 (§ 3 Abs. 5 Nr. 1 Buchstabe c des Steueranpassungsgesetzes – StAnpG –). Zutreffend führte das FG aus, daß die Verjährung mehrmals unterbrochen wurde, und zwar zuerst durch die Zusendung der Steuererklärungsvordrucke im Jahre 1958 (vgl. BFH-Urteil IV 13/58 U vom 18. Dezember 1958, BFH 68, 271, BStBl III 1959, 105: Verjährungsunterbrechung in vollem Umfange), sodann durch die Abgabe der Steuererklärung im Jahre 1959 (Verjährungsunterbrechung nach Maßgabe des Inhalts der Steuererklärung, BFH-Urteil IV 13/58 U, a. a. O.), schließlich durch wiederholte formlose Anerkennung des Steueranspruchs durch den Steuerpflichtigen.
Mit Recht sah das FG in dem Drängen des Steuerpflichtigen auf Durchführung der Veranlagung eine Anerkennung im Sinn des § 147 Abs. 1 AO a. F. Eine solche Anerkennung liegt in jeder schlüssigen Handlung, aus der hervorgeht, daß sich der Steuerpflichtige zur Zahlung einer Steuerschuld verpflichtet fühlt (vgl. BFH-Urteil VII 179/60 vom 8. Mai 1962, HFR 1963 177). Diese Voraussetzung ist auch dann erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger, der eine Steuererklärung abgegeben hatte, von der er annehmen muß, daß sie zur Festsetzung einer Steuerschuld führen werde, beim FA auf Vornahme der Veranlagung drängt.
b) Der Einkommensteueranspruch 1957 ist indessen verjährt, soweit das FA im Bescheid vom 14. Oktober 1968 eine höhere Einkommensteuer festgesetzt hat, als sich nach Maßgabe der Einkommensteuererklärung des Steuerpflichtigen ergab. Denn das Drängen des Steuerpflichtigen auf Durchführung der Veranlagung konnte die Verjährung nur insoweit unterbrechen, als darin eine Anerkennung des Steueranspruchs lag. Diese Anerkennung reichte nicht weiter als der Inhalt der abgegebenen Steuerklärung (vgl. BFH-Urteil IV 13/58 U, a. a. O.). Das FA konnte durch den Steuerbescheid vom 14. Oktober 1968 deshalb nur in diesem Umfang die vorläufige Steuerfestsetzung endgültig vornehmen.
Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da das FG verkannt hat, daß ein Teil des Steueranspruchs 1957 verjährt war. Da der für die Steuerfestsetzung maßgebende Inhalt der Steuererklärung vom FG nicht festgestellt wurde, kann der Senat die Steuerfestsetzung nicht selbst vornehmen. Die Sache wird deshalb an das FG zurückverwiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 514582 |
BFHE 1971, 356 |