Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachweis der medizinischen Notwendigkeit von Aufwendungen
Leitsatz (NV)
Der Senat hält daran fest, daß Kosten einer logopädischen Therapie für ein Kind nur dann als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind, wenn im Einzelfall ein vor Durchführung der Maßnahme ausgestelltes amtsärztliches oder vertrauensärztliches Zeugnis nachweist, daß die Maßnahme zur Heilung oder Linderung einer Krankheit erforderlich ist und eine andere Behandlung nicht oder kaum erfolgversprechend erscheint.
Normenkette
EStG § 33 Abs. 1
Tatbestand
Der 1971 geborene Sohn J der Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, besuchte ein Gymnasium in H. Wegen aufgetretener "psychosozialer Einordnungsschwierigkeiten und phasenspezifischer Schwierigkeiten sowie neurotischer Verhaltensauffälligkeiten", die sich schulisch auswirkten, wurde J in der Zeit von Juli 1982 bis Mai 1983 in die psychotherapeutische Behandlung von Frau Dr. S gegeben, die am 7. November 1985 bescheinigte:
" ... Eine bestehende Legasthenie verwehrte dem hochbegabten Jungen den nötigen schulischen Erfolg. Dem als Einzelkind aufgewachsenen Jungen, dem durch eine schwere Erkrankung der Mutter im häuslichen Umfeld die kindadäquate Entfaltung verwehrt bleiben mußte, wurde nach Erliegen jeglicher Lernmotivation zu therapeutischen Zwecken eine zeitweilige Internatsunterbringung verordnet. In Kenntnis der optimalen schulischen sowie psychagogischen Förderung durch das Lernstudio in Z (Ausland) wurde der Junge dort für begrenzte Zeit aufgenommen ... "
Bereits am 27. April 1982 war J einer Diplom-Psychologin bei der Schülerhilfe im Rahmen einer schulpsychologischen Untersuchung vorgestellt worden. Die Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg führte dazu in einer Bescheinigung vom 5. Februar 1986 u.a. aus:
" ... Dabei wurde bei extrem hoher Intelligenz eine schwerwiegende Legasthenie festgestellt, die mit den Möglichkeiten einer allgemeinbildenden Schule nicht zu beheben bzw. zu lindern war. Aus diesem Grund war eine psychagogische Heilbehandlung in einer geeigneten Sonderschuleinrichtung dringend indiziert."
Entsprechend der psychologischen Begutachtung und Empfehlung wurde J in der Zeit vom 15. August 1983 bis 8. Oktober 1983 sowie vom 24. Oktober bis 18. November 1983 im Lernstudio Z (Ausland) untergebracht.
Nach einer Stellungnahme des Lernstudios vom 17. November 1992 hat der ganzheitlichen Förderung des Jungen ein therapeutisches Konzept zugrunde gelegen. Auf der Basis einer intensiven psychologischen Betreuung und Förderung durch einen Psychologen fand eine Legasthenietherapie durch eine Legasthenietherapeutin mit anerkannter Ausbildung statt. Zugleich wurden geeignete Arbeits- und Lerntechniken sowie Lernstrategien vermittelt.
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (1983) begehrten die Kläger die Berücksichtigung der Aufwendungen für den Aufenthalt im Lernstudio als außergewöhnliche Belastung.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) ließ die erklärten Aufwendungen nicht zum Abzug zu. Er berücksichtigte lediglich einen anteiligen Ausbildungsfreibetrag in Höhe von 600 DM gemäß §33a Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Der gegen den Einkommensteuerbescheid vom 31. Oktober 1985 gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. In seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 430 veröffentlichten Urteil gelangte das FG zu der Überzeugung, daß es sich bei den streitigen Aufwendungen für die Unterbringung des Kindes in dem Lernstudio um unmittelbare Krankheitskosten handele, die einer medizinisch indizierten Behandlung einer krankhaften Legasthenie gedient hätten und folglich unter §33 EStG fielen.
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) seien Aufwendungen für ein an Legasthenie erkranktes Kind nur dann als Krankheitskosten und damit als außergewöhnliche Belastung anzusehen, wenn die Lese- und Rechtschreibschwäche Krankheitswert habe und die auswärtige Unterbringung wegen einer medizinischen Behandlung erforderlich sei. Der BFH verlange, daß die Lese- und Rechtschreibschwäche auf einer isolierten Störung der zentralen (zerebralen), für das Lesen/Schreiben notwendigen Wahrnehmungsfunktion (Hirnfunktionsstörung) beruhe. Feststellungen darüber, daß die Legasthenie des klägerischen Sohnes hirnorganische Ursachen gehabt habe, seien vom FG nicht getroffen worden. Nach dem Inhalt der vorliegenden Bescheinigungen sei hiervon auch nicht auszugehen. Nach der Ansicht des FG komme es auch nicht darauf an, ob die Legasthenie organische oder sonstige Ursachen habe. Insoweit weiche das FG von der Rechtsprechung des BFH ab. Eine Abweichung von der Rechtsprechung des BFH sei auch insoweit gegeben, als das FG die Vorlage eines amtsärztlichen Attestes zum Nachweis der krankhaften Legasthenie im Streitfall wegen der Bescheinigung des Amtes für Schule und Berufsausbildung vom 5. Februar 1986 nicht erforderlich gehalten habe. Die -- ca. 4 Jahre nach der erfolgten schulpsychologischen Untersuchung erstellte -- Bescheinigung bestätige zwar eine schwerwiegende Legasthenie bei J und halte eine Heilbehandlung in einer geeigneten Sonderschuleinrichtung für dringend erforderlich. Damit sei jedoch nicht der vom BFH geforderte amtsärztliche Nachweis für das Vorliegen einer hirnorganisch bedingten (krankhaften) Legasthenie erbracht. Auch gehe aus der Bescheinigung nicht hervor, daß der Aufenthalt gerade im Lernstudio zur Heilung bzw. Linderung der Legasthenie von J unabdingbar notwendig gewesen sei. In der Bescheinigung werde lediglich eine psychologische Heilbehandlung in einer geeigneten Sonderschuleinrichtung als dringend indiziert angesehen. Dies habe auch eine allgemeine Sonderschule am Ort sein können.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung, die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das Urteil verletzt §33 Abs. 1 EStG.
Nach §33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Krankheitskosten erwachsen einem Steuerpflichtigen im Sinne dieser Vorschrift regelmäßig zwangsläufig, weil er sich ihnen aus tatsächlichen Gründen nicht entziehen kann. Sie gehören aber nur dann zu den nach §33 EStG berücksichtigungsfähigen Aufwendungen, wenn sie zum Zweck der Heilung einer Krankheit oder mit dem Ziel gemacht werden, die Krankheit erträglicher zu machen (vgl. u.a. die BFH-Urteile vom 17. Juli 1981 VI R 77/78, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711; vom 13. Februar 1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427; vom 18. Juni 1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805, m.w.N.). Abziehbar sind derartige Aufwendungen weiterhin nur, soweit es sich um unmittelbare Krankheitskosten handelt (BFH-Urteile vom 14. Februar 1980 VI R 218/77, BFHE 130, 54, BStBl II 1980, 295; vom 22. August 1980 VI R 138/77, BFHE 131, 381, BStBl II 1981, 23; vom 9. August 1991 III R 54/90, BFHE 165, 272, BStBl II 1991, 920).
In dem Urteil vom 26. Juni 1992 III R 8/91 (BFHE 169, 37, BStBl II 1993, 278) hat der erkennende Senat ausgeführt, daß nach diesen Grundsätzen auch Aufwendungen eines Unterhaltspflichtigen für die Behandlung eines Kindes, dessen Lese- und Rechtschreibfähigkeit beeinträchtigt ist, als Krankheitskosten gemäß §33 EStG berücksichtigt werden können. Voraussetzung dafür sei jedoch, daß die Lese- und Rechtschreibschwäche im konkreten Fall eine Krankheit darstelle und daß die Aufwendungen zum Zwecke ihrer Heilung oder Linderung getätigt worden seien. Denn eine Lese- und Rechtschreibschwäche könne verschiedene Ursachen haben. Sie stelle nicht in jedem Fall eine Krankheit i.S. der zu §33 EStG ergangenen Rechtsprechung des Senats dar. Ob sie im Einzelfall eine Krankheit sei, was insbesondere bei einer auf eine Hirnfunktionsstörung zurückgehenden Legasthenie anzunehmen sei, und ob deshalb eine psychagogische Heilbehandlung in einer geeigneten Sonderschule medizinisch notwendig und damit für den Steuerpflichtigen zwangsläufig sei, sei durch Vorlage eines amtsärztlichen Attestes nachzuweisen.
Wegen der Schwierigkeit der Beurteilung der medizinischen Indikation von Maßnahmen, die nicht ihrer Art nach eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können, verlangt die durch das Urteil vom 14. Februar 1980 VI R 218/77 (BFHE 130, 54, BStBl II 1980, 295) eingeleitete neuere Rechtsprechung des BFH grundsätzlich ein vorher ausgestelltes amts- oder vertrauensärztliches Gutachten, aus dem sich die medizinische Notwendigkeit der betreffenden Maßnahme klar ergibt. Denn nicht das FA, sondern nur der rechtzeitig eingeschaltete Amtsarzt oder etwa der Medizinische Dienst einer öffentlichen Krankenversicherung nach §278 des Sozialgesetzbuches V, besitzt zugleich Sachkunde und die notwendige Neutralität, um die medizinische Indikation solcher nicht nur für Kranke nützlichen Maßnahmen objektiv beurteilen zu können (vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom 30. Juni 1995 III R 52/93, BFHE 178, 81, BStBl II 1995, 614, und vom 14. August 1997 III R 67/96, BFHE 183, 561, BStBl II 1997, 732).
Eine amtsärztliche Bescheinigung über die Notwendigkeit einer Legasthenietherapie bei J ist im Streitfall nicht vorgelegt worden. Die Vorstellung einer Diplom-Psychologin bei der Schülerhilfe im Rahmen einer schulpsychologischen Untersuchung, über die nur eine etwa vier Jahre später erstellte Bescheinigung eines Kollegen vorliegt, kann -- entgegen der Annahme des FG -- nicht genügen, zumal darin keine Aussage zu dem Krankheitswert der bei J festgestellten Legasthenie und der Art der zu ergreifenden Therapiemaßnahmen getroffen worden ist. Das Urteil kann daher keinen Bestand haben.
Die Sache ist jedoch nicht spruchreif (§126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Sie ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, um den Klägern Gelegenheit zu geben, das für die steuerliche Anerkennung ihrer Aufwendungen erforderliche amtsärztliche Zeugnis nachträglich beizubringen. Der erkennende Senat hat bereits verschiedentlich ausnahmsweise die Vorlage eines erst nachträglich ausgestellten amtsärztlichen Attestes als zum Nachweis der Zwangsläufigkeit in der Erwägung zugelassen, daß von dem Steuerpflichtigen nicht erwartet werden konnte, daß er die Notwendigkeit erkennt, eine amtsärztliche Begutachtung im vorhinein vornehmen zu lassen, wenn ein solches Erfordernis für bestimmte Aufwendungen erstmals später aufgestellt wird (vgl. BFH-Urteile vom 12. Juni 1991 III R 102/89, BFHE 164, 414, BStBl II 1991, 763; in BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, und in BFHE 165, 272, BStBl II 1991, 920). Im Streitfall liegen ähnliche besondere Voraussetzungen vor. Denn die Entscheidung des Senats, nach der der Nachweis darüber, ob einer Lese- und Rechtschreibschwäche des Kindes Krankheitswert zukommt, durch Vorlage eines vor Beginn der Behandlung ausgestellten amtsärztlichen Attestes zu führen ist, erging erst nach Anfall der im Streitfall strittigen Aufwendungen. Es ist daher vertretbar, ein nachträglich erstelltes amtsärztliches Zeugnis nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen genügen zu lassen, das ggf. unter Auswertung der vorhandenen Unterlagen erstellt werden könnte. Die durch den Zeitablauf erschwerte Beweismittelbeschaffung mindert die Anforderungen an den den Klägern obliegenden Nachweis der medizinischen Notwendigkeit der Unterbringung des Kindes in dem Lernstudio in Z (Ausland) im übrigen nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 302825 |
BFH/NV 1998, 1480 |
HFR 1999, 19 |