Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Es liegt regelmäßig keine mißbräuchliche Anwendung des Ermessens vor, wenn die Finanzbehörden einen Antrag auf Steuererlaß, mit dem sich der Steuerpflichtige sachlich gegen die Richtigkeit der Steuerfestsetzung wendet, unter Hinweis auf die Rechtskraft der Steuerfestsetzung ablehnen.
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
Streitig ist, ob der Mehrbetrag an Einkommensteuer, der sich infolge der gemäß § 27 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorgenommenen Zusammenveranlagung des Steuerpflichtigen mit seiner am 10. April 1941 geborenen Stieftochter für 1951 ergibt, gemäß § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) zu erlassen ist.
Der IV. Senat des Bundesfinanzhofs hat durch das nicht veröffentlichte Urteil IV 476/54 vom 9. Februar 1956 die Zulässigkeit dieser Zusammenveranlagung bestätigt. Die Zusammenveranlagung ergibt gegenüber einer getrennten Veranlagung der Beschwerdeführer (Bf.) einen Mehrbetrag an Einkommensteuer von insgesamt etwa 7.700 DM. Das Finanzamt hat es abgelehnt, diesen Betrag gemäß § 131 AO zu erlassen. Eine Beschwerde an die Oberfinanzdirektion hatte keinen Erfolg. Die hiergegen an das Finanzgericht eingelegte Berufung wurde als unbegründet zurückgewiesen.
Das Finanzgericht führt aus: Ein Steuererlaß nach § 131 AO könne auch dann in Betracht kommen, wenn die Festsetzung der Steuer der Rechtsnorm entspreche, das Gesetz nach seinem Sinn und Zweck den Tatbestand aber nicht habe treffen wollen. Es müsse dann so entschieden werden, wie der Gesetzgeber entschieden hätte, wenn er diesen Ausnahmefall gekannt hätte. Ein solcher Ausnahmefall liege hinsichtlich des § 27 EStG jedoch nicht vor. Der Gesetzgeber habe nicht unterschieden zwischen Stiefkindern mit eigenen und solchen ohne eigene Einkünfte. Er sei sich der damit unter Umständen für die Steuerpflichtigen verbundenen steuerlichen Nachteile bewußt gewesen und habe sie gewollt. Die Beschwerdeführer (Bf.) wollten im Billigkeitsweg die Außerkraftsetzung einer gesetzlichen Regelung erreichen. Die Verwaltungsbehörden seien zu einer solchen Maßnahme nicht berufen; denn sie könnten ihre Ermessensentscheidungen nicht entgegen dem klaren Willen des Gesetzgebers treffen.
Die Bf. machen mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) geltend, daß nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 4/54 vom 17. Januar 1957 (Bundessteuerblatt - BStBl - 1957 I S. 193) nicht nur § 26 EStG, sondern auch § 27 EStG gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) verstoße. Das Bundesverfassungsgericht habe Zusammenveranlagungen als systemwidrig bezeichnet und ausgesprochen, daß sie nicht nur Artikel 6 Abs. 1, sondern auch Artikel 3 GG widersprächen. Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruhten, dürften nach Artikel 79 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) nicht vollstreckt werden. Sofern der Bundesfinanzhof nicht selbst auf Verfassungswidrigkeit der Zusammenveranlagung eines Stiefvaters mit seiner Stieftochter erkennen wolle, werde in erster Linie Vorlage der Sache an das Bundesverfassungsgericht beantragt. Hilfsweise werde vorgetragen, daß entgegen den Ausführungen des Finanzgerichts Veranlassung zum Erlaß der sich durch die Zusammenveranlagung ergebenden Mehrsteuern bestehe. Die Bf. würden infolge ihrer hohen Einkünfte besonders schwer durch die Zusammenveranlagungen betroffen, während eine Zusammenveranlagung bei Stiefkindern ohne nennenswerte eigene Einkünfte keine Nachteile mit sich bringe, sondern sogar vorteilhaft sein könne. Eine besondere Schwierigkeit ergebe sich für die Bf. daraus, daß der gefallene Vater der Stieftochter eine strenge Trennung des Vermögens seiner Tochter von dem der Mutter angeordnet und einen besonderen Pfleger eingesetzt habe, der die Einkünfte der Stieftochter nur zur Bestreitung der Kosten ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen dürfe. Der Pfleger müsse sich, wenn er die durch die Zusammenveranlagung anfallenden Mehrsteuern übernehme, über die im Testament niedergelegten Grundsätze hinwegsetzen. Diese Umstände rechtfertigen die Feststellung, daß die Ablehnung eines Erlasses im vorliegenden Falle eine Verletzung des von den Verwaltungsbehörden bei ihren Entscheidungen zu beachtenden billigen Ermessens darstelle.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist nicht begründet.
Der Hinweis auf § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG der Bf. geht fehl. Diese Vorschrift kommt nur zur Anwendung, wenn die Gesetzesbestimmung, auf die sich eine behördliche Maßnahme stützt, vom Bundesverfassungsgericht für rechtsungültig erklärt worden ist. Das ist hinsichtlich des § 27 EStG, auf dem die Zusammenveranlagung der Bf. beruht, nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluß 1 BvL 4/54 vom 17. Januar 1957 lediglich ausgesprochen, daß die Regelung in § 26 EStG 1951 über die Zusammenveranlagung von Eheleuten mit Artikel 6 GG nicht zu vereinbaren ist. § 27 EStG ist zwar in den Entscheidungsgründen mehrfach erwähnt. über seine Vereinbarkeit mit dem GG hatte das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht zu entscheiden. Die dem Beschluß vorangestellten Rechtssätze enthalten daher auch keinen Ausspruch darüber, ob § 27 EStG gegen das GG verstößt.
Es ist also lediglich zu untersuchen, ob das Finanzamt und die Oberfinanzdirektion bei der Entscheidung über den Erlaßantrag der Bf. die Grenzen des von ihnen zu beachtenden Ermessens überschritten haben. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Nachprüfung derartiger Ermessensentscheidungen ergibt sich aus Artikel 19 Abs. 4 GG (Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, Slg. Bd. 55 S. 277, BStBl 1951 III S. 107). Das Finanzgericht hat das Vorliegen einer Ermessensüberschreitung verneint. Der Senat tritt dieser Auffassung im Ergebnis bei. Die Ausführungen der Bf. in der Begründung ihrer Rb. sind inhaltlich Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung, deren Richtigkeit der IV. Senat des Bundesfinanzhofs durch Urteil vom 9. Februar 1956 bestätigt hat. Die Bf. verkennen den Sinn und Zweck des § 131 AO, wenn sie annehmen, daß diese Vorschrift eine Möglichkeit bietet, rechtskräftige Steuerfestsetzungen nochmals auf ihre Richtigkeit nachprüfen zu lassen (Urteile des Bundesfinanzhofs I 218/55 U vom 17. April 1956, Slg. Bd. 62 S. 510, BStBl 1956 III S. 190; IV 357/55 vom 28. März 1957, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Rechtspruch 9 zu § 131 AO). Dies würde eine Aushöhlung der Rechtskraft von Steuerfestsetzungen bedeuten, die nicht mit § 131 AO zu vereinbaren ist. Ob die Festsetzung einer Steuer dem Sinn und Zweck der Steuergesetze entspricht, ist nach § 1 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) bereits bei der Steuerfestsetzung zu prüfen (Urteil des Bundesfinanzhofs I 4/52 U vom 17. Mai 1952, Slg. Bd. 56 S. 536, BStBl 1952 III S. 208). Nach Rechtskraft der Steuerfestsetzung ist für derartige Erwägungen regelmäßig kein Raum mehr. Die Bedeutung des § 131 AO besteht demgegenüber darin, daß diese Vorschrift die Behörden der Finanzverwaltung ermächtigt, in einzelnen Fällen oder auch bei einer Mehrheit von Fällen Steuern zu erlassen, deren Erhebung nach den persönlichen Verhältnissen der Steuerpflichtigen eine unbillige Härte darstellen würde. Bei Zugrundelegung dieses Zweckes liegt regelmäßig keine mißbräuchliche Anwendung des Ermessens der Finanzbehörden vor, wenn sie unter Hinweis auf die Rechtskraft der Steuerveranlagung einen Steuererlaß gemäß § 131 AO ablehnen, wenn dieser mit Einwendungen gegen den Steueranspruch begründet wird.
Von diesem Grundsatz abzugehen, bestand für die Behörde der Finanzverwaltung im vorliegenden Fall keine Veranlassung. Das Finanzgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber es in Kauf genommen hat, daß sich aus der Zusammenveranlagung mit Kindern unter Umständen eine beträchtliche Erhöhung der Einkommensteuer ergeben kann, wenn das Kind eigene Einkünfte hat. Das inzwischen verkündete Gesetz zur änderung steuerlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (Bundesgesetzblatt 1957 I S. 848), das vor allem die durch die Feststellung der Nichtigkeit des § 26 EStG 1951 entstandenen Schwierigkeiten beseitigen soll, hat keine änderung des § 27 EStG vorgenommen. Dies hätte aber nahegelegen, wenn der Gesetzgeber die Folgen der Progression des Einkommensteuertarifs in den Fällen der Zusammenveranlagung gemäß § 27 EStG hätte beseitigen oder mildern wollen. Es kann auch nicht angenommen werden, daß die Auswirkungen, wie sie bei den Bf. vorliegen, dem Gesetzgeber unbekannt waren. Im Hinblick auf die steuerlichen Vorteile, die sich durch die Kinderermäßigung und auch durch die Möglichkeit des Ausgleichs von Verlusten ergeben, hält der Gesetzgeber derartige Steuererhöhungen offenbar für vertretbar. Der infolge der Zusammenveranlagung gemäß § 27 EStG mögliche Verlustausgleich nach § 2 Abs. 2 EStG und der Verlustabzug bei den Sonderausgaben hat übrigens auch bei den Bf. ihre Freistellung von der Einkommensteuer für die Veranlagungszeiträume 1949 und 1950 bewirkt, so daß sich die Zusammenveranlagung auch für die Bf. nicht als einseitige Schlechterstellung ausgewirkt hat.
Ob der beantragte Steuererlaß nach § 131 AO in Betracht kam, hatten die Finanzbehörden allein danach zu beurteilen, ob die Erhebung der festgesetzten Einkommensteuer eine unbillige Härte darstellt. Diese Entscheidung war von den zuständigen Behörden nach pflichtmäßigem Ermessen zu treffen. Sie haben die Anwendung des § 131 AO in Anbetracht der guten wirtschaftlichen Verhältnisse der Bf. abgelehnt. Hierin ist, wie die Vorentscheidung zutreffend festgestellt hat, keine mißbräuchliche Anwendung des pflichtmäßigen Ermessens zu erblicken. Die gegen die Vorentscheidung eingelegte Rb. ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 408858 |
BStBl III 1957, 408 |
BFHE 1958, 457 |
BFHE 65, 457 |