Entscheidungsstichwort (Thema)
Übergabevertrag
Leitsatz (amtlich)
Kann der Übernehmer die in einem Übergabevertrag vereinbarte Verpflichtung zur umfassenden Pflege des Übergebers wegen dessen medizinisch notwendiger Unterbringung in einem Pflegeheim nicht mehr erfüllen, muß er ohne entsprechende Abrede die Kosten der Heimunterbringung nicht tragen; wohl aber muß er sich an ihnen in Höhe seiner ersparten Aufwendungen beteiligen.
Normenkette
BGB § 157
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. November 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13. Oktober 1983 erhielt die Beklagte von ihrer Großmutter, die Hofvorerbin war, im Wege der vorweggenommenen Erbfolge den Hof M. in V. übertragen; der Vater der Beklagten stimmte als Hofnacherbe dieser Übertragung zu. Die Beklagte übernahm sämtliche im Grundbuch eingetragenen Rechte einschließlich der schuldrechtlichen Verpflichtungen sowie die außerhalb des Grundbuchs bestehenden persönlichen Verbindlichkeiten, die im Zusammenhang mit der Bewirtschaftung des Hofs angefallen waren. Für die Großmutter und den Vater bestellte die Beklagte als „Altenteile” bezeichnete Rechte (Wohnrechte, verbunden mit einer umfassenden Pflegepflicht), zu denen es in dem Vertrag u.a. heißt:
„Die Erschienene zu 2 (= Beklagte) verpflichtet sich den Erschienenen zu 1 und 3 (= Großmutter und Vater) gegenüber, diesen Hege und Pflege in gesunden und kranken Tagen angedeihen zu lassen und für den Fall einer bestehenden Notwendigkeit auch für die Gestellung einer Pflegeperson zu sorgen, so daß dadurch eine umfassende Pflege und Versorgung der Erschienenen zu 1 und 3 gewährleistet ist. Zu dem Recht auf Pflege zählen auch der freie Bezug von Arzneimitteln, ärztliche Versorgung und freier Krankenhausaufenthalt, sofern solche Leistungen nach ärztlichen Anordnungen notwendig werden.
Sämtliche vorstehenden Verpflichtungen der Erschienenen zu 2 in bezug auf etwaige Kranken- und Heilbehandlungsmaßnahmen greifen jedoch erst dann ein, wenn die anfallenden Kosten von der gesetzlichen Krankenversicherung der Erschienenen zu 1 und 3 nicht oder nicht mehr in vollem Umfang getragen werden.”
Die Großmutter der Beklagten verstarb in der Folgezeit. Der Vater zog im Jahr 1984 aus seiner Wohnung auf dem Hof aus. Im März 1989 wurde er zur stationären Pflege in ein Seniorenheim aufgenommen. Da seine Rente zur Begleichung der Pflegekosten nicht ausreichte, zahlte der Kläger den Differenzbetrag. Er leitete deswegen eine Reihe von Ansprüchen des Pflegebedürftigen gegen die Beklagte auf sich über. Das von der Beklagten hiergegen angestrengte verwaltungsgerichtliche Verfahren war für sie erfolglos.
Am 24. November 1995 verstarb der Vater der Beklagten in dem Pflegeheim.
Der auf Erstattung von Pflegekosten in Höhe von 28.160,30 DM für die Zeit von Januar 1993 bis Oktober 1993 gerichteten Klage hat das Landgericht stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Dagegen richtet sich die – zugelassene – Revision des Klägers, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht verneint eine aus dem Hofübergabevertrag folgende Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger die ungedeckten Kosten der Heimunterbringung zu erstatten. Die Erklärungen der Vertragsparteien ließen nämlich nur den Schluß zu, daß die Beklagte für Pflegekosten, die außerhalb des Hofes und nicht in einem Krankenhaus anfielen, nicht aufkommen sollte. Weiter besteht nach Auffassung des Berufungsgerichts kein übergeleiteter Anspruch des Klägers aus Art. 96 EGBGB in Verbindung mit Art. 15 § 9 PrAGBGB, weil kein Altenteilsvertrag im Sinne der letztgenannten Vorschrift vereinbart worden sei; eine generationsübergreifende Nutzung des Grundstücks als Existenzgrundlage sei nämlich nicht erkennbar. Auch ergebe sich ein Zahlungsanspruch des Klägers nicht nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage; denn die für die Festsetzung der vereinbarten Leistungen maßgeblichen Verhältnisse hätten sich seit Vertragsschluß nicht wesentlich verändert. Schließlich bestünden auch keine bereicherungsrechtlichen Ansprüche des Klägers, da die Beklagte nichts ohne Rechtsgrund erlangt habe.
II.
Das hält einer revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Falls das Berufungsgericht, wie es in seinem Urteil anklingt, davon ausgeht, daß der Vertrag vom 13. Oktober 1983 hinsichtlich der Pflegeverpflichtung der Beklagten eindeutig und deswegen nicht auslegungsfähig sei, wäre das fehlerhaft. Der Annahme, die Beklagte werde bei einer Unterbringung ihres Vaters in einem Pflegeheim von sämtlichen ihm gegenüber übernommenen Verpflichtungen frei, weil der Vertrag keine ausdrückliche Regelung für den Fall der Heimunterbringung enthält, läge ein falsches Verständnis von der Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit notarieller Urkunden zugrunde. Sie erstreckt sich nämlich nur auf die vollständige (und richtige) Wiedergabe der getroffenen Vereinbarungen (Senatsurt. v. 1. Februar 1985, V ZR 180/83, WM 1985, 699 f m.w.N.), besagt jedoch nichts über den Vertragswillen der Parteien; der muß nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 133, 157 BGB) ermittelt werden. Anderenfalls wäre eine ergänzende Vertragsauslegung niemals möglich, weil mit einer Vollständigkeitsvermutung in dem vom Berufungsgericht eventuell verstandenen Sinn jede Vertragslücke zu verneinen wäre. Es liegt auf der Hand, daß das nicht richtig sein kann.
2. Jedenfalls ist die Vertragsauslegung des Berufungsgerichts fehlerhaft.
a) Die Auslegung einzelvertraglicher Regelungen durch das Berufungsgericht kann vom Revisionsgericht insoweit nachgeprüft werden, als gesetzliche Auslegungsregeln, anerkannte Auslegungsgrundsätze, Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verletzt worden sind (st.Rspr., s. nur Senatsurt. v. 1. Oktober 1999, V ZR 168/98, WM 1999, 2513, 2514 m.w.N.). Zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen gehört die Berücksichtigung der Interessenlage der Vertragspartner (Senatsurt. v. 1. Oktober 1999, aaO). Dagegen hat das Berufungsgericht verstoßen. Seine Auslegung läuft darauf hinaus, daß die Vertragspartner hinsichtlich der Verpflichtung zur Tragung der Kosten für die Unterbringung des Vaters der Beklagten in einem Pflegeheim einen Vertrag zu Lasten Dritter, nämlich des zuständigen Trägers der Sozialhilfe, abgeschlossen haben. Das ist jedoch sinnlos; denn solche Verträge kennt unsere Rechtsordnung nicht (BGHZ 78, 369, 374 f). Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist aber anzunehmen, daß eine vertragliche Bestimmung nach dem Willen der Parteien einen bestimmten rechtserheblichen Inhalt haben soll; deswegen ist bei mehreren an sich möglichen Auslegungen derjenigen der Vorzug zu geben, bei welcher der Vertragsnorm eine tatsächliche Bedeutung zukommt, wenn sich diese Regelung ansonsten als (teilweise) sinnlos erweisen würde (Senatsurt. v. 1. Oktober 1999, aaO). Möglich ist hier auch die Auslegung, daß die Klägerin für den Fall der Unterbringung ihres Vaters in einem Pflegeheim nicht von allen aus dem „Altenteil” folgenden Verpflichtungen befreit werden sollte.
b) Die Auslegung des Berufungsgerichts verletzt auch die Interessenlage des Vaters der Beklagten. Es ist allgemein bekannt, daß bei der Hofübergabe im Wege der vorweggenommenen Erbfolge der Übergeber sich deswegen von dem Übernehmer ein umfangreiches Pflegerecht zusagen läßt, damit er weiterhin auf dem Hof leben und dort versorgt werden kann; falls aus gesundheitlichen Gründen eine Unterbringung außerhalb des Hofes erforderlich wird, soll der Übernehmer die – von einer Versicherung nicht gedeckten – Kosten tragen. Die Vorstellung, zum „Sozialfall” zu werden, ist in bäuerlichen Kreisen geradezu unerträglich. Das galt im Jahr 1983 vielleicht in einem noch höheren Maß als heute. Jedenfalls schwebten damals (zumindest) dem Vater der Beklagten diese allgemein gültigen Sichtweisen bei dem Abschluß des Hofübergabevertrags vor; das zeigt die Aufnahme der Regelungen über die umfassende Pflege und Versorgung einschließlich freier ärztlicher Versorgung und freiem Krankenhausaufenthalt.
c) Die Auslegung des Berufungsgerichts hat deshalb keinen Bestand. Weitere tatsächliche Feststellungen kommen nicht mehr in Betracht. Das Revisionsgericht ist damit zu eigener Auslegung befugt. Sie führt dazu, daß die Beklagte in dem hier streitigen Zeitraum nicht von allen in dem Hofübergabevertrag übernommenen Verpflichtungen befreit war. Das bedeutet allerdings nicht, daß sie die vollen Kosten der Heimunterbringung ihres Vaters tragen muß. Eine solche Annahme läßt zum einen die vertraglichen Regelungen über etwaige Kranken- und Heilbehandlungsmaßnahmen außer acht. Danach sollte eine Zahlungspflicht der Beklagten nur insoweit bestehen, als die anfallenden Kosten von der gesetzlichen Krankenversicherung des Vaters nicht oder nicht mehr in vollem Umfang getragen wurden. Diesen Leistungen von dritter Seite sind für den Fall der Heimunterbringung die Renteneinkünfte des Vaters gleichzustellen; sie sind – in dem gesetzlich zulässigen Umfang – zuerst zur Bezahlung der Pflegeheimkosten einzusetzen. Zum anderen scheidet eine volle Kostentragungspflicht der Beklagten auch deswegen aus, weil die Vertragsparteien die Pflege des Vaters auf dem Hof vereinbart hatten; die Beklagte mußte somit nur die dadurch anfallenden Kosten tragen. Das hat zur Folge, daß sie zu den Heimkosten nur einen Betrag in Höhe der eigenen ersparten Aufwendungen beizutragen hat. Damit ist gewährleistet, daß sie durch die Heimunterbringung finanziell weder zusätzlich belastet noch ungerechtfertigt, weil auf Kosten der Allgemeinheit, entlastet wird. Dieser Gesichtspunkt ist im übrigen auch dann zu beachten, wenn man von der Auslegung des Berufungsgerichts ausgeht; sie betrifft nämlich nur die Frage der Übernahme der Heimkosten und besagt nichts über die ersparten Aufwendungen der Beklagten für die Pflege auf dem Hof.
4. Der Umstand, daß der Vater bereits im Jahr 1984 aus seiner Wohnung auf dem Hof ausgezogen ist, ändert nichts an der Verpflichtung der Beklagten. Zumindest für den hier streitigen Zeitraum steht nämlich nach dem vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachten die medizinische Notwendigkeit der Unterbringung des Vaters in einem Pflegeheim fest; die Beklagte konnte ihrer Pflegeverpflichtung auf dem Hof selbst unter Hinzuziehung einer Pflegeperson nicht mehr nachkommen. Deshalb scheidet die Annahme eines Verzichts des Vaters auf Leistungen der Beklagten von vornherein aus.
III.
Nach alledem kommt es auf die Erwägungen des Berufungsgerichts zu Ansprüchen gegen die Beklagte nach Art. 96 EGBGB in Verbindung mit Art. 15 § 9 PrAGBGB und den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sowie auf die dagegen gerichteten Revisionsangriffe nicht mehr an. Beide Ansprüche scheiden im übrigen – auch nach dem vom Berufungsgericht eingeschlagenen Lösungsweg – bereits wegen der vorrangigen vertraglichen Regelung aus.
IV.
Das Berufungsurteil ist somit aufzuheben (§ 564 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit es ermitteln kann, welche Aufwendungen die Beklagte für die Pflege auf dem Hof in dem hier streitigen Zeitraum dadurch erspart hat, daß ihr Vater in dem Pflegeheim untergebracht war.
Unterschriften
Vorsitzender Richter am BGH Dr. Wenzel und Richterin am BGH Dr. Lambert-Lang sind infolge Krankheit an der Unterschriftsleistung gehindert. Krüger, Krüger, Lemke, Gaier
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 21.09.2001 durch Kanik, Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2002, 440 |
BGHR 2002, 214 |
BGHR |
FamRZ 2002, 1178 |
DNotI-Report 2002, 22 |
Nachschlagewerk BGH |
WM 2002, 598 |
ZEV 2002, 116 |
AgrarR 2002, 368 |
DNotZ 2002, 702 |
MDR 2002, 271 |
NotBZ 2002, 182 |
RNotZ 2002, 279 |
ZErb 2002, 138 |
ZErb 2002, 158 |
ZNotP 2002, 109 |