Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung
Orientierungssatz
1. Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem § 62 SGG, wenn das Gericht - ohne einen entsprechenden Hinweis zu geben - seine Entscheidung mit im Wesentlichen medizinischen Erwägungen begründet hat, die bisher keiner der gehörten Sachverständigen vertreten hatte.
2. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG.
Normenkette
SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 160a Abs. 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 13.07.2010; Aktenzeichen L 6 VJ 4797/07) |
SG Stuttgart (Urteil vom 15.08.2007; Aktenzeichen S 6 VJ 6337/01) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Juli 2010 insoweit aufgehoben, als es die Feststellung eines Impfschadens im Sinne der Verschlimmerung über die Folgen des von der Klägerin am 1. Juli 1993 erlittenen ersten Schubes der Encephalomyelitis disseminata hinaus abgelehnt hat.
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die an einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose -MS-) erkrankte Klägerin hat mit ihrem im März 2000 gestellten Anerkennungsantrag sowie im Klage- und Berufungsverfahren die Feststellung beansprucht, dass ihre Erkrankung Folge der am 25.6. und 23.7.1992 sowie am 25.6.1993 stattgefundenen Impfungen mit dem Impfstoff "FSME-Immun" ist.
Mit Urteil vom 13.7.2010 hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 15.8.2007 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 3.5.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2001 geändert und festgestellt, dass die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des von der Klägerin am 1.7.1993 erlittenen ersten Schubes der Encephalomyelitis disseminata ein Impfschaden im Sinne der sog Kannversorgung sind. Im Übrigen hat das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die MS der Klägerin sei weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung mit Wahrscheinlichkeit auf die drei genannten Impfungen zurückzuführen. Im Rahmen der sog Kannversorgung sei lediglich der von der Klägerin am 1.7.1993 erlittene erste Schub der schon zuvor aufgetretenen MS im Sinne einer guten Möglichkeit als durch die am 25.6.1993 erfolgte Impfung hervorgerufen anzusehen.
Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) die Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) mit der Begründung: Die vom LSG getroffene Entscheidung sei für die Beteiligten überraschend gewesen. Kein einziger Gutachter habe bisher eine solche Auffassung vertreten oder auch nur als möglich angedeutet. Nicht nur die Folgen des ersten Schubes der MS, sondern alle Folgeschäden hätten anerkannt werden müssen.
II. Mit Ihrer Nichtzulassungsbeschwerde greift die Klägerin die (teilweise) Zurückweisung ihrer Berufung durch das LSG nicht in vollem Umfang, sondern nur zum Teil an. Die genaue Abgrenzung des Gegenstandes der Nichtzulassungsbeschwerde wird dadurch erschwert, dass der Urteilsausspruch des LSG auslegungsbedürftig ist. Das LSG hat festgestellt, dass die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des von der Klägerin am 1.7.1993 erlittenen ersten Schubes der MS ein Impfschaden im Sinne der sog Kannversorgung sind. Im Übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Im Impfschadensrecht nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) - wie im sonstigen sozialen Entschädigungsrecht (vgl § 1 Abs 3 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫) - wird grundsätzlich unterschieden zwischen der Anerkennung einer Gesundheitsstörung als wahrscheinliche Folge einer Schädigung (§ 61 Satz 1 IfSG) und der sog Kannversorgung (§ 61 Satz 2 IfSG), die unter weiteren Voraussetzungen in Betracht kommt, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Hinsichtlich der wahrscheinlichen oder im og Sinne nur möglichen Folgen einer Schädigung wird im sozialen Entschädigungsrecht weiter differenziert zwischen der schädigungsbedingten Entstehung der Gesundheitsstörung und der durch den schädigenden Vorgang verursachten Verschlimmerung einer schon vorhandenen Gesundheitsstörung (s dazu Nr 42 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Fassung 2008 - AHP 2008 -; Teil C Nr 7 Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung - AnlVersMedV). Bei der Verschlimmerung kann der schädigende Vorgang nur vorübergehend zu einer Zunahme des Krankheitswertes führen oder aber anhaltend den Krankheitsverlauf beeinflussen, wobei eine abgrenzbare oder eine richtunggebende Verschlimmerung in Betracht kommt (s dazu Nr 43 AHP 2008; Teil C Nr 8 AnlVersMedV).
Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Gegebenheiten wird bei Zuhilfenahme der Entscheidungsgründe deutlich, dass das LSG in seinem Urteil vom 13.7.2010 zu der Beurteilung gelangt ist, die MS der Klägerin sei nicht mit Wahrscheinlichkeit durch eine oder alle Impfungen verursacht (§ 61 Satz 1 IfSG) und auch im Sinne der Kannversorgung (§ 61 Satz 2 IfSG) nicht durch eine oder alle Impfungen entstanden oder richtunggebend verschlimmert worden. Mit seinem Urteil hat das LSG nur die Folgen des ersten Schubes der MS am 1.7.1993 als Impfschaden im Sinne der Kannversorgung festgestellt, wobei offen bleibt, ob es sich um eine vorübergehende oder anhaltende aber abgrenzbare Verschlimmerung handelt.
Die berufungsgerichtliche Ablehnung eines Ursachenzusammenhanges zwischen der am 25.6.1993 erfolgten Impfung und ihrer MS wird von der Klägerin nur insoweit angefochten, als das LSG auch eine richtunggebende Verschlimmerung im Sinne der Kannversorgung verneint hat. Die Klägerin wendet sich allein gegen die Beschränkung der Anerkennung auf eine vorübergehende bzw abgegrenzte Verschlimmerung. Sie ist der Ansicht, nach dem bisherigen Stand des Verfahrens sei davon auszugehen, dass die Kausalität auch zu den Folgeschäden bestehen könne. Im Übrigen ist das klageabweisende Urteil des SG mithin rechtskräftig geworden.
Die so verstandene Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Die von der Klägerin gerügte Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor.
Nach § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Diese Vorschrift konkretisiert den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫). Sie soll ua verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht haben äußern können (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; § 153 Nr 1; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage, noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen.
Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (Bundessozialgericht ≪BSG≫ Beschlüsse vom 31.8.1993 - 2 BU 61/93 - HVBG-Info 1994, 209; vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 und vom 17.2.1999 - B 2 U 141/98 B - HVBG-Info 1999, 3700; BVerfGE 66, 116, 147; 74, 1, 5; 86, 133, 145). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 84, 188, 190). Letzteres ist hier der Fall.
Die Klägerin macht mit Recht geltend, dass sie mit der Entscheidung des LSG in dieser Form ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Gerichts nicht zu rechnen brauchte. Dies ergibt sich daraus, dass das LSG - wie von der Klägerin vorgetragen - seine Entscheidung mit im Wesentlichen medizinischen Erwägungen begründet hat, die bisher keiner der gehörten Sachverständigen vertreten hatte. In den die Entscheidung des LSG zu dem streitigen Punkt begründenden Passagen des Urteils (Abs 2, 3 und 4 auf Seite 18 und Abs 1 auf Seite 19 des Urteilsumdrucks) bezieht sich das LSG nicht auf einen der bisher gehörten Sachverständigen. Zwar hat sich das LSG zur Bejahung der für eine Kannversorgung ausreichenden "guten Möglichkeit" des Zusammenhangs zwischen der am 25.6.1993 erfolgten Impfung und dem als ersten Schub der MS anzusehenden Zusammenbruch der Klägerin am 1.7.1993 insbesondere auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr. H. gestützt. Die weitere medizinische Frage, ob es sich dabei um eine auf den ersten Schub der MS beschränkte (vorübergehende bzw abgrenzbare) oder aber um eine richtunggebende Verschlimmerung gehandelt hat, wird vom LSG jedoch ohne sachverständige Hilfe in ersterem Sinne beantwortet. Allein die unter Bezugnahme auf Berichte behandelnder Ärzte getroffene Feststellung des LSG, die Beschwerdesymptomatik habe sich von Ende Oktober 1993 bis in das Jahr 1994 langsam aber stetig gebessert, genügt insoweit nicht, zumal nicht ersichtlich ist, dass dabei wieder der vor der Impfung vom 25.6.1993 vorhandene Krankheitszustand erreicht worden ist. Insoweit stellt sich die Verneinung einer richtunggebenden Verschlimmerung als eine entweder ohne oder aufgrund eigener medizinischer Sachkunde getroffene und damit unvorhersehbar verfahrensfehlerhaft zustande gekommene Entscheidung des LSG dar. Im Falle eigener Sachkunde hätte das LSG nämlich mitteilen müssen, dass und aufgrund welcher Umstände es diese Sachkunde besitzt. Entsprechende Hinweise hat das Gericht aber nicht gegeben.
Nach alledem macht der Senat zur Beschleunigung des Verfahrens von der ihm nach § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit zur - teilweisen - Aufhebung des angefochtenen Urteils und zu einer entsprechenden Zurückverweisung der Sache an das LSG Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen