Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. überraschungsentscheidung. Zu den Anforderungen an die Hinweispflicht des Gerichts
Orientierungssatz
Eine Hinweispflicht des Gerichts ist ua gegeben, wenn es Anforderungen an den Sachvortrag stellen oder Umstände als entscheidungserheblich zu Grunde legen will, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Dafür reicht es aber nicht aus, dass ein bestimmter Gesichtspunkt im unmittelbar vorangehenden Verfahren nicht angesprochen worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Beteiligte auch auf Grund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es darauf ankommen würde.
Normenkette
SGG §§ 103, 62
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 17.11.2005; Aktenzeichen L 13/5 VJ 1/02) |
SG Stade (Urteil vom 28.02.2002; Aktenzeichen S 2 VJ 62/00) |
Gründe
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat mit Urteil vom 17. November 2005 einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente nach dem Bundesseuchengesetz/Infektionsschutzgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz verneint. Die als Schädigungsfolge anerkannte "Verschlimmerung einer vorbestehenden Kollagenose durch Poliomyelitis-Schluckimpfung mit Tetanus-Schluckimpfung" bedinge keinen Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 25 vH; damit hat es die Entscheidungen des Beklagten (Bescheid vom 4. Januar 1999; Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 2000; Teilanerkenntnis vom 7. Januar 2002) sowie das Urteil des Sozialgerichts Stade (SG) vom 28. Februar 2002 bestätigt. Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG macht die Klägerin Verfahrensmängel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil die dazu gegebene Begründung nicht den in § 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten Anforderungen genügt.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 (freie richterliche Beweiswürdigung) SGG und auf eine Verletzung des § 103 (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Soweit die Klägerin zunächst eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung als Verstoß gegen § 286 Zivilprozessordnung (ZPO) rügt, legt sie schon keinen Zulassungsgrund dar. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel gerade nicht auf eine Verletzung der freien Beweiswürdigung gestützt werden. Dass sich die Klägerin auf § 286 ZPO und nicht auf den in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ausdrücklich genannten § 128 Abs 1 Satz 1 SGG bezogen hat, ist unerheblich.
Soweit die Klägerin im Übrigen geltend macht, das Berufungsgericht habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verletzt (§ 103 SGG), indem es von einem Sachverständigengutachten abgewichen ist, ohne von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, dieses ergänzen oder erläutern zu lassen, legt sie keinen Beweisantrag dar, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).
Soweit die Klägerin letztlich rügt, das Berufungsgericht habe sie nicht vorher darauf hingewiesen, dass es dem Gutachten von Prof. Dr. K. nicht folgen wolle, fehlt es ebenfalls an den zur Bezeichnung eines Verfahrensmangels erforderlichen Darlegungen. Sie will damit einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Grundgesetz; §§ 62, 128 Abs 2 SGG) geltend machen, der auch darin liegen kann, dass der Prozessführende von einer Entscheidung des Gerichts überrascht worden ist. Zwar ist eine Hinweispflicht des Gerichts ua gegeben, wenn es Anforderungen an den Sachvortrag stellen oder Umstände als entscheidungserheblich zu Grunde legen will, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 8. Aufl 2005, § 62 RdNr 8b mwN). Dafür reicht es aber nicht aus, dass ein bestimmter Gesichtspunkt im unmittelbar vorangehenden Verfahren nicht angesprochen worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Beteiligte auch auf Grund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es darauf ankommen würde (vgl Senatsbeschluss vom 4. September 2006 - B 9a Vs 8/05 B). Im Hinblick darauf hätte es hier einer näheren Auseinandersetzung mit dem Verfahrensverlauf bedurft. Dabei wäre insbesondere auf folgende Punkte einzugehen gewesen: Das Gutachten von Prof. Dr. K. vom 21. September 2001 war auf Antrag der Klägerin bereits vom SG eingeholt worden. Schon dieses Gericht war dem Gutachten hinsichtlich der MdE-Bewertung nicht gefolgt. Auch der Beklagte hatte sich gegen dieses Gutachten gewandt und sich insoweit auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Sozialmediziners Dr. P. vom 9. September 2002, 27. Juni 2003 und 13. November 2003 gestützt.
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen