Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Divergenz. Abweichung. Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall. Andere rechtliche Maßstäbe. Fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen. Verfahrensfehler während des gerichtlichen Verfahrens
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Abweichung liegt nicht schon vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG aufgestellt haben, weil die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall nicht die Zulassung einer Revision wegen Abweichung rechtfertigt.
2. Erforderlich ist vielmehr, dass das LSG diesen Kriterien widersprochen und über den Einzelfall hinausgehende andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat.
3. Nicht die – behauptete – Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen kann die Zulassung wegen Abweichung begründen.
4. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision kann nur auf die Behauptung eines Verfahrensfehlers während des gerichtlichen Verfahrens, konkret auf einen Mangel des Verfahrens vor dem LSG oder auf einen Mangel des Verfahrens vor dem SG, der in die nächste Instanz fortwirkt, gestützt werden.
Normenkette
SGG § 73 Abs. 4, § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 103, 109, 113 Abs. 1, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 Sätze 2-3; ZPO §§ 114, 121; SGB X § 25 Abs. 4
Verfahrensgang
SG Braunschweig (Entscheidung vom 14.09.2018; Aktenzeichen S 57 AS 1893/17) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 02.03.2020; Aktenzeichen L 11 AS 871/18) |
Tenor
Die Verfahren B 4 AS 200/20 B bis B 4 AS 202/20 B werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden; führend ist das Verfahren B 4 AS 200/20 B.
Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in den Urteilen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 2. März 2020 werden als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten der Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die gemäß § 113 Abs 1 SGG zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil ein Zulassungsgrund (§ 160 Abs 2 SGG) nicht in der erforderlichen Weise dargelegt bzw bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerden sind daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).
1. Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass eine konkrete Rechtsfrage klar formuliert wird. Weiter muss ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) aufgezeigt werden (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).
Die Kläger halten für klärungsbedürftig, ob "es für eine positive gerichtliche Entscheidung (…) ausreichend (ist), obwohl ein Rücknahmeantrag für diesen bestimmten Bewilligungsabschnitt der vorgenannten Rechtsprechung des BSG zu § 44 SGB X entspricht, dass bei weiteren oder einer Vielzahl von gleichzeitigen Rücknahmeanträgen, die nicht der Rechtsprechung des BSG entsprechen, es dazu führen kann, dass auch der Rücknahmeantrag, der der Rechtsprechung des BSG wie hier entspricht, zu einer Berufungsabweisung führen kann." Damit ist bereits keine aus sich heraus verständliche Rechtsfrage formuliert. Überdies haben die Kläger weder die Klärungsbedürftigkeit noch die Klärungsfähigkeit dieser Frage hinreichend dargelegt. Insbesondere fehlt es an der Darlegung, warum sich die Frage nicht bereits aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BSG beantworten lässt.
2. Eine Abweichung (Divergenz) iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann hinreichend dargelegt, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht. Eine Abweichung liegt nicht schon vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG aufgestellt haben, weil die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall nicht die Zulassung einer Revision wegen Abweichung rechtfertigt. Erforderlich ist vielmehr, dass das LSG diesen Kriterien widersprochen und über den Einzelfall hinausgehende andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die - behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen kann die Zulassung wegen Abweichung begründen (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 160 RdNr 119).
Diese Anforderungen sind hier nicht erfüllt. Die Beschwerdebegründung behauptet zwar, dass die Entscheidung des LSG "von diversen Entscheidungen" des BSG abweicht, benennt aber weder einen Rechtssatz des LSG noch einen solchen des BSG, von dem das LSG abgewichen sein könnte.
3. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; siehe bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; vgl bereits BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36).
Der Kläger bezeichnet auch keinen Verfahrensfehler. Er rügt lediglich eine Verletzung seines Akteneinsichtsrechts aus § 25 Abs 4 SGB X während des Verwaltungs- und Vorverfahrens. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision kann aber nur auf die Behauptung eines Verfahrensfehlers während des gerichtlichen Verfahrens, konkret auf einen Mangel des Verfahrens vor dem LSG oder auf einen Mangel des Verfahrens vor dem SG, der in die nächste Instanz fortwirkt, gestützt werden (vgl Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 160 RdNr 154 mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14297473 |