Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch. Bezugszeiten bis 31.12.1995. Rechtsweg. sachliche Zuständigkeit. Sozialgerichtsbarkeit. Finanzgerichtsbarkeit
Leitsatz (amtlich)
Der Übergang vom „sozialrechtlichen” zum „steuerrechtlichen” Kindergeld durch das Jahressteuergesetz 1996 hat die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche auf Kindergeld mit Bezugszeiten bis zum 31.12.1995 nicht berührt.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGG § 51 Abs. 1; BKGG § 27 Abs. 1 Fassung: 1994-01-31; BKGG 1996 § 19 Fassung: 1995-10-11; FGO § 33 Abs. 1 Nr. 2; EStG § 31 S. 3 Fassung: 1995-10-11, § 78 Abs. 1 Fassung: 1995-10-11
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe für das Verfahren über die weitere Beschwerde gegen den Beschluß des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Februar 1997 wird abgelehnt.
Die weitere Beschwerde des Klägers gegen diesen Beschluß wird zurückgewiesen.
Kosten der Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld und dessen Rückforderung für die Zeit vor dem 1. Januar 1996 (Bescheid vom 22. April 1996, Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1996). Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 26. Juli 1996 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhoben. Nach Anhörung der Beteiligten hat sich das SG Gelsenkirchen für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Finanzgericht (FG) Münster verwiesen (Beschluß vom 2. Dezember 1996).
Auf die Beschwerde der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen den Beschluß des SG aufgehoben und festgestellt, für die Klage sei der Sozialrechtsweg eröffnet (Beschluß vom 25. Februar 1997). Das LSG ist der Auffassung, der Finanzrechtsweg sei nur für solche Rechtsstreitigkeiten gegeben, die Ansprüche auf Kindergeld für die Zeit ab 1. Januar 1996 betreffen und sich materiell nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) richten. Für alle Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche auf Kindergeld für die Zeit bis zum 31. Dezember 1995 seien nach § 27 BKGG in seiner bis zum 31. Dezember 1995 gültigen Fassung (aF) der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl I S 168) hingegen (weiterhin) die SGe sachlich zuständig.
Mit der vom LSG zugelassenen weiteren Beschwerde begehrt der Kläger die Wiederherstellung des sozialgerichtlichen Verweisungsbeschlusses vom 2. Dezember 1996. Er hält den Finanzrechtsweg für gegeben.
Der Senat hat über die weitere Beschwerde gemäß § 17a Abs 4 Satz 4 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) idF durch das 4. Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung (4. VwGOÄndG) vom 17. Dezember 1990 (BGBl I S 2809) ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu entscheiden. Gemäß § 12 Abs 1 Satz 2 iVm §§ 165 und 153 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wirken die ehrenamtlichen Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht mit (BSG SozR 3-1500 § 51 Nrn 13 und 15; BSGE 79, 80 = SozR 3-1500 § 51 Nr 19; ferner für das arbeitsgerichtliche Verfahren BAG AP Nr 19 zu § 2 ArbGG 1979 = NJW 1994, 1172). Der Senat hält auch an seiner Auffassung fest, daß bei der Rechtswegbeschwerde § 174 SGG keine Anwendung findet und daher das SG bzw das LSG nicht zu prüfen hat, ob es der Beschwerde bzw der weiteren Beschwerde abhilft (BSG SozR 3-1500 § 51 Nrn 15 und 19). Dies haben das SG (Beschluß vom 22. Januar 1997) und das LSG (Beschluß vom 21. März 1997) nicht beachtet. Die jeweiligen Verfahrensfehler sind jedoch für die Entscheidungen nicht erheblich geworden, weil der Beschwerde nicht abgeholfen worden ist.
Die weitere Beschwerde des Klägers ist nicht begründet. Für die Klage ist das SG Gelsenkirchen sachlich zuständig. Die Rechtswegzuweisung ergibt sich aus § 51 Abs 1 SGG iVm § 27 Abs 1 BKGG aF.
Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden nach § 51 Abs 1 SGG ua über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der übrigen Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit. Hierzu zählen nach § 27 Abs 1 BKGG aF alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten in Angelegenheiten nach dem BKGG aF. Die sachliche Zuständigkeit der SGe folgt damit der Anwendung materiellen Rechts des BKGG aF.
Für Bezugszeiträume vor dem 1. Januar 1996 ist das BKGG aF anzuwenden. Dies gilt unabhängig davon, ob es um eine Rückforderung, Nachzahlung oder Neuberechnung von Kindergeld für solche Zeiträume geht. Mit dem Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I S 1250) ist das Kindergeldrecht mit Ausnahme einiger steuerrechtlich nicht hinreichend faßbarer Sonderfälle (vgl § 1 Abs 1 BKGG nF) dem Steuerrecht zugewiesen „Finanzamtlösung”) und damit auch verfahrensrechtlich der Finanzgerichtsbarkeit zugeordnet worden (vgl §§ 62 ff EStG). Für Bezugszeiträume ab 1. Januar 1996 wurde das „sozialrechtliche” durch das „steuerrechtliche” Kindergeld ersetzt.
Für Ansprüche auf Kindergeld, die bis zum 31. Dezember 1995 reichen, sind die Vorschriften des EStG nicht einschlägig (vgl Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Familienleistungsausgleich, § 78 EStG RdNr 16). Den Übergangsregelungen der §§ 78 EStG und 19 BKGG nF ist zu entnehmen, daß auf derartige Bezugszeiträume stets das bis zum 31. Dezember 1995 geltende Recht anzuwenden ist (vgl § 78 Abs 4 EStG, § 19 Abs 3 und 4 BKGG nF) und zudem für bestimmte Tatbestände, die über diesen Zeitpunkt hinausreichen, aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ebenfalls noch Vorschriften des BKGG aF maßgeblich sind (vgl § 78 Abs 2, 3, 5 EStG, § 19 Abs 1, 2 BKGG nF). Demgegenüber gibt es keine Vorschrift, die für kindergeldrechtliche Ansprüche bis zum 31. Dezember 1995 die Anwendung neuen Rechts rückwirkend anordnen. Es gilt somit der Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsrechts, daß im Zweifel das Gesetz in der Form gilt, wie es im streitigen Zeitraum in Kraft war. Die Rechtswegzuständigkeit folgt dieser materiellen Rechtslage. Nach § 33 Abs 1 Nr 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ist der Finanzrechtsweg gegeben in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über die Vollziehung von Verwaltungsakten in anderen als den in Nr 1 dieser Vorschrift bezeichneten Angelegenheiten, soweit die Verwaltungsakte durch Bundesfinanzbehörden oder Landesfinanzbehörden nach den Vorschriften der Abgabenordnung (AO) zu vollziehen sind. Dazu zählt die Kindergeldfestsetzung als Steuervergütung (§ 31 S 3 EStG) erst seit dem 1. Januar 1996 (vgl Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 16. Aufl 1997, § 62 RdNr 4). Die Familienkassen werden für das Bundesamt für Finanzen im Wege der Organleihe tätig (Weber-Grellet aaO Vial/Schwetz, SGb 1997, 245). Der Gesetzgeber hat davon abgesehen, die finanzgerichtliche Zuständigkeit für die auf dem EStG basierenden Rechtsstreitigkeiten über kindergeldrechtliche Ansprüche ab 1. Januar 1996 hinaus auszudehnen und sie auch auf alle bei den SG am 1. Januar 1996 bereits anhängigen und/oder auf alle ab 1. Januar 1996 anhängig werdende Rechtsstreitigkeiten über kindergeldrechtliche Ansprüche nach altem Recht zu erstrecken (vgl Kanzler aaO RdNr 4). Dies wäre wegen der völligen Neukonzeption des Familienleistungsausgleichs auch wenig sachgerecht gewesen.
Die Ansicht des Klägers, auf den vorliegenden Sachverhalt sei nunmehr das EStG anzuwenden und deshalb ein finanzgerichtliches Verfahren durchzuführen, läßt sich nicht auf § 78 Abs 1 EStG stützen, wonach Kindergeld, das bis zum 31. Dezember 1995 nach den Vorschriften des BKGG gewährt wurde, als nach den Vorschriften des EStG 1996 festgesetzt gilt. § 78 Abs 1 EStG nimmt, wie das LSG zutreffend erkannt hat, keine Zuweisung zur Anwendung materiellen Rechts vor. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zum Jahressteuergesetz 1996 (§ 19 Abs 4 BKGG nF, § 78 EStG) sollte die Regelung in § 78 Abs 1 EStG lediglich sicherstellen, daß das bis dahin gewährte Kindergeld ab Januar 1996 nahtlos und ohne Antragstellung weitergezahlt werden konnte (vgl BT-Drucks 13/1558 S 162 zu § 78 Abs 1 EStG und S 166 zu § 19 BKGG nF). Es handelt sich insoweit lediglich um eine gesetzliche Fiktion zur verwaltungstechnischen Erleichterung der Abwicklung laufender Kindergeldgewährungen (vgl Kanzler aaO RdNr 3). Die Vorschrift ordnet hingegen nicht die Anwendung des EStG auf noch nicht abgewickelte Ansprüche für die Zeit bis zum 31. Dezember 1995 an.
Da die weitere Beschwerde des Klägers ohne Aussicht auf Erfolg war, konnte auch dem Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe nicht stattgegeben werden (§ 73a SGG iVm § 114 Zivilprozeßordnung).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Der Senat war dabei nicht gehindert, den vom LSG unterlassenen Kostenausspruch im Rahmen des vorliegenden Beschlusses in eigener Zuständigkeit nachzuholen (vgl Beschluß des Senats vom 9. Juli 1997 – 3 BS 3/96 –, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
Fundstellen
Haufe-Index 1173282 |
SozR 3-1500 § 51, Nr.21 |
SozSi 1998, 76 |