Entscheidungsstichwort (Thema)
Revision. Nichtzulassungsbeschwerde. Begründung. Form. Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung
Leitsatz (redaktionell)
- Eine Frage ist keine klärungsbedürftige Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, wenn sie eine tatsächliche Feststellung enthält, ohne dass der Beschwerdeführer dargestellt hat, dass es sich dabei um eine vom LSG getroffene tatsächliche Feststellung handelt.
- Für die rechtliche Beurteilung des erhobenen Anspruchs kommt es auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Anspruch an, wobei der Anspruchsteller stets so zu stellen ist, als wenn von vornherein rechtmäßig entschieden worden wäre.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, § 163
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 21.04.2004) |
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihm Rechtsanwältin N.… beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. April 2004 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) gerichtete, auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung, der Divergenz und des Verfahrensmangels gestützte Beschwerde ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 34, 47 und 58; vgl hierzu auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl, 2002, IX, RdNr 177 und 179 mwN). Daran mangelt es hier.
Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muss nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diese grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden. Hierzu ist zunächst darzulegen, welcher bestimmten abstrakten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11). Denn die Zulassung der Revision erfolgt zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen und nicht zur weiteren Entscheidung des Rechtsstreits. Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 181). Dazu ist erforderlich, dass ausgeführt wird, ob die Klärung dieser Rechtsfrage grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Rechtsfrage darf sich nicht auf den Einzelfall in dem Sinne beschränken, ob das LSG nach unrichtigen rechtlichen Maßstäben entschieden habe (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 58). Weiter hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig, also zweifelhaft, und klärungsfähig, mithin rechtserheblich ist, so dass hierzu eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu erwarten ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Zur Klärungsfähigkeit gehört auch, dass die Rechtsfrage in einem nach erfolgter Zulassung durchgeführten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (BSG Beschluss vom 11. September 1998 – B 2 U 188/98 B –).
Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65) oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (BSG SozR 1300 § 13 Nr 1), wenn sie so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie praktisch außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort in anderen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 und § 160 Nr 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 66). Die Klärungsbedürftigkeit ist schließlich nicht gegeben, wenn die Rechtsfrage nicht mehr geltendes Recht betrifft und nicht erkennbar wird, dass noch eine erhebliche – genau zu bezeichnende – Anzahl von Fällen nach diesen Vorschriften zu entscheiden sind (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 19; Beschlüsse des Senats vom 15. September 1986 – 2 BU 104/86 –, vom 23. August 1996 – 2 BU 149/96 –, vom 26. Oktober 1998 – B 2 U 252/98 B – nachfolgend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 2000 – 1 BvR 2198/98 – sowie vom 29. April 1999 – B 2 U 178/98 B – HVBG-Info 1999, 2943; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 61 und 187) oder dass die Rechtsfrage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 58; Beschlüsse des BSG vom 26. November 1996 – 3 BK 4/96 –, 31. März 1999 – B 7 AL 170/98 B – und 6. Mai 1999 – B 11 AL 209/98 B –).
Der Kläger hält die Fragen für Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, “ob gegenüber dem Zustand vor einer Operation von einer wesentlichen postoperativen Änderung im Sinne des § 73 Abs. 3 SGB VII ausgegangen werden darf, wenn die Operation objektiv fehlgeschlagen ist” und “ob im Umkehrschluss der Satz gelten muss, dass eine durchgeführte Operation an der verletzten Gliedmaße nicht für sich genommen eine Änderung des vorher bestehenden GdB/MdE-Grades rechtfertigt”. Es kann dahinstehen, ob es sich bei diesen Fragen um über den Einzelfall hinausreichende abstrakte Rechtsfragen im og Sinne handelt, oder ob die Fragen nur auf die konkrete Rechtsanwendung im Einzelfall zielen. Denn die Fragen enthalten eine tatsächliche Feststellung (Operation objektiv fehlgeschlagen), ohne dass der Kläger dargestellt hat, dass es sich dabei um eine vom LSG getroffene tatsächliche Feststellung handelt (vgl § 163 SGG).
Auch soweit der Kläger weiter die Frage als solche von grundsätzlicher Bedeutung bezeichnet, “ob Unfallverletzte, die keinen Anspruch auf Verletztengeld aufgrund von § 580 Abs. 4 RVO (= § 72 Abs. 1 SGB VII) besitzen, Vollrente beanspruchen können, wenn aufgrund der Unfallfolgen eine medizinische oder berufliche Rehabilitationsmaßnahme i.S. des § 45 Abs. 1 Nr 1 SGB VII eine ganztätige Beschäftigung unmöglich” macht, hat er den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nicht schlüssig dargelegt. Denn es fehlen jegliche Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit sowie zu der über den Einzelfall hinausreichenden Bedeutung der Frage. Nach der gesetzlichen Systematik kommt im Übrigen unter den in der Frage geschilderten tatsächlichen Voraussetzungen gemäß § 45 Abs 1 Nr 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) ein Anspruch auf Verletztengeld auch neben einer Dauerrente in Betracht.
Soweit der Kläger weiter hinsichtlich der streitigen Neubemessung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) drei Fragen für Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung ansieht, führt auch dies nicht zur Zulassung der Revision. Hinsichtlich der zu a formulierten Frage, ob “für die Neubemessung des JAV die Tatsachen zugrundezulegen sind, die im Zeitpunkt der Pflicht zur Neubemessung bekannt waren und nicht die a posteriori bekannt gewordenen Umstände, die hier als überholende Kausalität eine Neubemessung nicht zulassen sollen”, hat der Kläger deren Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend dargestellt. Hierzu bestand indes besonderer Anlass, denn die Frage lässt sich zweifelsfrei beantworten. Die auf Neubemessung des JAV gerichtete Klage ist eine sog Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs 1 des SGG. Nach allgemeiner Meinung kommt es für die rechtliche Beurteilung des erhobenen Anspruchs auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Anspruch an, wobei der Anspruchsteller stets so zu stellen ist, als wenn von vornherein rechtmäßig entschieden worden wäre (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage, § 54 RdNr 34; Castendieck in HK-SGG, § 54 RdNr 47, jeweils mwN).
Soweit der Kläger unter b und c die Fragen formuliert, ob “eine Pflicht zur Neubemessung verneint werden darf mit der Unterstellung, auch ohne den Unfall könne niemals ein beruflicher Abschluss erreicht werden” und ob “eine Pflicht zur Neubemessung dann verneint werden darf, wenn ein beruflicher Abschluss insbesondere infolge verwehrter Berufshilfe durch die rentenpflichtige Institution nicht angesteuert werden kann”, enthalten diese Fragen tatsächliche Unterstellungen, ohne dass der Kläger dargestellt hätte, dass das LSG diese Tatsachen bindend festgestellt hätte. Es ist insoweit nicht ersichtlich, dass die formulierten Fragen in dem angestrebten Revisionsverfahren überhaupt zu beantworten sind (Klärungsfähigkeit).
Auch hinsichtlich der vom Kläger auf die Anwendbarkeit des § 90 Abs 4 SGB VII gezielten Frage, hat der Kläger die Klärungsfähigkeit iS der Entscheidungserheblichkeit nicht nachvollziehbar dargestellt.
Schließlich ist die Frage, “ob eine MdE von 20 v.H. bei einem Vorschaden von 30 v.H. stärker zu Buche schlägt als eine MdE von 20 v.H. bei einem Verletzten ohne Vorschaden wie dies Ruppelt aaO vertritt” keine abstrakte Rechtsfrage im eingangs dargestellten Sinne, sondern eine Frage nach der Richtigkeit der Rechtsanwendung im Einzelfall.
Soweit der Kläger die Nichtzulassungsbeschwerde weiter auf das Vorliegen einer Divergenz (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG) stützt, ist die Beschwerde ebenfalls nicht zulässig. Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist für eine Zulassung der Revision nur dann ausreichend begründet, wenn schlüssig erklärt wird, mit welchem genau bestimmten entscheidungserheblichen Rechtssatz das angegriffene Urteil des LSG von welcher genau bestimmten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 21, 29 und 54). Dazu genügt es nicht, die Unrichtigkeit der Entscheidung betreffend den Einzelfall darzutun. Entscheidend ist vielmehr die Darlegung der Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen, in der abstrakten Aussage (BSG ua Beschlüsse vom 10. Dezember 1997 – 2 BU 249/97 – sowie vom 30. Juni 1999 – B 2 U 140/98 B –; Krasney/Udsching, aaO, RdNr 196 mwN). Diese Voraussetzungen hat der Kläger nicht iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargelegt. Insbesondere hat der Kläger weder dem angefochtenen Urteil noch dem zitierten Urteil des BSG Rechtssätze entnommen und gegenübergestellt.
Soweit der Kläger Mängel des landessozialgerichtlichen Verfahrens rügt, ist die Beschwerde ebenfalls nicht zulässig. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Soweit der Kläger als Verfahrensmängel rügt, dass das LSG nicht gesetzeskonform Beweis erhoben habe und ohne jede sachverständige Abklärung unterstellt habe, der Tinnitus-Gehörschaden, der ihn zur Aufgabe seines Lehramtstudiums gezwungen habe, habe keinen ursächlichen Zusammenhang mit dem Schulsportunfall, rügt der Kläger, wie er selbst weiter dargestellt hat, die unterbliebene medizinische Aufklärung des Sachverhalts. Insofern rügt er eine Verletzung des § 103 SGG. Er hat indes bereits keinen Beweisantrag bezeichnet, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Es kann dahinstehen, ob dies auch für den vom Kläger genannten Antrag auf Einholung eines psychologischen oder psychiatrischen Gutachtens gilt, weil der Kläger nicht angegeben hat, wann und wo er einen derartigen Antrag gestellt habe. Denn der Kläger hat nicht hinreichend dargestellt, dass das LSG diesem Antrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Ohne hinreichende Begründung bedeutet hier, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Zur Begründung eines solchen Verfahrensfehlers ist die schlüssige Darlegung des Beschwerdeführers erforderlich, inwiefern nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln, insbesondere den im Verwaltungsverfahren und gerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten, Fragen zum tatsächlichen und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offen geblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat (stRspr des Senats, s ua Beschluss vom 12. Dezember 1999 – B 2 U 311/99 B – mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht, weil der Kläger allein seine Haltung zur Notwendigkeit der beantragten Beweisaufnahme dargestellt hat, ohne auf die Argumentation des LSG zur Nichtbefolgung dieses Antrags einzugehen.
Soweit der Kläger als Verfahrensmangel weiter rügt, das LSG habe ihm zu Unrecht die Beweislast zugewiesen, rügt er bereits keinen Fehler des gerichtlichen Verfahrens sondern die Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Urteils selbst, was nicht zur Zulassung der Revision wegen Verfahrensmangels führen kann. Schließlich führt auch die erhobene Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht zur Zulassung der Revision, denn mit der Behauptung, das LSG habe den Vorschaden “überraschend” nicht als MdE-erhöhend gewertet, hat er nicht schlüssig dargestellt, dass das LSG sein Urteil auf Tatsachen, Beweisergebnisse oder Rechtsauffassungen gestützt habe, zu denen er sich nicht habe äußern können, oder dass das LSG erheblichen Sachvortrag nicht zur Kenntnis genommen und nicht in seine Entscheidung einbezogen habe.
Nach alledem ist die Beschwerde des Klägers als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
Prozesskostenhilfe war dem Kläger gemäß § 73a SGG iVm § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) nicht zu bewilligen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach alledem keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Der Antrag des Klägers auf Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 121 ZPO) war abzulehnen, weil ihm kein Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zusteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen