Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Auslegung rechtlicher und tatsächlicher Behauptung als Erledigungserklärung. Schwerbehindertenrecht. Zurückverweisung
Orientierungssatz
Das Landessozialgericht darf nicht ohne Weiteres von einer wirksamen Erklärung zur Erledigung der Hauptsache ausgehen, wenn ein Kläger, der nicht rechtskundig vertreten ist, lediglich Behauptungen über tatsächliche und rechtliche Verhältnisse aufstellt, die zudem im Widerspruch zu den wirklichen Gegebenheiten und anderen Äußerungen von ihm stehen (hier Mitteilung, dass zu keinem Zeitpunkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt worden sei).
Normenkette
SGG § 101 Abs. 2, § 102 Abs. 1 Sätze 1-2; BGB §§ 133, 157; SGB 9 § 69 Abs. 1 S. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juli 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der 1932 geborene Kläger wendet sich gegen die bisherige Feststellung seiner Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht für die Zeit ab dem 1.1.1990 (Bescheide vom 28.3.1995, 21.2.2006, 22.3.2006 und Widerspruchsbescheid vom 2.6.2006 sowie Änderungsbescheid vom 24.8.2010). Daneben begehrt der Kläger auch höhere Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Hierzu hat er am 30.8.2005 beim Sozialgericht München (SG) Klage erhoben (Az: S 29 V 29/05).
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Das von dem Kläger in seiner Schwerbehindertenangelegenheit am 30.6.2006 angerufene SG hat eine Verbindung dieses Verfahrens mit dem Klageverfahren aus dem Bereich der Kriegsopferversorgung abgelehnt und nach durchgeführter Beweisaufnahme (orthopädisches Gutachten des Dr. B. vom 22.6.2009 nach Lage der Akten) die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 22.6.2010). Im anschließenden Berufungsverfahren vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger die Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid beanstandet und eine Begutachtung seiner "Schädigungsfolgen" verlangt. Mit Telefax vom 6.10.2010 hat der Kläger unter Beifügung seines den Bescheid vom 24.8.2010 betreffenden Widerspruchsschreibens vom 26.9.2010 an den Beklagten erklärt: |
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"Ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht wurde zu keinem Zeitpunkt beantragt". |
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat der Kläger dann am 20.7.2011 beantragt, |
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"1. |
über die in der Berufungsschrift vom 20.07.2010 gestellten Anträge zu entscheiden, |
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2. |
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, beizuladen, |
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3. |
dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, |
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4. |
die Revision zuzulassen, |
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5. |
Festzustellen, dass der Kläger schwerkriegsbeschädigt und versorgungsberechtigt nach dem BVG ist." |
Durch Urteil vom 20.7.2011 hat das LSG festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Diese Entscheidung hat es damit begründet, dass der vorliegende Rechtsstreit durch die vom Kläger am 6.10.2010 auch gegenüber dem Senat abgegebene Erledigungserklärung im Berufungsschriftsatz vom 20.7.2010 und im Widerspruchsschreiben vom 26.9.2010, welches der Kläger dem Senat mit Fax vom 6.10.2010 zugeleitet habe, in vollem Umfange erledigt sei. Die Erklärung des Klägers, dass er zu keinem Zeitpunkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt habe, erledige den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 101 Abs 2, § 102 S 2 SGG). Diese Erledigungserklärung binde das Gericht und die Beteiligten als Prozesshandlung, auch wenn der Rechtsstreit materiell-rechtlich nicht erledigt sei.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt die Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs nach § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG in Form des Erlasses einer Überraschungsentscheidung, weil das LSG trotz seiner Antragstellung in der mündlichen Verhandlung seine Erklärung im Schriftsatz vom 20.7.2010 sowie im Schreiben vom 26.9.2010 - entgegen dem von ihm wirklich Gewollten - als Erledigung des Rechtsstreits durch Klagerücknahme gewertet und keine Sachentscheidung getroffen habe.
II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig, weil ihrer Begründung sinngemäß die Verfahrensrüge entnommen werden kann (vgl § 160 Abs 2 Nr 3, § 160a Abs 2 S 3 SGG), das LSG habe zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden. Diesbezüglich hat der Kläger den Verfahrensgang nachgezeichnet und geltend gemacht, dass er - entgegen der Auslegung durch das LSG - zu keinem Zeitpunkt eine Erledigungserklärung hinsichtlich seines Klageverfahrens nach dem Schwerbehindertenrecht habe abgeben wollen oder tatsächlich abgegeben habe. Tatsächlich habe er in der mündlichen Verhandlung vom 20.7.2011 die im LSG-Urteil aufgeführten Anträge gestellt, über die dieses in unzulässiger Weise nicht in Form eines Sachurteils entschieden habe. Die den behaupteten Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen sind damit hinreichend iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG bezeichnet.
Die Beschwerde ist auch begründet, weil der behauptete Verfahrensmangel vorliegt. Das LSG hätte im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht in Form eines Prozessurteils feststellen dürfen, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Vielmehr hätte es die betreffenden Erklärungen des Klägers entweder zu dessen Gunsten dahin auslegen müssen, dass keine Erledigung eingetreten ist. Dann hätte sich das LSG mit den vom Kläger gestellten Anträgen befassen müssen. Oder es hätte bei diesem zur Klärung des Inhalts der abgegebenen Erklärungen nachfragen müssen.
Entgegen der Ansicht des LSG ist weder aus dem Berufungsschriftsatz vom 20.7.2010 noch aus dem am 6.10.2010 dem LSG übermittelten Schreiben des Klägers vom 26.9.2010 an den Beklagten eindeutig zu entnehmen, dass der Kläger seine am 30.6.2006 beim SG erhobene Klage zum Schwerbehindertenrecht zurückgenommen und damit diesen Rechtsstreit in der Hauptsache als erledigt angesehen hat. Mit seinem Verständnis der vom Kläger abgegebenen Erklärungen verletzt das LSG den in § 133 BGB enthaltenen Rechtsgedanken, wonach bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ist. Dies betrifft insbesondere auch Prozesshandlungen wie die Rücknahme eines Rechtsmittels (vgl BSG Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 -; BSGE 21, 13, 14 = SozR 5 zu § 156 SGG; BSGE 75, 92, 95 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN; BSG Urteil vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - RdNr 21).
Allerdings darf das Revisionsgericht bei materiell-rechtlichen Erklärungen nicht in die auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung des Tatsachengerichts eingreifen, sondern hat lediglich die Rechtsanwendung zu überprüfen, also festzustellen, ob die Tatsacheninstanz die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) beachtet und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN). Hingegen hat das Revisionsgericht bei Prozesserklärungen - wie der Rücknahme eines Rechtsmittels - die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, hat also "das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln" (vgl BSG Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 -; BSGE 21, 13, 14 = SozR 5 zu § 156 SGG; BSG Urteil vom 25.7.2002 - B 11 AL 23/02 R - aaO). Dementsprechend ist der Senat nicht gehindert, die hier streitigen Erklärungen des Klägers selbst auszulegen.
Die vom LSG herangezogenen Schriftsätze des nicht rechtskundig vertretenen Klägers vom 20.7.2010 und 26.9.2010 bedürfen schon deshalb der Auslegung, weil sie keine konkrete Klagerücknahmeerklärung enthalten, sondern lediglich die Mitteilung, dass zu keinem Zeitpunkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt worden sei. Dem Wortlaut nach handelt es sich nicht um prozessuale Willenserklärungen, sondern um die Behauptung von tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die zudem im Widerspruch zu den wirklichen Gegebenheiten und anderen Äußerungen des Klägers steht. Denn entgegen seiner Erklärung im Schreiben vom 26.9.2010 hat der Kläger im Schwerbehindertenverfahren am 30.6.2006 beim SG Klage erhoben und dann in seinem Berufungsschriftsatz vom 20.7.2010 (Seite 5) ua Anträge auf Feststellung seiner Behinderung nach § 69 Abs 1 bis 5 SGB IX angekündigt sowie sich gegen die von dem Beklagten erlassenen Bescheide zum Schwerbehindertenrecht gewandt. Ferner hat der Kläger ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 20.7.2011 zum Sach- und Streitverhältnis verhandelt und die angekündigten Anträge gestellt.
Unter diesen Umständen durfte das LSG nicht ohne Weiteres von einer wirksamen Erklärung des Klägers zur Erledigung der Hauptsache ausgehen. Es hätte vielmehr nahe gelegen, die fraglichen Äußerungen des Klägers als irrtümlich abgegeben und damit als unbeachtlich anzusehen. Zumindest hätte das LSG die bestehenden Widersprüche in den Angaben des Klägers zum Anlass nehmen müssen, den Kläger nach dem von ihm wirklich Gewollten zu fragen und eine eindeutige Erklärung zu Protokoll zu nehmen (vgl § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 SGG).
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der ihm durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen