Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. vereinfachtes Verfahren nach § 160a Abs 5 SGG. abschließende Entscheidungsbefugnis des BSG. keine Zurückverweisung an das LSG
Orientierungssatz
Das Bundessozialgericht (BSG) kann dann, wenn das Berufungsurteil wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben und die Klage in jedem Fall als unzulässig abzuweisen ist, das Berufungsurteil ohne Zurückverweisung selbst abändern (Anschluss an BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 62/04 = SozR 4-1500 § 160a Nr 6).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 12.10.2005; Aktenzeichen L 5 VJ 4/02) |
SG Osnabrück (Urteil vom 19.09.2002; Aktenzeichen S 2 VJ 2/98 WA) |
Tatbestand
Streitig ist nur noch die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Einbehaltung einer Nachzahlung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG).
Der Kläger ist auf Grund einer Pockenschutzimpfung gesundheitlich schwer geschädigt. Im Ausführungsbescheid vom 24. August 1990 wurden ihm neben der Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH Ausgleichsrente, Berufsschadensausgleich (BSA) und Pflegezulage nach Stufe I bewilligt. Durch Bescheid vom 8. Juli 1991 stellte der Beklagte die Versorgungsbezüge bindend neu fest. Kurz zuvor hatte er den Kläger durch ein Merkblatt unter Hinweis auf seine Mitteilungspflichten darüber aufgeklärt, dass Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) auf die gewährte Pflegezulage anzurechnen seien (§ 35 Abs 3 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫ iVm § 60 BSeuchG).
Ab dem 1. Januar 1992 bezog der Kläger - ausschließlich wegen der anerkannten Schädigungsfolgen - Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit von der für ihn zuständigen gesetzlichen Krankenkasse. Nachdem der Beklagte hiervon im Dezember 1993 Kenntnis erhalten hatte, hörte er den Kläger durch Schreiben vom 14. Januar 1994 zu einer beabsichtigten Rückforderung der überzahlten Pflegezulage an. Am 18. Januar 1994 stellte er die einkommensabhängigen Versorgungsbezüge des Klägers (Ausgleichsrente und BSA) unter Berücksichtigung der Anpassungen zum 1. Juli 1992 und 1. Juli 1993 neu fest. Zugleich teilte er mit: Die Nachzahlung in Höhe von 3.752,- DM werde vorerst einbehalten zur Tilgung der zu erwartenden Überzahlung aus der Anrechnung der Leistungen der Krankenkasse wegen Schwerpflegebedürftigkeit. Durch Bescheid vom 22. Februar 1994 hob der Beklagte den Bescheid vom 8. Juli 1991 sowie alle folgenden Bescheide nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) insoweit auf, als das nach dem SGB V gewährte Pflegegeld nicht auf die Pflegezulage angerechnet worden war. Die Widersprüche des Klägers sowohl gegen die vorläufige Einbehaltung der Nachzahlung der Versorgungsleistungen als auch den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid blieben erfolglos (Widerspruchsbescheide vom 30. April 1996 und 2. Mai 1996).
Im Gerichtsverfahren sind die Verwaltungsentscheidungen im Wesentlichen bestätigt worden (Urteile des Sozialgerichts Osnabrück ≪SG≫ vom 19. September 2002 und des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen ≪LSG≫ vom 12. Oktober 2005). Das LSG hat den Bescheid des Beklagen vom 18. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 1996 jedoch insoweit aufgehoben, als der Beklagte den Nachzahlungsbetrag in Höhe von 3.752,- DM vorläufig einbehalten hat. Im Übrigen hat es die Klage ab- und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt:
Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei rechtmäßig. Durch den Bezug von Pflegegeld nach dem SGB V sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X eingetreten. Nach § 35 Abs 3 Satz 1 BVG (alter Fassung) sei das Pflegegeld auf die Pflegezulage anzurechnen. Dem entsprechend habe der Beklagte die von ihm gewährte Pflegezulage ab dem 1. Januar 1992 kürzen dürfen. Ein atypischer Fall sei nicht gegeben. Hieraus ergebe sich ein Erstattungsanspruch des Beklagten (10.800,- DM), der in Höhe von 3.752,- DM durch die Einbehaltung der im Bescheid vom 18. Januar 1994 festgestellten Nachzahlung und Erklärung der Aufrechnung (§ 51 Erstes Buch Sozialgesetzbuch) durch den Beklagten im Bescheid vom 22. Februar 1994 erloschen sei. Aus diesem Grunde folge aus der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 18. Januar 1994 im Hinblick auf die Einbehaltung des Nachzahlungsbetrages keine tatsächliche Konsequenz für den Kläger. Der Beklagte habe die Nachzahlung zwar ohne Rechtsgrundlage einbehalten. Wegen der Rechtmäßigkeit der Erstattungsforderung des Beklagten und der Aufrechnung mit dem Nachzahlungsbetrag bestehe jedoch kein Anspruch auf Auszahlung.
Der Beklagte hat gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG Beschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) eingelegt. Er rügt Verfahrensmängel (ua Erlass eines Sach- an Stelle eines Prozessurteils betreffend die vorläufige Einbehaltung der Nachzahlung im Bescheid vom 18. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 1996).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des Beklagten ist begründet.
Der Beklagte hat formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) gerügt. Das LSG hat prozessrechtlich fehlerhaft - im Hinblick auf die Teilanfechtung des Bescheides vom 18. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 1996 - ein Sach- anstelle eines Prozessurteils erlassen.
Der Beklagte ist durch die Entscheidung des LSG beschwert. Zwar hat die Entscheidung des LSG für den Beklagten bezüglich des Ausspruchs der Rechtswidrigkeit der vorläufigen Einbehaltung des Nachzahlungsbetrags rein rechnerisch keine belastenden Konsequenzen. Trotz des nach Auffassung des LSG rechtswidrigen Handelns des Beklagten gelangt das Berufungsgericht nicht zu einem Anspruch des Klägers auf Auszahlung der Nachzahlung. Es geht vielmehr davon aus, der Beklagte habe insoweit rechtmäßig im Bescheid vom 22. Februar 1994 die Aufrechnung erklärt. Hierdurch ist die Beschwer des Beklagten jedoch nicht entfallen. Er hat ein schutzwürdiges Interesse an der Durchführung des Rechtsmittelverfahrens.
Der Beklagte befindet sich insoweit in einer vergleichbaren Lage wie ein Kläger, der seinen Anspruch nach § 131 Abs 1 Satz 3 SGG weiter verfolgen möchte. Danach spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn sich der Verwaltungsakt vor dem Urteil durch Zurücknahme oder anders erledigt hat und der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat. Nach der Rechtsprechung des BSG entspricht es dem Gebot der prozessualen Waffengleichheit, dass auch dem Beklagten - nicht nur dem Kläger - das Recht eingeräumt wird, trotz faktischer Erledigung der Hauptsache eine Überprüfung der Sachentscheidung zu erwirken, wenn er seinerseits ein berechtigtes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsaktes geltend machen kann (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 131 Nr 5, mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Vergleichbar liegt der Fall hier.
Der berufungsgerichtliche Ausspruch der Rechtswidrigkeit der vorläufigen Einbehaltung des Nachzahlungsbetrages hat Bedeutung für das zukünftige Verhalten des Beklagten. Zu Recht weist dieser auf die Präjudizwirkung der Entscheidung hin. Es ist nicht auszuschließen, dass andere Gerichte in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen sich auf diese Rechtsauffassung berufen könnten, mit erheblichen Folgen für die Abwicklung von Erstattungsforderungen.
Der Beklagte hat auch überzeugend dargelegt, dass das LSG über den Antrag des Klägers betreffend die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Einbehaltung im Bescheid vom 18. Januar 1994 zu Unrecht durch Sachurteil entschieden hat. Das Begehren des Klägers ist insoweit unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unzulässig. Der Senat brauchte daher nicht zu entscheiden, ob es sich bei der vorläufigen Einbehaltung um eine Regelung im Sinne des § 31 SGB X oder um schlichte Verwaltungstätigkeit handelt. In beiden Fällen mangelt es dem Kläger an einem Rechtsschutzbedürfnis für eine entsprechende Klage.
Würde es sich bei der "Einbehaltungsmitteilung" im Bescheid vom 18. Januar 1994 um einen Verwaltungsakt handeln, so wäre dieser durch die im Bescheid vom 22. Februar 1994 ausgesprochene Aufrechnung der darin ebenfalls festgestellten Erstattungsforderung (10.800,- DM) gegen den sich aus dem Bescheid vom 18. Januar 1994 ergebenden Nachzahlungsbetrag (3.752,- DM) iS des § 39 Abs 2 SGB X erledigt. Die vorläufige Einbehaltung der Nachzahlung ist durch die Aufrechnung ersetzt worden (vgl hierzu allgemein BSG 84, 108, 110 = SozR 3-3900 § 22 Nr 1, mwN; s auch Steinwedel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: Mai 2006, § 39 SGB X RdNr 26). Einstweilige Verwaltungsakte oder einstweilige Teile von Verwaltungsakten, also solche, bei denen sich aus dem Verfügungssatz ergibt, sie träfen nur eine einstweilige oder vorläufige Regelung (vgl BSGE 67, 104 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 und SozR 3-1300 § 32 Nr 4), sind grundsätzlich von vornherein auf Ersetzung durch endgültige angelegt und verlieren mit deren Erlass ohne Aufhebung ihre Bindungswirkung (vgl BSG in SozR 3-1300 § 31 Nr 10; BSG Urteil vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 29/82, JURIS; s auch SozR Nr 64 zu § 77 SGG). Eine Anfechtungsklage gegen eine erledigte Einbehaltungsverfügung ginge mithin ins Leere.
Gleiches gilt, wenn die im Bescheid vom 18. Januar 1994 mitgeteilte vorläufige Einbehaltung des Nachzahlungsbetrags als einfaches Verwaltungshandeln gewertet würde. Eine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) wäre dann wegen Fehlens eines Verwaltungsaktes von vornherein unzulässig.
Selbst wenn man einem Betroffenen, der durch die vorläufige Einbehaltung eines Nachzahlungsbetrages vorübergehend belastet war, grundsätzlich die Möglichkeit einräumen wollte, deren Rechtmäßigkeit im Rahmen einer Feststellungsklage nach § 55 SGG oder einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 131 Abs 1 Satz 3 SGG gerichtlich überprüfen zu lassen (vgl Meyer-Ladewig in derselbe/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 8. Aufl, § 131 RdNr 9 f), so führt dieses im vorliegenden Fall zu keinem anderen Ergebnis.
Der Kläger hat hier - trotz eines entsprechenden Hinweises im erstinstanzlichen Urteil - seinen Anfechtungsantrag vor dem LSG nicht in einen (Fortsetzungs-)Feststellungsantrag geändert und auch hilfsweise keine entsprechende Feststellung begehrt. Es war vom LSG mithin - soweit es den hier noch streitigen Teil betrifft - lediglich über die Anfechtungsklage zu entscheiden, was - wie dargelegt - zu Unrecht durch Sach- anstatt Prozessurteil erfolgt ist.
Das Berufungsurteil beruht auch auf dem Verfahrensfehler. Das LSG hat trotz Unzulässigkeit des die vorläufige Einbehaltung des Nachzahlungsbetrages betreffenden Begehrens des Klägers insoweit - zu Lasten des Beklagten - in der Sache selbst entschieden, anstatt die diesbezügliche Klage abzuweisen.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, besteht an sich die Möglichkeit, die Revision (teilweise) zuzulassen (§ 160a Abs 4 SGG) oder das angefochtene Urteil (teilweise) aufzuheben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Im vorliegenden Fall kann der Senat jedoch entsprechend § 160a Abs 5 SGG durch Beschluss das Urteil des LSG ohne Zurückverweisung unmittelbar im Sinne einer vollständigen Zurückweisung der Berufung des Klägers selbst abändern. Er folgt damit der Rechtsprechung des 12. Senats des BSG (vgl SozR 4-1500 § 160a Nr 6; s auch Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 310 § 133 (nF) VerwGO Nr 22), nach der dann, wenn das Berufungsurteil wegen eines Verfahrensmangels aufzuheben und die Klage in jedem Fall als unzulässig abzuweisen ist, das Beschwerdegericht durch Beschluss abschließend entscheiden kann. Hierfür sprechen Prozessökonomie und Sinn des vereinfachten Verfahrens nach § 160a Abs 5 SGG. Danach soll die Einleitung des Revisionsverfahrens vermieden werden, wenn von vornherein feststeht, dass es ohnehin nur zur Aufhebung und zur Zurückverweisung führen kann (vgl BT-Drucks 14/5943 S 27 zu Nr 53). Die Situation hier ist vergleichbar. Steht bereits im Beschwerdeverfahren fest, dass die Klage als unzulässig abzuweisen ist und weitere Entscheidungsspielräume nicht bestehen, widerspräche es der Prozessökonomie, die Zurückverweisung einzig zu dem Zweck vorzunehmen, die Klageabweisung durch das Berufungsgericht aussprechen zu lassen. Da der Beklagte zudem das Ziel seines Rechtsmittels mit einer derartigen Entscheidung des Senats erreicht, verbleiben keine weiteren Gesichtspunkte, die für eine Zulassung der Revision oder Zurückverweisung an das LSG sprechen könnten. Der Senat brauchte daher auch nicht über die weiteren Rügen des Beklagten zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen