Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterlassene Anhörung Beteiligter durch Versicherungsträger. Heilung des Verfahrensmangels
Leitsatz (amtlich)
Eine ordnungsgemäß bis zur letzten gerichtlichen Tatsacheninstanz nachgeholte Anhörung heilt den Verfahrensmangel, auch wenn der Versicherungsträger die rechtzeitige Anhörung bewusst unterlassen hatte (Abgrenzung zu BSG vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 22 und vom 23.8.2005 - B 4 RA 29/04 R = SozR 4-2600 § 313 Nr 4).
Normenkette
SGB 10 § 24 Abs. 1, 2 Nr. 2, § 41 Abs. 2, 1 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die im Jahre 1947 geborene Klägerin beansprucht die Weitergewährung der ihr von der Beklagten wegen der Folgen eines am 8. Juni 2000 erlittenen Arbeitsunfalls gewährten Verletztenrente über den 30. Juni 2003 hinaus.
Die als Mitarbeiterin im Zustellungsdienst der Deutschen Post AG beschäftigte Klägerin stürzte am 8. Juni 2000 während ihrer beruflichen Tätigkeit und zog sich ua eine Kahnbeinfraktur links mit späterer Reflexdystrophie und Bewegungseinschränkung der linken Hand und der Fingergelenke zu. Mit Bescheid vom 26. Juli 2001 bewilligte die beklagte Unfallkasse ihr deswegen ab 1. Juni 2001 Verletztenrente als vorläufige Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH.
Nachdem ein bei der Beklagten im Juni 2003 eingegangenes handchirurgisches Gutachten ergeben hatte, dass die Unfallfolgen an der linken Hand nur noch eine MdE um 10 vH bedingten, und eine ergänzende Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet das Vorliegen einer vom behandelnden Nervenarzt der Klägerin diagnostizierten und als Unfallfolge bewerteten chronischen Depression nicht bestätigt hatte, entzog die Beklagte mit Bescheid vom 3. Juni 2003 ohne vorherige Anhörung die vorläufige Rente ab dem 1. Juli 2003 und lehnte die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ab. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Bescheid vom 3. Februar 2004 zurück.
Während des nachfolgenden Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Speyer hat die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 1. Februar 2005 förmlich Gelegenheit gegeben, sich zu den Gründen für die Rentenentziehung zu äußern. Das SG hat dies als rechtswirksame Nachholung der unterbliebenen Anhörung gewertet und durch Urteil vom 31. August 2005 die Klage abgewiesen.
Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 2006) . Die nachträglich durchgeführte Anhörung sei nicht deshalb unwirksam, weil die Beklagte eine rechtzeitige Anhörung vor Erlass des Rentenentziehungsbescheides vorsätzlich unterlassen habe. Die anders lautende Auffassung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), der in solchen Fällen eine Heilungsmöglichkeit verneine, finde im Gesetz keine Stütze und sei mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung nicht vereinbar. Die Vorgehensweise der Beklagten sei darin begründet, dass bei ordnungsgemäßer Durchführung der Anhörung der Entziehungsbescheid nicht mehr rechtzeitig vor Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall hätte ergehen können, mit der Folge, dass die als vorläufige Entschädigung festgesetzte Rente von Gesetzes wegen in eine Rente auf unbestimmte Zeit übergegangen wäre. Die Verschiebung der Anhörung in ein späteres Verfahrensstadium habe somit einem legitimen Ziel, nämlich der Vermeidung einer im Widerspruch zur materiellen Rechtslage stehenden Rechtsfolge gedient. Der angefochtene Bescheid sei auch materiell rechtmäßig. Eine unfallbedingte depressive Erkrankung habe durch das neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 2. April 2003 ausgeschlossen werden können. Dass der behandelnde Psychiater Dr. S. ein von ihm diagnostiziertes chronifiziertes depressives Syndrom als Unfallfolge gewertet habe, sei unschlüssig, da dieser Arzt die Behandlung der Klägerin erst im Mai 2001, also ein Jahr nach dem Unfall, übernommen habe. Aus diesem Grunde habe es auch der Einholung eines weiteren Gutachtens nicht bedurft.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 24 und 41 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X). Das bewusste Unterlassen der vor der Rentenentziehung gebotenen Anhörung sei ein vorsätzlicher Rechtsbruch, der nach höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Heilung des Verfahrensmangels ausschließe. Überdies habe das LSG bei der Beurteilung des medizinischen Sachverhalts die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Einen Erfahrungssatz des Inhalts, dass ein Psychiater nicht rückwirkend einen Kausalzusammenhang zwischen einem Unfallereignis und einer psychischen Krankheit beurteilen könne, gebe es nicht. Nachdem der behandelnde Nervenarzt Dr. S. der Beurteilung in dem von der Beklagten eingeholten Gutachten widersprochen habe und das Berufungsgericht selbst keine medizinische Fachkunde besitze, sei die Einholung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens unerlässlich gewesen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2006 und des Sozialgerichts Speyer vom 31. August 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 2004 aufzuheben, festzustellen, dass eine depressive Belastungsreaktion weitere Unfallfolge ist und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab dem 1. Juli 2003 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache begründet. Der Bescheid über die Rentenentziehung ist zwar trotz der verspäteten Anhörung der Klägerin nicht aus formalen Gründen rechtswidrig. Ob er inhaltlich zutrifft, vermag der Senat jedoch wegen unzureichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht zu beurteilen.
Zu Recht hat das LSG die Klage insgesamt als zulässig angesehen. Die Klägerin greift den Bescheid vom 3. Juni 2003, mit dem die Beklagte die als vorläufige Entschädigung gewährte Verletztenrente mit Wirkung vom 1. Juli 2003 entzogen und zugleich die Gewährung einer Verletztenrente auf Dauer ab diesem Zeitpunkt abgelehnt hat, mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage an. Ferner begehrt sie die Feststellung, dass eine depressive Belastungsreaktion Folge des Arbeitsunfalls vom 8. Juni 2000 ist. Das primäre Klageziel - Weitergewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH über den 31. Juni 2003 hinaus - könnte zwar auch mit einer reinen Anfechtungsklage erreicht werden, denn im Falle der Aufhebung des Entziehungsbescheides müsste die vorläufige Entschädigung wegen Ablaufs des Dreijahreszeitraums nach Eintritt des Versicherungsfalls gemäß § 62 Abs 2 Satz 1 SGB VII als Rente auf unbestimmte Zeit weiter geleistet werden. Nachdem die Beklagte indes die Gewährung einer Verletztenrente auf Dauer ausdrücklich abgelehnt hatte, war die Klägerin auch insoweit beschwert. Die Zulässigkeit der Feststellungsklage ergibt sich aus § 55 Abs 1 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
1. Der Mangel der unterlassenen Anhörung verhilft der Anfechtungsklage nicht zum Erfolg. Da der umstrittene Bescheid in Rechte der Klägerin, nämlich den bindend zuerkannten Anspruch auf eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung, eingreift, hätte ihr nach § 24 Abs 1 SGB X vorher Gelegenheit gegeben werden müssen, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Eine Ausnahme im Sinne des § 24 Abs 2 Nr 2 SGB X, wonach von der Anhörung abgesehen werden kann, wenn durch sie die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt würde, hat das BSG in der Vergangenheit für vergleichbare Konstellationen abgelehnt. Der seinerzeit für die knappschaftliche Unfallversicherung zuständige 8a-Senat hat dies in einer Entscheidung vom 30. August 1979 (SozR 1200 § 34 Nr 9) damit begründet, dass dem Versicherungsträger der Zeitpunkt, zu dem sich die vorläufige Rente in eine Dauerrente umwandele, von Anfang an bekannt sei und er sich deshalb auf die Notwendigkeit einer rechtzeitigen Anhörung einstellen könne. Der erkennende Senat hat sich dem in einem wenig später ergangenen Urteil vom 11. Dezember 1980 - 2 RU 7/79 - (HVBG-Rundschreiben VB 60/81) ohne eigene Begründung angeschlossen. Ob daran aus heutiger Sicht festzuhalten wäre, bedarf keiner vertieften Erörterung, weil der Mangel im vorliegenden Fall jedenfalls im Verlauf des weiteren Verfahrens durch Nachholung der Anhörung geheilt worden ist.
Die Möglichkeit, eine nicht rechtzeitig erfolgte Anhörung nach Erlass des belastenden Verwaltungsaktes rechtswirksam nachzuholen, ergibt sich aus § 41 Abs 1 Nr 3 iVm Abs 2 SGB X. Danach ist die Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 24 Abs 1 SGB X unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachträglich durchgeführt wird. Nach § 41 Abs 2 SGB X (in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 2000 - BGBl I 1983) kann dies bis zur letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens geschehen. Die Beklagte hat, nachdem sie die entscheidungserheblichen Tatsachen und die daran anknüpfende rechtliche Bewertung bereits in dem Entziehungsbescheid vom 3. Juni 2003 und dem Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 2004 mitgeteilt hatte, die Klägerin während des Prozesses vor dem SG nochmals im Rahmen eines gesonderten Verwaltungsverfahrens angeschrieben und auf ihr Äußerungsrecht hingewiesen. Die Klägerin hat nach den Feststellungen des Berufungsgerichts von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht; die Beklagte hat jedoch durch Stellung des Klageabweisungsantrages an ihrem angefochtenen Bescheid festgehalten.
Die ordnungsgemäß nachgeholte Anhörung ist rechtlich wirksam und führt zur Heilung des Verfahrensmangels, obwohl die Beklagte eine rechtzeitige Anhörung mit Blick auf den drohenden Ablauf der Dreijahresfrist des § 62 Abs 2 SGB VII bewusst unterlassen hatte. Zwar soll nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG eine Heilung durch nachträgliche Anhörung nicht zulässig sein, wenn der Leistungsträger den Verfahrensfehler rechtsmissbräuchlich, vorsätzlich oder durch Organisationsverschulden begangen hat (Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - SozR 3-1300 § 24 Nr 22) . Dieser Auffassung vermag der erkennende Senat wie zuvor bereits das LSG jedoch nicht uneingeschränkt zu folgen.
Weder der Wortlaut noch die Systematik oder die Entstehungsgeschichte des § 41 Abs 1 SGB X liefern einen Anhaltspunkt dafür, dass die Nachholung der Anhörung nur unter derart einschränkenden Voraussetzungen zulässig sein soll. Mit der Formulierung, der Verfahrensfehler sei unbeachtlich, "wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird", geht das Gesetz vielmehr von einer im Grundsatz uneingeschränkten Heilungsmöglichkeit aus. Hinzu kommt, dass bei Zugrundelegung der Auffassung des 4. Senats für die Regelung in § 41 Abs 1 Nr 3 kaum ein Anwendungsbereich verbliebe, da die unter dem Oberbegriff des "gewollten Rechtsbruchs" zusammengefassten Ausschlusstatbestände den größten Teil der in Frage kommenden Fallgestaltungen erfassen. Die Absicht des Gesetzgebers, auch bei Anhörungsmängeln grundsätzlich eine Heilungsmöglichkeit zu eröffnen, würde deshalb weitestgehend verfehlt.
Der 4. Senat begründet seinen Standpunkt in der Leitentscheidung vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - (SozR 3-1300 § 24 Nr 22) mit verfassungsrechtlichen Erwägungen. Sein Argument, die in Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes angeordnete Bindung des Verwaltungsträgers an Recht und Gesetz schließe bei "gewolltem Rechtsbruch" eine Heilung des Anhörungsmangels aus (aaO S 74) , kann indes nicht überzeugen. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem Gesetzgeber nicht, eine Heilung von Verfahrens- oder Formfehlern der Verwaltung auch bei absichtlichen Rechtsverstößen vorzusehen, wenn der mit der Verfahrens- oder Formvorschrift verfolgte Zweck durch eine nachträgliche Vornahme der gebotenen Handlung noch erreicht werden kann. Im Fall der unterlassenen Anhörung können zwar die mit der Regelung des § 24 Abs 1 SGB X ursprünglich verfolgten Ziele nach Erlass des belastenden Verwaltungsakts und erst recht während eines späteren Gerichtsverfahrens nur noch unvollständig erreicht werden. Insbesondere der Schutz des Bürgers vor überraschenden Eingriffen und die Möglichkeit, bereits im Vorfeld auf die Verwaltungsentscheidung einzuwirken und sich Klarheit über die Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Klage zu verschaffen, lassen sich mit einer nachträglichen Anhörung während des Gerichtsverfahrens nicht mehr verwirklichen. Diese Ziele, die als solche keinen verfassungsrechtlichen Rang haben, hat der Gesetzgeber jedoch mit der Neufassung des § 41 Abs 2 SGB X zugunsten einer Verfahrensbeschleunigung (vgl BT-Drucks 14/4375 S 58, 63) selbst weitgehend aufgegeben, so dass sich die Anhörungspflicht nach geltendem Recht im Kern auf die Gewährleistung eines dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Gerichtsverfahren vergleichbaren Rechts reduziert, über die beabsichtigte Entscheidung informiert zu werden, sich zu den entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Umständen äußern zu können und mit diesem Vorbringen gehört zu werden. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt aber nicht zur Unwirksamkeit der getroffenen Entscheidung, solange der Betroffene die Möglichkeit hat, sich das Gehör im Rechtsweg zu verschaffen.
Allein die Tatsache, dass die gebotene Anhörung infolge eines Organisationsmangels oder wie im vorliegenden Fall vorsätzlich unterblieben ist, kann deshalb eine Heilung gemäß § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X nicht ausschließen. Inwieweit bei einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Versicherungsträgers etwas anderes zu gelten hätte, bedarf keiner Entscheidung. Denn von einem Rechtsmissbrauch kann, wie die aus § 24 Abs 2 Nr 2 SGB X ersichtliche Wertung des Gesetzgebers zeigt, schon im Ansatz nicht gesprochen werden, wenn der Unfallversicherungsträger durch die Unterlassung der Anhörung einen nach seinem damaligen Erkenntnisstand materiell rechtmäßigen Zustand herstellen bzw den durch Fristablauf drohenden Eintritt eines materiell rechtswidrigen Zustandes verhindern will. Das vorsätzliche Handeln der Beklagten steht deshalb einer Heilung des Anhörungsmangels nicht entgegen.
Der Senat sieht keine Veranlassung, wegen der Nichtübereinstimmung mit der Rechtsauffassung des 4. Senats den Großen Senat des BSG anzurufen. Eine Divergenz im Sinne des § 41 Abs 2 SGG, die dazu zwingen würde, liegt nicht vor. Denn die Vorschrift bezieht sich allein auf Abweichungen in den die jeweilige Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssätzen. Die Aussage, dass eine Nachholung der Anhörung unzulässig ist, wenn der Versicherungsträger § 24 Abs 1 SGB X vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch ein Organisationsverschulden verletzt hat, ist vom 4. Senat, soweit ersichtlich, bisher nicht in einem die Entscheidung tragenden Zusammenhang vertreten worden. Namentlich in dem Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - (SozR 3-1300 § 24 Nr 22) , indem der Rechtsgrundsatz entwickelt wurde, kam es auf die Möglichkeit einer Heilung nicht an, weil noch die alte Fassung des § 41 Abs 2 SGB X galt und die Anhörung bis zum Abschluss des Vorverfahrens nicht nachgeholt worden war. In einer weiteren Entscheidung vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 43/01 R - (nicht veröffentlicht) wurde die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen, weil nicht geklärt war, ob überhaupt eine Anhörung stattgefunden hatte. In dem Urteil vom 23. August 2005- B 4 RA 29/04 R - (SozR 4-2600 § 313 Nr 4) schließlich hat der 4. Senat die im dortigen Fall nachgeholte Anhörung als rechtmäßig beurteilt, so dass sich seine Auffassung zur eingeschränkten Geltung des § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X auf die konkrete Entscheidung nicht ausgewirkt hat.
2. In der Sache hängt die Entscheidung davon ab, ob in den für die Gewährung der Verletztenrente maßgebenden Verhältnissen eine wesentliche Änderung in Gestalt einer Besserung der Unfallfolgen eingetreten ist, die nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X die Aufhebung des Bewilligungsbescheides rechtfertigt. Ob das der Fall ist, ob also die unfallbedingte MdE über den 30. Juni 2003 unter 20 vH liegt, wie das LSG festgestellt hat, oder unter Einbeziehung einer unfallbedingten reaktiven Belastungsstörung weiter 30 vH beträgt, wie die Klägerin geltend macht, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Die dazu vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen sind für die Revisionsentscheidung nicht verwertbar, weil sie nicht prozessordnungsgemäß zustande gekommen sind.
Grundlage für die Bemessung der MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung ist § 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII. Nach dieser in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung (vgl BSGE 63, 207, 209 = SozR 2200 § 581 Nr 28 mwN) konzipierten Vorschrift (BT-Drucks 13/2204 S 90) richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung des Grades der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung bewertet, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (Urteil des Senats vom 2. Mai 2001 - B 2 U 24/00 R - SozR 3-2200 § 581 Nr 8 S 36) . Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (Urteil des Senats vom 5. September 2006 - B 2 U 25/05 R - SozR 4-2700 § 56 Nr 2) .
Das LSG hat festgestellt, dass als Folge des Arbeitsunfalles über den 30. Juni 2003 hinaus eine Bewegungseinschränkung der linken Hand bei insgesamt erhaltener Gebrauchsfähigkeit sowie ohne objektivierbare klinische Auswirkungen eine sympathische Reflexdystrophie bestehe, die eine MdE von 10 vH bewirke. Eine unfallbedingte depressive Erkrankung bestehe dagegen nicht. Bei einem insgesamt unauffälligen psychopathologischen Befund habe der von der Beklagten gehörte Nervenarzt B. in seinem Gutachten vom 2. April 2003 weder depressive noch maniforme Elemente von Krankheitswert gefunden, so dass sich für ihn die Frage der Verursachung nicht gestellt habe. Auch das für einen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung erstattete Gutachten des Psychiaters Dr. F. vom 20. Dezember 2001 habe keine Hinweise auf Beeinträchtigungen der emotionalen Schwingungsfähigkeit oder auf eine vermehrte affektive Labilität ergeben. Dies bedeute gegenüber der Einschätzung des Gutachters B. im Befundbericht vom 10. April 2001 bereits eine deutliche Verbesserung, die sich offenbar bis zur Begutachtung vom 1. April 2003 fortgesetzt habe. Die von dem behandelnden Psychiater Dr. S. in zwei Attesten vom 23. Juni 2003 und 1. Juli 2004 geäußerte Auffassung, dass sich das von ihm diagnostizierte chronifizierte depressive Syndrom infolge des Unfalls im Jahr 2000 entwickelt habe, sei nicht schlüssig, da Dr. S. die Behandlung der Klägerin erst am 8. Mai 2001 aufgenommen habe.
Bei der Bewertung der Äußerungen des Dr. S. als unschlüssig scheint das LSG davon auszugehen, dass die Kausalität zwischen einem Arbeitsunfall und einer psychischen Erkrankung grundsätzlich nicht retrospektiv durch einen Arzt beurteilt werden kann, der den Verletzten bei Eintritt des körperlich schädigenden Ereignisses noch nicht gekannt und behandelt hat. Sollte die Passage in den Urteilsgründen in diesem Sinne zu verstehen sein, läge darin eine Überschreitung der Grenzen freier richterlicher Beweiswürdigung, wie die Klägerin zu Recht geltend macht. Denn das Gericht hätte damit seiner Entscheidung einen nicht existierenden Erfahrungssatz zugrunde gelegt (allgemein zum Verstoß gegen Denk- oder Erfahrungssätze: BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 19 mwN; SozR 1500 § 103 Nr 25; SozR 3-2200 § 551 Nr 16; Meyer-Ladewig in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 128 RdNr 10 ff) . Letztlich kann diese Frage aber auf sich beruhen, weil sich das Berufungsgericht angesichts der von dem psychiatrischen Gutachten abweichenden Beurteilung des Dr. S. jedenfalls zu einer weiteren Beweiserhebung hätte gedrängt sehen müssen. Deren Unterlassen begründet eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht aus § 103 SGG.
Die Darstellung des behandelnden Nervenarztes Dr. S. weicht nicht nur hinsichtlich der Beurteilung der Kausalität sondern auch in Bezug auf die als feststehend dargestellte Diagnose einer Depression von dem vorliegenden Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren ab. Zudem hatte der im Verwaltungsverfahren gehörte Sachverständige B. in einem früheren Verfahrensstadium in einem Befundbericht vom 10. April 2001 selbst über eine "deutliche und zunehmende depressive Belastungsreaktion" berichtet. Auch das aus einem Verfahren der Rentenversicherung herangezogene Gutachten des Psychiaters Dr. F. aus dem Dezember 2001 spricht von einer reaktiven depressiven Verstimmung. Das LSG hat insoweit bei einem Vergleich der Befunde des Arztes B. aus April 2001 und des Dr. F. aus dem Dezember 2001 "eine deutliche Verbesserung, die sich offenbar bis zur Begutachtung am 1. April 2003 fortgesetzt hat" gesehen und hat daher die dortige Negativdiagnose (unauffälliger psychopathologischer Befund) gegen die Diagnose des behandelnden Psychiaters Dr. S. als überzeugend angesehen.
Zwar ist es Aufgabe des Tatsachengerichtes, einander widersprechende ärztliche Diagnosen und Beurteilungen nach ihrer Überzeugungskraft zu bewerten. Indes darf das Gericht dabei medizinische Beurteilungen nur nachvollziehen. Auf eigene medizinische Bewertungen darf es nur dann zurückgreifen, wenn es über entsprechende Sachkunde verfügt und dies den Beteiligten vor der Entscheidung mitteilt (Meyer-Ladewig, aaO, § 128 RdNr 7 mwN) . Die Schlussfolgerung, dass sich der Zustand der Klägerin zwischen April 2001 und Dezember 2001 deutlich verbessert habe und sich diese Entwicklung bis zum 1. April 2003 fortgesetzt habe, beinhaltet eine medizinische Beurteilung, die das LSG nicht aus einem vorliegenden medizinischen Gutachten entnommen, sondern selbst vorgenommen hat. Statt dessen hätte es sich veranlasst sehen müssen, zur Ausräumung der bestehenden Unklarheiten und Meinungsunterschiede ein gerichtliches Sachverständigengutachten auf psychiatrischem Fachgebiet einzuholen.
Zu den sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge hat sich der erkennende Senat eingehend in seinen Urteilen vom 9. Mai 2006 (- B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; - B 2 U 26/04 R - sowie - B 2 U 40/05 R -) geäußert.
Das LSG wird abschließend auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 2016412 |
FA 2008, 384 |
NZS 2009, 347 |
SGb 2008, 233 |
SGb 2009, 156 |
info-also 2009, 233 |