Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 29.11.1961) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. November 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger hat die Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus begehrt, und zwar für die Zeit seines Noviziats, das seiner Aufnahme in den Orden der Franziskaner-Minoriten vorausging. Die Beklagte hat (mit Bescheid vom 7. Juli 1959) die Bewilligung der Rente mit der Begründung abgelehnt, daß das Noviziat nicht als Ausbildung, sondern als ein Stadium der Bewährung anzusehen sei; auch sei das vom Kläger angestrebte Ziel des Ordenspriesters nicht ein gegen Entgelt auszuübender Beruf – wie es § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) voraussetze –, sondern das Bemühen um die persönliche religiöse Vervollkommnung.
Bis zum Beginn des Noviziats und nach Aufnahme des Theologiestudiums bis zur Vollendung des. 25. Lebensjahres gewährte die Beklagte dem Kläger die Waisenrente aus der Versicherung seines im Kriege gefallenen Vaters.
Die Klage hatte in den ersten beiden Rechtszügen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts – SG – Speyer vom 20. Januar 1960; Urteil des Landessozialgerichts – LSG – Rheinland-Pfalz vom 29. November 1961). Die Vorinstanzen erblickten in der Ausübung des Amts eines Ordenspriesters eine entgeltliche Berufstätigkeit. Dafür genüge es, daß der Ordensgeistliche den Lebensunterhalt einschließlich der Versorgung im Alter und bei Krankheit erhalte. Das Noviziat sei ein Ausbildungsabschnitt auf dem Wege zum Stand des Ordenspriesters. Für die Dauer des Noviziats könne der. Anspruch auf Waisenrente um so weniger verneint werden, als der Rente die Funktion des Unterhaltsersatzes zukomme. Während des Noviziats hätte aber der Vater des Klägers, wenn er noch lebte, für den Unterhalt des Sohnes aufkommen müssen. An dessen Stelle habe nunmehr die Beklagte mit der Waisenrente einzutreten.
Das LSG hat die Revision zugelassen; die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die Klage unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile abzuweisen und rügt eine unrichtige. Anwendung des § 1267 Satz 2 RVO. Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Begriff der Schul- oder Berufsausbildung zu fordernde Voraussetzung, daß die Ausbildung dazu diene, einen Beruf gegen Entgelt ausüben zu können, habe das LSG zu Unrecht bejaht. Der Ordenspriester wolle gerade in persönlicher Armut dienen. Zudem habe das LSG nicht zu erläutern vermocht, inwiefern das Noviziat die Merkmale der Berufsausbildung verwirkliche.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet; sie ist zu Recht zur Zahlung der Waisenrente verurteilt worden. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, daß sich der Kläger während seines Noviziats im Orden der Franziskaner-Minoriten in Berufsausbildung befunden habe (§ 1267 Satz 2 RVO), trifft zu.
Das BSG hat sich bislang bei der Auslegung des § 1267 Satz 2 RVO vorwiegend damit befaßt, was unter Ausbildung im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen ist (BSG 14, 285, 287 ua). Im vorliegenden Fall ist in erster Linie zu klären, was in diesem Zusammenhang mit dem Wort „Beruf” gemeint ist.
Der Begriff ist in der RVO nicht definiert oder auch nur umschrieben, wird aber in wechselnden Sinnbezügen gebraucht. In § 1246 Abs. 2 RVO erscheint der „bisherige Beruf” als ein für, den Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit wesentliches Merkmal. Dabei ist an die Lebensarbeit des Versicherten gedacht. In den §§ 1262, 1267 RVO wird vom Beruf als der von dem Kind eines Versicherten angestrebten Lebensaufgabe und damit in einem Zusammenhang gesprochen, dar über das engere Schutzobjekt der Rentenversicherung hinausweist.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bezeichnet in Verbindung mit Grundrecht der freien Berufswahl (Art. 12 Grundgesetz – GG –) – als Beruf die vom einzelnen frei erwählte Lebensaufgabe und Lebensgrundlage (BVerfG 7, 377, 397; 13, 181, 185). Diese Begriffsauffassung kann hier im wesentlichen Übernommen werden, wenn auch zu beachten bleibt, daß. Art. 12 Abs. 1 GG – zumindest unmittelbar – ein Abwehrrecht gegen den Staat verbürgt. Damit ist im Verhältnis um Staat ein Anspruch auf positive Inschutznahme des einzelnen vor berufshindernden Schranken gewährleistet. Der Geltungsbereich dieses Freiheitsrechts ist umfassend; dem entspricht die Weite des Norm- und Begriffsinhalts. Daraus wird man nicht ohne weiteres folgern können, daß ein Recht gegen einen Versicherungsträger auf eine – an die Berufsausbildung geknüpfte – Leistung besteht. Dahin führen folgende Erwägungen.
Der Berufsbegriff ist in der Vorstellung, die man sich allgemein von ihm macht, vieldeutig und wandelbar. Seine Erläuterung ist nicht nur abhängig von den Umständen, unter denen er verwendet wird, sondern auch von weltanschaulichen und historischen Vorstellungen. In der Gegenwart zeigt der Begriff verschiedene Seiten, je nachdem, ob man von ethischen, ökonomischen oder sozialen Gesichtspunkten ausgeht. Der Begriff hat im Laufe der Geschichte an ethischem Gehalt verloren; sein Schwerpunkt hat sich auf die wirtschaftliche. Bedeutung der Berufsausübung verschoben. Für den in § 1246 Abs. 2 RVO verwendeten Berufsbegriff ist die heutige Einstellung zu Leistung und Aufstieg des einzelnen im arbeitsteiligen Produktionsprozeß maßgebend: der Beruf ist einer der wichtigsten Bestimmungsgroßen für die gesellschaftliche Einordnung eines Versicherten. Aber auch an dieser Stelle wird Berufsausübung nicht mit momentaner Betätigung und bloßem Erwerb oder Geschäft gleichgesetzt. Das Berufserlebnis wird werterhöhend und verpflichtend empfunden; dies um so stärker, je mehr die Berufstätigkeit einem inneren seelischen Bedürfnis folgt und die Persönlichkeit des Menschen im Ganzen erfaßt, (vgl. BVerfG 7/377/397). Zum Berufsbewußtsein gehört in einzelnen Bereichen geradezu der Einsatz der ganzen Persönlichkeit. Dabei wird als Gegenleistung nicht stets ein in seinem Wertverhältnis angemessenes Entgelt für die einzelne Leistung oder für das Zurverfügungstellen der Arbeitskraft gewährt, sondern lediglich der angemessene oder bescheidene Unterhalt versprochen, Unter solchen Umständen wird Beruf meist als Gabe und Aufgabe aufgefaßt, als Entfaltung von Eignung und Neigung. Diesem Berufsbegriff ist die Tätigkeit der Priester und Ordens geistlichen zuzuordnen. Er kann nicht außer Betracht bleiben, wenn es um den. Unterhalt öder die entsprechende öffentlich-rechtliche Hilfe für einen jungen Menschen geht, der sich das Rüstzeug aneignen will zur Erfüllung der Aufgabe, zu der er sich „berufen” fühlt.
Jedoch ist – im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Waisenrente – nicht allein auf den „inneren” Sachverhalt – die „Berufung” – abzustellen. Die öffentlich-rechtliche Leistung hat – so eigenständig ihre Anspruchsvoraussetzungen auch gestaltet sein mögen – ihre historische Wurzel in der Pflicht des Vaters oder der Mutter, ihr Kind zu unterhalten. Zum Lebens bedarf des Kindes gehören Erziehung und Vorbildung zu einem Beruf (§ 1610 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –). Die Berufsausbildung wird nicht um ihrer selbst willen ermöglicht, sondern um dem Kind eine eigene Existenzgrundlage zu verschaffen. Diese Absicht liegt auch der Waisenrentengewährung zugrunde. Deshalb darf die wirtschaftliche Komponente des Berufsbegriffs nicht vernachlässigt werden.
Eine solche Beziehung zwischen der Berufstätigkeit und der Unterhaltssicherung des Ordenspriesters ist gegeben. Mit der Übernahme des Ordensstandes stellt sich zwar der einzelne „der Ordensgemeinschaft mit seiner Person und seiner Tätigkeit unentgeltlich zu Verfügung”, andererseits verpflichtet sich aber die Ordensgemeinschaft „nach Norm des Rechts zur Sorge für sein zeitliches und ewiges Wohl während der Dauer seiner Ordenszugehörigkeit” (Hanstein/Schäfer, Ordensrecht, 2. Aufl., 1958, S. 147). Der einzelne kann sich unabhängig von der Sorge um die Beschaffung des täglichen Lebensbedarfs voll und ganz der Erfüllung seiner Aufgaben widmen. Daß der Ordensmann nach Kirchenrecht und ständiger klösterlicher Übung auf Vermögen und Erwerb zugunsten des Klosters verzichtet (Hanstein/Schäfer aaO 163, 196), steht der Anwendung des Berufsbegriffs nicht entgegen. Auch die RVO bezeichnet den Unterhalt allein schon als „Entgelt” (§§ 1228 Abs. 1 Nr. 2, 160 Abs. 1 RVO).
Zum Beruf gehören nicht nur Eignung und Neigung zu einer Tätigkeit, sondern auch die – auf Dauer vorgesehene – Arbeit. Diese stellt sich als Leistung zur Befriedigung materieller oder geistiger, in der Gesellschaft vorkommender Bedürfnisse dar. Darunter fallen auch die Seelsorge, der Gottesdienst und die Lehrtätigkeit auf dem Gebiete der Religion, Diesen Aufgaben, vor allem der Seelsorge, kommt der Ordenspriester nicht nur allgemein, sondern in besonderen Formen, z. B. im Bereich der Individualseelsorge, nach. Zur Erfüllung dieser Funktionen wird er gerade durch die vertiefte geistliche Lebensführung im Kloster für besonders befähigt gehalten (vgl. Hanstein/Schäfer aaO 219).
Als Beruf im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO kann zusammenfassend bezeichnet werden: eine für die Dauer vorgesehene Arbeit, die der Existenzsicherung dient und die geeignet ist, materielle oder geistige in der Gesellschaft auftretende Bedürfnisse zu befriedigen und zu der die Befähigung durch Ausbildung (und Erziehung) erworben wird.
Diese Merkmale sind im Falle des Ordenspriesters verwirklicht. Das Noviziat ist als Ausbildung zu diesem Beruf zu werten.
Das Noviziat ist die vom Kirchenrecht geforderte Probe- und Einführungszeit zu Beginn des Ordenslebens; sie dauert wenigstens ein Jahr (Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Freiburg, 1962, B. 7 unter „Noviziat”; Der große Herder unter demselben Stichwort). Das Studium des künftigen Ordensgeistlichen fällt jedoch nicht in diese Zeit. Aufgabe des Noviziats ist es vielmehr, den Novizen mit den Pflichten des Ordenslebens vertraut zu machen und ihn darin zu üben. Dazu gehören das Studium der Ordenssatzungen, die Belehrung über Ordensgelübde und klösterliche Tugenden, das betrachtende Gebet. Die Klerikernovizen werden ferner in Chordienst, Choralgesang und Zeremonien unterwiesen. Sie beschäftigen sich mit dem Studium der lateinischen Sprache (Hanstein/Schäfer, 140, 141; Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 1935, Bd. 7 unter „Noviziat”).
Für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung ist es vor allem erheblich, daß das Noviziat für die Aufnahme in den Orden und damit für den Weg zum Beruf des Ordenspriesters unerläßlich ist (Lexikon für Theologie und Kirche 1935 unter „Noviziat”). In diesem Probejahr wird neben der Ausbildung der Erziehung des einzelnen zum Ordensmitglied und seiner Bewährung ein erhebliches Gewicht beigemessen. Das eine läßt sich jedoch vom anderen weder nach der Bedeutung noch nach der jeweils beanspruchten Zeit trennen. Eine solche Trennung ist auch nicht notwendig. Ausbildung und Erziehung sind in der Hegel verbunden. Auch im Unterhaltsrecht (§ 1610 Abs. 2 BGB) werden die Kosten der Erstehung und die der Ausbildung zu einem Beruf gleichwertig nebeneinander gestellt. Diese Gleichsetzung ist beim Beruf des Ordenspriesters besonders gerechtfertigt. Denn, was den Ordensgeistlichen kennzeichnet, ist nicht allein sein durch Ausbildung vermitteltes Wissen und Können. Vielmehr kommt als Charakteristikum die durch klösterliche Erziehung geprägte Persönlichkeit hinzu. Deshalb läßt sich nicht mit Erfolg einwenden, das Noviziat diene als Einweisung in die klösterliche Lebensform lediglich dem persönlichen Vollkommensheitsstreben (der „Selbstheiligung”). Dieses Streben nach religiöser und sittlicher Vollkommenheit kommt vielmehr nach der insoweit maßgeblichen Auffassung der römisch-katholischen Kirche dem Beruf des Priesters zugute. Aus diesen Erwägungen heraus ist das Noviziat, das der Kläger zurückgelegt hat, als Ausbildungsabschnitt für seinen späteren Beruf zu beurteilen. Während dieser Zeit war er von der Außenwelt getrennt; es war ihm nicht möglich, seinen Unterhalt selbst zu verdienen. Seiner Mutter war zudem auferlegt, zu den Kosten für seinen Unterhalt beizutragen.
Die frühere Entscheidung des Senats, daß Heimerziehung im allgemeinen keine Berufsausbildung sei (BSG 14, 285), steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Damals handelte es sich um die Heimerziehung eines Fürsorgezöglings, die als Ersatz für die mangelnde allgemeine elterliche Erziehung und deshalb nicht als Berufsausbildung beurteilt worden ist. Im Falle des Noviziats handelt es sich jedoch um Ausbildung und Erziehung im Hinblick auf ein bestimmtes Berufsziel.
Nach alledem ist der Waisenrentenanspruch, dessen sonstige Voraussetzungen erfüllt sind, begründet. Die Revision ist zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Unterschriften
Penquitt, Mellwitz, Dr. Ecker
Fundstellen
Haufe-Index 926763 |
BSGE, 231 |