Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Überprüfungsverfahren. Sozialhilfe. Nachzahlung von Leistungen für längstens ein Jahr. Nichtanwendbarkeit des § 116a SGB 12 auf vor dem 1.4.2011 gestellte Überprüfungsanträge. Außerkrafttreten des § 136 SGB 12 zum 1.1.2013
Leitsatz (amtlich)
Die sozialhilferechtliche Übergangsregelung zur Rücknahme von Verwaltungsakten (§ 136 SGB XII) in der bis 31.12.2012 geltenden Fassung ist auch über diesen Zeitpunkt hinaus für Überprüfungsverfahren maßgeblich, wenn diese noch vor dem 1.4.2011 in Gang gesetzt worden sind.
Orientierungssatz
1. Gem § 44 Abs 4 S 1 SGB 10 muss bei der Nachzahlung von Sozialhilfeleistungen infolge eines Überprüfungsverfahrens den Besonderheiten des Sozialhilferechts Rechnung getragen und berücksichtigt werden, dass die Leistungen der Sozialhilfe nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienen und deshalb für zurückliegende Zeiten nur dann zu erbringen sind, wenn die Bedürftigkeit fortbesteht.
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die zu treffende Entscheidung ist dabei die letzte Tatsacheninstanz (hier: die mündliche Verhandlung vor dem LSG).
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1; SGB 12 § 116a; SGB 12 § 136 Fassung: 2011-03-24
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. Juli 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Im Streit sind höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.7.2006.
Die 1970 geborene, schwerbehinderte Klägerin (Grad der Behinderung von 100; Merkzeichen "G", "H", "B") lebte im streitbefangenen Zeitraum mit ihrer Mutter, die zugleich ihre Betreuerin ist, dem inzwischen verstorbenen Vater und ihrem 1971 geborenen, ebenfalls schwerbehinderten Bruder zusammen. Seit November 1989 ist sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt und erzielt dort Einkommen; zudem erhielt sie ab Januar 2005 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII. Die Gemeinde Garbsen, im Namen und im Auftrag der Beklagten handelnd, legte für die Berechnung ua den Regelsatz für einen Haushaltsangehörigen (80 % des Regelsatzes für Alleinstehende) zugrunde (bestandskräftige Bescheide vom 23.3., 1.8. und 14.12.2005). Seit November 2009 erhält die Klägerin eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von zunächst 654,37 Euro und steht seitdem nicht mehr im Bezug von Leistungen nach dem SGB XII.
Im Juli 2007 machte die Klägerin neben einem die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 1.8.2006 bis 31.7.2007 betreffenden Widerspruchsverfahren (Urteil des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 9.6.2011 - B 8 SO 1/10 R) rückwirkend die Zahlung höherer Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.7.2006 unter Berücksichtigung des Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand (100 %) im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens geltend. Diesem Antrag gab die Gemeinde Garbsen zunächst nur in Höhe von monatlich 1,02 Euro, dann in Höhe von 26,58 Euro statt, die sich aus einer Kürzung des Regelsatzes wegen kostenlosen Mittagessens in der WfbM ergab (Bescheid vom 18.1.2008; Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial Erfahrener Dritter vom 21.5.2008).
Während das Sozialgericht (SG) Hannover die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 29.4.2011), hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen die Beklagte "verpflichtet, der Klägerin unter Änderung der Bescheide der Gemeinde Garbsen vom 23.3., 1.8. und 14.12.2005 für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.7.2006 monatliche Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zu zahlen, und zwar in den Monaten Juni und Oktober 2005 und Juni 2006 in Höhe von 329,62 Euro, im Übrigen in Höhe von 370,87 Euro, jeweils unter Berücksichtigung bereits geleisteter Zahlungen" (Urteil vom 29.7.2014). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Klägerin seien rückwirkend höhere Grundsicherungsleistungen, insbesondere unter Berücksichtigung des Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand, und deshalb auch ein höherer Mehrbedarf zu zahlen. Dass die Klägerin seit November 2009 keine Grundsicherungsleistungen mehr beziehe, stehe dem nicht entgegen. Denn die Bedürftigkeit sei nicht vor dem Tag weggefallen, an dem der Antrag nach § 44 SGB X gestellt worden sei. Auf diesen Tag sei aber abzustellen und nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 44 Abs 1 und 4 SGB X. Sie beruft sich insoweit auf die zum Sozialhilferecht ergangenen Urteile des BSG, nach denen der Wegfall der Bedürftigkeit auch nach Antragstellung bis zu dem für die Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz maßgebenden Zeitpunkt zu einem Verlust des Anspruchs auf rückwirkende Leistungserbringung führe.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 18.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.5.2008 (§ 95 SGG), mit dem es die von der Beklagten herangezogene Gemeinde Garbsen im Namen der nach den bindenden Feststellungen zum Landesrecht durch das LSG (§ 163 SGG) bis 31.12.2012 örtlich und sachlich zuständigen Beklagten abgelehnt hat, der Klägerin für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.7.2006 unter weiterer Abänderung bestandskräftiger Bescheide höhere Leistungen zu zahlen. An der Zuständigkeit hat sich ab 1.1.2013 (s dazu § 46b SGB XII iVm § 1 Abs 2 Satz 1, § 6 Abs 1, § 6a Niedersächsisches Gesetz zur Ausführung des SGB XII vom 16.12.2004 in der Fassung des Gesetzes vom 25.9.2014 - Gesetzblatt 267), nichts geändert. Gegen den Bescheid wendet sich die Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG).
Die Begründetheit der Revision misst sich an § 44 SGB X. Nach dessen Abs 1 ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Ob der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum tatsächlich höhere Grundsicherungsleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, konnte der Senat jedoch nicht abschließend entscheiden.
Der Zahlung höherer Leistungen für 2005 stünde aber zumindest § 116a SGB XII nicht entgegen, wonach abweichend von § 44 Abs 4 SGB X Sozialleistungen rückwirkend nicht für vier, sondern nur für ein Jahr zu erbringen sind. Dies regelte § 136 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) bis 31.12.2012 ausdrücklich, wonach § 116a SGB XII nicht anwendbar war auf Anträge nach § 44 SGB X, die - wie hier - vor dem 1.4.2011 gestellt worden waren. Dass § 136 SGB XII (durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.12.2012 - BGBl I 2783 ff, 2788) mit Wirkung vom 1.1.2013 vollständig neu gefasst und die Übergangsregelung dabei aufgehoben wurde, ändert hieran nichts (vgl Greiser in juris PraxisKommentar SGB XII, 2. Aufl 2014, § 116a RdNr 30.1). Denn der Gesetzgeber ist nur davon ausgegangen, die bisherige Regelung sei "durch Zeitablauf weggefallen" (BT-Drucks 17/11382, S 13). Aus diesem Grund kann nicht angenommen werden, dass er eine verfassungsrechtlich bedenkliche Rechtsfolge herbeiführen wollte.
Mit der Übergangsregelung war beabsichtigt, das Vertrauen von Antragstellern zu schützen, die noch vor Inkrafttreten des § 116a SGB XII einen Überprüfungsantrag gestellt hatten. Ihnen sollte kein Nachteil entstehen, wenn über den Antrag erst nach dessen Inkrafttreten entschieden wird. Diese Vertrauensschutzgesichtspunkte würden aber in gleicher Weise greifen, wenn - wie hier - der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X noch vor Einführung des § 116a SGB XII gestellt wurde, die Verwaltung über den Antrag ebenfalls noch davor entschieden hat, die Übergangsregelung später aber aufgehoben würde. Die Änderung des § 136 SGB XII mit der damit verbundenen Rechtsfolge würde eine unechte Rückwirkung entfalten. Sie würde auf einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt für die Zukunft einwirken und die Rechtsposition der Klägerin nachträglich entwerten (vgl: BVerfGE 43, 291, 391; 72, 175, 196; 79, 29, 45 f). Regelungen, die eine unechte Rückwirkung entfalten, genügen dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip aber nur dann, wenn Gemeinwohlinteressen das schutzwürdige Bestandsinteresse des Einzelnen überwiegen (BVerfGE 97, 378, 389 = SozR 3-2500 § 48 Nr 7; BVerfGE 101, 239, 263; BVerfG SozR 3-4100 § 242q Nr 2). Derartige Gemeinwohlinteressen sind nicht erkennbar und insbesondere vom Gesetzgeber auch nicht angegeben worden. Die Änderung des § 136 SGB XII beruhte allein auf der - unzutreffenden - gesetzgeberischen Annahme, dass für die bis 31.12.2012 geltende Übergangsregelung nunmehr kein Anwendungsbereich mehr bestehe. Fälle wie den vorliegenden, in dem endgültig erst im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens weit nach dem 31.12.2012 über einen deutlich vor dem 1.4.2011 gestellten Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X entschieden wird, hatte der Gesetzgeber offenbar weder vor Augen, noch wollte er für diese Fälle eine im Ergebnis nachteilige Regelung schaffen.
Ob der Klägerin aber überhaupt rückwirkend höhere Leistungen zu zahlen sind, wird das LSG erneut zu überprüfen und dabei ggf auch die Senatsentscheidung vom 9.6.2011 - B 8 SO 1/10 R - zu beachten haben. Denn anders als das LSG meint, kommt es für den Erfolg des Überprüfungsantrags nicht nur auf die Zeit bis zur Antragstellung nach § 44 SGB X an.
Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; Bestätigung in SozR 4-3520 § 3 Nr 3; s auch für das Asylbewerberleistungsrecht BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22), genügt für einen Anspruch auf rückwirkende Erbringung von Leistungen nach § 44 SGB X nicht, dass bei Erlass der bestandskräftigen Verwaltungsakte Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Unter Berücksichtigung des § 44 Abs 4 SGB X ("nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches") muss vielmehr den Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts Rechnung getragen und berücksichtigt werden, dass die Leistungen der Sozialhilfe nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienen (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 14) und deshalb für zurückliegende Zeiten nur dann zu erbringen sind, wenn die Leistungen ihren Zweck noch erfüllen können (vgl hierzu auch BSGE 101, 49 ff RdNr 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2). Da dies nur der Fall ist, wenn die Bedürftigkeit fortbesteht, also nicht temporär oder auf Dauer entfallen ist, scheidet eine Nachzahlung im Verfahren nach § 44 SGB X bei Wegfall der Bedürftigkeit nach dem betroffenen Zeitraum grundsätzlich aus (BSGE 104, 213 ff RdNr 21 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 20). Der Vorrang des effektiven Rechtsschutzes muss bei der Anwendung der Zugunstenregelung des § 44 SGB X gegenüber den im Rahmen des § 44 Abs 4 SGB X aufgezeigten Besonderheiten des Sozialhilferechts regelmäßig zurücktreten (BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20 RdNr 15). Maßgebender Zeitpunkt für die zu treffende Entscheidung ist dabei die letzte Tatsacheninstanz (BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20 RdNr 21), im vorliegenden Verfahren mithin der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 29.7.2014, nicht der Zeitpunkt der Einleitung des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X im Juli 2007. Feststellungen des LSG zum Einkommen und Vermögen der Klägerin, aber auch zu möglichen Kosten der Unterkunft für die Zeit zwischen Antragstellung nach § 44 SGB X bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem LSG fehlen aber - nach dem Rechtsstandpunkt des LSG nachvollziehbar, der vom Senat aber nicht geteilt wird - völlig, auch wenn nach Aktenlage angesichts der Höhe der Erwerbsminderungsrente ab November 2009 vieles dafür sprechen dürfte, dass die Bedürftigkeit der Klägerin jedenfalls ab diesem Zeitpunkt weggefallen ist. An seiner Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der vom LSG angebrachten Erwägungen fest. Einen Grundsatz dahin, dass die anspruchsstellende Person im Zugunstenverfahren stets so zu stellen sei, als wäre von vornherein rechtmäßig entschieden worden, gibt es nicht. Diese These lässt vielmehr den in § 44 SGB X vorgegebenen Bezug des Rücknahmeanspruchs auf das maßgebliche materielle Recht außer Acht.
Auch ein vom Senat in seinen Entscheidungen angedeuteter (seltener) Ausnahmefall (Gedanke des § 242 Bürgerliches Gesetzbuch), bei dem es schlechthin unbillig wäre, dass der Sozialhilfeträger die Zahlung zu Unrecht vorenthaltener Sozialhilfeleistungen verweigern dürfte, liegt hier nicht vor. Weder liegt die Dauer des gerichtlichen Verfahrens in seinem Verantwortungsbereich, noch rechtfertigt dies der Umstand, dass das vorliegende Überprüfungsverfahren wegen bereits bestandskräftiger Entscheidungen zum selben Zeitpunkt begonnen worden ist wie das unmittelbare Rechtsmittelverfahren gegen Bewilligungsbescheide betreffend den Folgezeitraum.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
FEVS 2016, 509 |
SGb 2016, 155 |
ZfF 2016, 93 |
info-also 2016, 89 |