Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung, ob die selbständige Nebentätigkeit eines Arbeitslosen die in AVAVG § 75 Abs 3 S 2 genannte Grenze von 18 Stunden wöchentlich überschreitet, kommt es nur auf die eigene Arbeitsleistung, nicht aber auf die Mitarbeit von Familienangehörigen an. Maßgebend ist der Jahresdurchschnitt der Arbeitszeit. Unschädlich ist es, wenn die 18 Stunden während der Arbeitslosigkeit überschritten werden, ohne daß die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung beeinträchtigt wird. Bei der Höhe der Einkünfte (65 DM monatlich oder 15 DM wöchentlich) ist der Nettobetrag entscheidend, der von dem Arbeitslosen selber durch seine Nebentätigkeit erzielt wird. Arbeiten Familienangehörige mit, ohne dafür Entgelt zu erhalten, so mindert sich, sofern die Mitarbeit überhaupt nennenswert ist, das zu berücksichtigende Nettoeinkommen des Arbeitslosen angemessen.
Normenkette
AVAVG § 75 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1906 geborene Kläger ist verheiratet und hat fünf Kinder im Alter von 15 bis 25 Jahren. Seit seinem 16. Lebensjahr ist er Waldarbeiter, im Jahre 1956 hat er die Waldfacharbeiterprüfung abgelegt. Er ist Eigentümer eines landwirtschaftlichen Anwesens von 13,26 ha, das sich aus 2,70 ha Acker, 5,93 ha Wiesen, 4,43 ha Jungwald und 0,20 ha Ödland zusammensetzt. An Vieh hält er zwei Kleinpferde, vier Kühe und zwei Jungrinder. Das Anwesen hat einen Einheitswert von 3.990 DM und ist mit einer Hypothek von 2.550 DM belastet. Die Landwirtschaft wird von seinem ältesten Sohn unter Mithilfe der übrigen Familienmitglieder betrieben. Außerdem hat der Kläger eine Gastwirtschaft, in der im Jahr etwa 1.500 DM umgesetzt werden.
In der Zeit vom 8. April bis zum 31. August 1957 und vom 5. September 1957 bis zum 4. Februar 1958 war der Kläger als Waldfacharbeiter beschäftigt. Er meldete sich am 5. Februar 1958 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt lehnte ab: Der Kläger sei als Selbständiger gemäß § 75 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) anzusehen, weil er mehr als 18 Stunden in der Woche im eigenen Betrieb arbeite und aus dieser Tätigkeit monatlich mehr als 65 DM erziele. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, dem Kläger einen Bescheid über die Gewährung von Arbeitslosengeld zu erteilen. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück: Als Selbständiger im Sinne des § 75 Abs. 3 AVAVG könne nur angesehen werden, wer den Lebensunterhalt regelmäßig in der Hauptsache durch eine selbständige Tätigkeit bestreite. Unter diese Vorschrift fielen deshalb nur solche Personen, deren wirtschaftliche Grundlage im wesentlichen auf der selbständigen Tätigkeit beruhe; dies gelte insbesondere auch für Abs. 3 Satz 2, der nur eine Sonderregelung für Arbeitnehmer enthalte, die schon während der unselbständigen Beschäftigung nebenher selbständig gewesen seien. Der Kläger habe, da seine Tätigkeit als selbständiger Land- und Gastwirt seinen und seiner Familie Unterhalt nicht gewährleiste, gemäß § 59 AVAVG der Arbeitslosenversicherungspflicht unterlegen; deshalb könne Arbeitslosigkeit nach dem Ausscheiden aus dem abhängigen Beschäftigungsverhältnis nicht verneint werden. Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte gegen das an 12. Februar 1962 zugestellte Urteil am 8. März Revision ein und begründete sie am 9. Mai 1962, nachdem die Begründungsfrist verlängert worden war. Sie rügt einen Verstoß gegen § 75 Abs. 3 AVAVG: Das LSG sei davon ausgegangen, daß diese Vorschrift nur auf solche Arbeitnehmer anzuwenden sei, deren wirtschaftliche Existenz durch eine selbständige Tätigkeit wenigstens überwiegend gewährleistet sei. Dies stehe jedoch im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Das LSG habe zwar keine Feststellung darüber getroffen, wie hoch das Einkommen des Klägers aus der selbständigen Tätigkeit liege; jedoch sei dies nicht notwendig, da der Kläger während seiner Arbeitslosigkeit mehr als 18 Stunden wöchentlich als Selbständiger gearbeitet habe. Deshalb gelte er nicht als arbeitslos.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1961 und des Sozialgerichts Würzburg vom 26. Mai 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet.
Nach § 75 Abs. 3 Satz 1 AVAVG gelten Selbständige ohne Rücksicht auf ihr Einkommen nicht als arbeitslos. Für Personen, die schon vor Eintritt der Arbeitslosigkeit eine selbständige Tätigkeit nebenher ausgeübt haben, bestimmt Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 Nr. 2 und mit § 3 der Ersten Verordnung zur Durchführung des AVAVG vom 5. April 1957 (BGBl I, 365), daß sie dann als arbeitslos gelten, wenn sie nach dem Verlust der unselbständigen Beschäftigung aus ihrer Tätigkeit in dem selbständigen Beruf kein höheres Einkommen als monatlich 65 DM oder wöchentlich 15 DM erzielen, der Umfang ihrer Tätigkeit 18 Stunden wöchentlich nicht überschreitet und nach den Gesamtumständen angenommen werden kann, daß sie auch künftig berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig sein wollen. Während die Absicht, hauptberuflich Arbeitnehmer bleiben zu wollen, verhältnismäßig leicht festzustellen sein wird, bedürfen die zeitliche und die Einkommenzbegrenzung näherer Klärung.
Beide Faktoren haben die Tendenz, für eine bestimmte Dauer angelegt zu sein, weil ein häufiger Wechsel von Arbeitslosigkeit und Nichtarbeitslosigkeit, wie er in solchen Grenzsituationen eintreten kann, unerwünscht sein muß. Es müssen deshalb Durchschnittswerte gesucht werden. Als Zeitraum dafür bietet sich - jedenfalls beim Betrieb einer eigenen Landwirtschaft, wie sie hier in Frage steht, mit ihren starken Unterschieden zwischen Sommer und Winter sowie den Höhepunkten während der Bestellungs- und Erntezeiten - das Jahr an, weil sich in seinem Ablauf der naturgegebene Rhythmus am deutlichsten spiegelt. Dieser Grundgedanke ergibt sich bereits aus § 66 Abs. 2, der in § 75 Abs. 3 Satz 2 AVAVG ausdrücklich erwähnt wird. Hiernach bleiben gelegentliche geringe Abweichungen in der Zeit und im Einkommen unberücksichtigt, es wird aber schon hier auf eine gewisse Durchschnittsentwicklung abgestellt. Das Jahr für das die Durchschnittswerte zu ermitteln sind, beginnt angesichts des Wortlauts von § 75 Abs. 3 Satz 2 AVAVG ("... nach dem Verlust der unselbständigen Beschäftigung ...") jeweils bzw. jeweils erneut mit dem Eintritt von Arbeitslosigkeit. Es muß, ähnlich wie bei der Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 165 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), sowohl im Hinblick auf das vermutliche Ausmaß der selbständigen Nebenbetätigung wie auch hinsichtlich des dabei erzielten Einkommens vorausschauend beurteilt (abgeschätzt) werden (BSG 13, 98 und SozR RVO § 168 Nr. 6). Dabei kann wie dort die Entwicklung in der Vergangenheit als Anhalt dienen, sofern nicht aus besonderen Anlässen mit Veränderungen gerechnet werden muß.
Bei Berechnung der durchschnittlichen Arbeitszeit ist diejenige Mehrung (Ausweitung) abzuziehen, die nur dadurch entsteht, daß jemand, der als Arbeitsloser Muße hat, sich mit seinen Verrichtungen nicht zu beeilen braucht und deshalb für seine selbständige Nebentätigkeit mehr Zeit und Sorgfalt aufwenden kann als unter normalen Umständen. Er kann aus Liebhaberei auch weitere nicht unbedingt erforderliche Arbeiten in seinem Betrieb verrichten, wenn dadurch dessen Charakter, insbesondere die Bewirtschaftungsart und die Verwertung, nicht geändert wird. Erhöht sich allerdings durch solche zusätzlichen Arbeiten das durchschnittliche Jahreseinkommen über die genannte Versicherungsgrenze hinaus, so ist Arbeitslosigkeit zu verneinen. Außerdem darf durch diese Tätigkeit keinesfalls die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung leiden; der Arbeitslose muß aber solche Mehrarbeiten jederzeit wieder einstellen und wie bisher eine Arbeitnehmertätigkeit aufnehmen können.
Schließlich ist noch hervorzuheben, daß dem Arbeitslosen stets nur seine eigene Arbeitszeit und das Einkommen aus seiner eigenen Tätigkeit (vgl. Wortlaut des § 75 Abs. 3 Satz 2) angerechnet werden darf. Es fallen also nicht nur die Arbeitszeiten von mithelfenden Familienangehörigen und derjenige Anteil an dem Gesamtertrag, der durch ihre Mitwirkung erzielt wird, aus, sondern auch die Einnahmen, die nicht aus Tätigkeit, sondern aus Vermögen, insbesondere auch aus dem Betriebsvermögen, fließen. Anzusetzen ist im übrigen ohnehin nur das Nettoeinkommen.
Nach alledem konnte der erkennende Senat die Rechtsauffassung des LSG nicht bestätigen; dessen Urteil war daher aufzuheben. Da ausreichende tatsächliche Feststellungen fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglichen, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen